Der etwas nervige Otto-Normalverbraucher und das wunderbare Blau
Was für ein wunderbares Blau. Dunkel; wahrscheinlich würde man tief sagen, doch dünnflüssig, transparent. Es sieht wie eines dieser Urlaubsprospektblau aus, ist aber ohne den weißen Sandstrand und die knapp bekleideten Menschen sehr schön. Ein Blau, an das man denkt, wenn man an blau denkt, ein Blau das man sieht.
Das Blau ist eine Flüssigkeit in einer Flasche, mit einem roten Schraubverschluss. Die habe ich gerade aus ihrem Pappschächtelchen mit den kleinen Hubbeln geholt. Ob in den Hubbeln etwas von dem Blau steht? Die Flasche ist dreieckig, also nicht wirklich dreieckig, nicht so kantig dreieckig, wie man sich eine dreieckige Flasche vorstellt, sondern länger dreieckig, mit runden Ecken. Runde Ecken, das gibt es bei Flaschen.
Und tatsächlich -gerade habe ich das mehrfach gefalzte Papier, welches immer, egal bei welchem Medikament, gleich knistert, aus seiner Faltung entwirrt- steht dort als ein Bestandteil der Flüssigkeit Indigocarmin (E132). Nun bin ich kein Chemiker, aber Indigo kenne ich aus dem Wassermalkasten. Blau. Mein Blau ist also, mindestens zu einem Teil Indigo. Sonst steht da Aluminiumchlorid- Hexahydrat. Aluminium kenne ich auch, aber das ist doch...Ich bin kein Chemiker.
Auf dem roten Deckel ist in schöner Schreibschrift der kurze Firmenname eingeprägt. Man will wohl den Eindruck erwecken, dieses wäre eine alte Marke, mit einer reichen, guten Firmengeschichte. Über Jahrzehnte hat man schon den Menschen in ihrem Leid geholfen. Wahrscheinlich hat die Arznei dieser Marke schon den Frontsoldaten im zweiten Weltkrieg gedient. In der Chemie war man doch damals führend.
Ich drehe also den Schraubverschluss. Und ja, auch ohne Deckel ist mir das wässrige Blau sympathisch. Ich drehe wieder zu.
Gebrauchsinformationen muss man vorher lesen. Unter dem Namen des Konzentrats steht dann gleich zum Gurgeln, also klar was Sache ist: Gurgeln. Habe ich als Kind schon gemacht. Auch das letzte Mal als Kind gemacht. Werde ich aber wohl nicht verlernt haben, ist so was wie Fahrradfahren oder Schwimmen. Gurgeln. Traditionelles Arzneimittel bei Entzündungen in der Mundhöhle. Ich habe Halsweh. Ich habe sogar nicht nur Halsweh, sondern Halsschmerzen. Das ist ein großer Unterschied. Es ist kein Weh, kein Wehweh, kein Wehwehchen. Es sind Schmerzen. Auch wenn es keine von den etablierten Schmerzen sind, keine Schmerzen, die direkt sichtbar an der Oberfläche liegen und die bemitleidenswert wären und bei denen Frauen diesen Blick bekommen, der sich sonst nur nach einem bestimmten Akt einstellt. Beispielweise ein, ein amputierter Fuß. Wobei, die Phantomschmerzen ja... Es ist eher wie Kopfweh. Die bei mir Kopfschmerzen sind. Viel belächelt und nicht ernst genommen, aber fürchterlich in ihrer zerstörerischen Kraft.
Weiter im Text. Und der ist lang. Kürzer als bei der Pille für den Mann oder der Pille für die Frau, aber immer noch mit verstörenden Angaben. So steht unter der Überschrift
Was müssen sie während der Stillzeit und Schwangerschaft beachten?
Da keine ausreichenden Untersuchungen vorliegen, sollte das Konzentrat zum Gurgeln in der Schwangerschaft nicht angewendet werden. Na gut, dass sich keine werdende Mutter gefunden hat. Bei der Geburtenrate. Nächste Frage:
Was ist bei Kindern zu beachten?
Zur Anwendung dieses Arzneimittels bei Kindern liegen keine ausreichenden Untersuchungen vor.
Moment, haben die das überhaupt untersucht? Ja ja, ich weiß. Ich bin weder Frau noch Kind. Und wir haben da ein gutes System. Sogar so gut, dass sie neue, billigere Produkte nicht zulassen. Das ist beruhigend.
Ich habe Schmerzen. Ich bin krank. Ich lese also den Beipackzettel zu Ende. Somit spare ich mir den Gang zum Arzt oder Apotheker. Aber nein, auch das stimmt nicht. Unter Nebenwirkungen (fettgedruckt) steht, gleich unter der Mitteilung, dass keine Nebenwirkungen bekannt sind (wie auch, wenn es nicht getestet wurde),dass ich, sollte ich doch Nebenwirkungen feststellen, meinen Arzt oder Apotheker konsolidieren darf (wahrscheinlich für die 10Euro). Habe ich mich ohne meines Wissens für eine Versuchsreihe zur Verfügung gestellt? Man hat irgendwie das Gefühl, mit diesem kleinen Rücksendecoupon, für weiß nicht welche Fälle, unterschrieben von den Erkältungsspezialisten, die Vertrauen von ihren Patienten erwarten. Da wäre einem doch die eine Liste von etwaigen Unzulebenslänglichkeiten lieber: Hautausschlag und Juckreiz, Schwitzen, Übelkeit und Erbrechen, Haarausfall und Potenzstörungen. Wenigstens weiß man dann, was auf einen zukommt und kann sich über jedes ausbleibende Leid freuen.
Aber gut, ich habe Schmerzen -jetzt noch schlimmere wie vorher- und dieses wunderbare blaue Konzentrat in seiner dreieckigen Flasche verspricht mir zu helfen. Ich werde also 15-20 Tropfen des Konzentrats in ein Glas Wasser (ca. 150ml) geben und 2-3 mal täglich Gurgeln.
150ml sind dreiviertel eines kleinen Glases, oder? Ich werde nicht den Backmaßbecher nehmen. Das Circa muss mich entschuldigen. 15 bis 20 Tropfen hinein. Ja natürlich rinnt dieses Ding so schnell, dass man nicht zählen kann und ich wahrscheinlich das doppelte in meinem Drink habe. Dann muss es auch doppelt helfen.
Nehme einen Schluck und gurgele. So ein rollendes R mit Luftblasen, als wollte man eine zarte weiße Feder davon abhalten auf das grasgrüne Gras zu sinken und würde sie immer wieder hochpusten und sich gleichzeitig wie einer der alten Herren räuspern, die bierbäuchig und mit weißbehaarten Rücken in der Sammeldusche im Hallenbad neben einem stehen und Grünes und Gelbes in deine Richtung rotzen und ich habe Angst, keine Luft mehr zu bekommen und wie soll man beim Gurgeln den Atmen oder soll man Luftanhalten, oder wie, während man etwas im Mund und...
Ja, ich habe mich verschluckt. Ja, ich habe auch vorher gelesen, dass dieses Zeug nicht zur Einnahme taugt. Und wieder ja, irgendwoher wusste ich auch, dass da so etwas drin ist, damit das keiner trinkt und das sofort Brechreiz auslöst sollte man versuchen...
Mein Rachen brennt jetzt und kratzt nicht mehr, mir laufen die Tränen übers Gesicht und ich könnte Kotzen, wenn ich nicht schon gekotzt hätte. Vielleicht wende ich mich mal an die Erkältungsexperten und frage mal nach, ob in den Hubbeln etwas von dem Blau steht und sage ihnen, dass sie schöne Farben verwenden, aber der Rest irgendwie...