Der Pfeil löste sich auf und der alte Gelehrte rutschte mit dem Rücken langsam die Wand hinab.
„Guter Schuss, Calirim.“
„Danke, Herr.“
Valiel betrat nun mit festen Schritten vollständig das Zimmer, die Hände immer noch hinter dem stolz gestreckten Rücken gekreuzt. Hinter im entließ Calirim seinen beschworenen Bogen wieder. Die Waffe löste sich, wie der von ihr verschossene Pfeil auch, in bloße Luft auf. Ein Paar Härchen auf der rechten Seite von Valiels Kopf glimmten noch leicht, aber das beunruhigte ihn nicht. Ohne Magie, die sie nährte, würden auch diese kleinen Flämmchen ausgehen.
Ja, er hätte dem Feuerball des alten Dunmers ausweichen können, statt aufrecht in der Tür herumzustehen und dann seine Schutzzauber die Arbeit machen zu lassen, aber dem ganzen hätte der Stil gefehlt.
Er liebte es zu sehen, wie seine Gegner ihn wie dumme Kühe mit offenem Mund anstarrten, nachdem der Feuerball oder der Kugelblitz, in den sie so viel Magica geladen hatten, nutzlos an seinem höflich lächelnden Gesicht zerschellte.
Auch auf seine Untergebenen machte es einen wunderbaren Eindruck. Diese verbreiteten sich jetzt in der armseligen Bibliothek, die der Gelehrte sich zusammengekratzt hatte. Allesamt trugen sie die dunkelvioletten Roben der Thalmor, und es erfüllte ihn mit Zufriedenheit zu sehen, wie sie ohne Worte zu benötigen genau das taten, was er von ihnen wollte. Unheimlich fortschrittlich. Die Bücher wurden, ohne dass es seinen Befehl brauchte, aus den Regalen gerissen, kurz durchgeblättert und dann achtlos in die Mitte des Raumes geworfen, wo sich langsam ein unordentlicher Stapel bildete.
Valiel selbst bewegte sich, dicht gefolgt von Calirim, mit langen und festen Schritten auf den Schreibtisch zu, neben dem die Leiche des Hausbesitzers an der Wand lehnte. Der Hochelf blickte auf den toten Dunmer hinab. Glasige rote Augen starr geradeaus, das Gesicht eine Maske des Schreckens, ein definitiv ungesund aussehendes Loch in der Mitte der Stirn. Es war wirklich ein guter Schuss gewesen.
Aber was für eine Verschwendung. Zwar kein Altmer, aber immer noch Mer. Warum verstanden es manche einfach nicht? Alles, was der Gelehrte hatte tun müssen, war es, den Brief, der durch Zufall an ihn geraten war, an die Thalmor-Botschaft zu überbringen, statt ihn zu öffnen und zu lesen. Das hatte man nun davon, wenn man wichtige Aufgaben einem Bosmer überließ. Die Waldelfen waren trotz ihres elfischen Ursprungs im Grunde ihres Wesens zu primitiv, um gebildete Entscheidungen zu treffen.
Valiel ließ seinen Blick nun über den Schreibtisch wandern. Das standardmäßige Tintenfässchen war in ein kleines Loch in der Oberfläche eingelassen und nicht umgekippt, als der dahingeschiedene Dunkelelf gegen die Wand gekracht war. Klever. Äußerst modern.
„Calirim. Erinner mich bitte später, mir für meinen Schreibtisch auch so etwas anzuschaffen.“
„Ja, Herr.“
Calirim fragte nicht, was er mit „so etwas“ meinte. Sie würden es ohnehin beide vergessen, unwichtige Details entschwanden schnell Valiel's Erinnerung.
Was aber wichtiger war, als die Sonderausstattung des Schreibtisches, waren die fünf auf ihm ausgebreiteten Blätter.
Jedes von ihnen war an der linken Seite zerrissen, also offensichtlich aus einem Buch gerissen worden, und mit eiliger Hand beschrieben. Auf jedem stand das gleiche.
Valiel nahm sich einen der Zettel zur Hand und begann zu lesen, begleitet von dem Rascheln und Rumpeln der aus den Regalen geworfenen Bücher. Sein Adjutant wartete geduldig hinter ihm.

Geistesabwesend entließ Valiel Calirim mit einem Winken, und dieser schritt davon, um sich ebenfalls ans Werk zu machen.
„Mein Name ist Neldan Moloth,“ las Valiel, „und dies Papier hier ist mein Testament. Ich besizte besitze nichts, und ich habe auch niemanden, dem ich etwas vermachen könnte. Stattdessen habe ich eine letzte Bitte an jenen, in dessen Hände dieses kleine Zettelchen seinen Weg gefunden hat.“
Der Altmer schnaufte belustigt und las dann weiter, überflog unwichtige Zeilen.
„Meine Verfolger sind ohne Zweifel die Thalmor vom Dominion,“ ließ Valiel sogar laut auflachen, doch keiner der anderen Altmer im Raum schenkte dem viel Aufmerksamkeit.
Der Dunmer schrieb ausschweifend von den Türmen, die Nirn zusammenhielten, ganz klar darauf erpicht, selbst dem ungebildetsten - wahrscheinlich Menschlichem - Leser sein Wissen zu vermitteln. Ein Charakterzug, ein Zwang sogar, der manchen Gelehrten innewohnte.
Anschließend schrieb er über etwas, von dem eigentlich nur die oberen Ränge des Dominons wussten: Die Beseitigung des Talos-Kultes, dieser widerwärtigen Anbetung eines Sterblichen, ja, sogar eines sterblichen Menschen, würde einen der Türme – vermutlich sogar den letzten – zu Fall bringen, und Nirn damit auflösen.
Der alte hatte also definitiv den Brief gelesen. Und er verstand nicht, dass dies der sicherste Weg war, die widerspenstige Plage namens Menschheit völlig auszulöschen und die Mer wieder an die Seite der Götter zu bringen, dem wunderbaren Ort, dem sie entsprungen waren. Das verdammte Rotauge maßte sich sogar an zu behaupten, dass diese Methode nicht funktionierte, sondern zum Ende der Existenz führte.
Aber was wusste er schon? Seine Leiche lag neben ihm, Valiel, und war noch nicht einmal ganz kalt. Behauptete er mehr zu wissen, als Valiels Vorgesetzten in Summerset?
Es entsprach wohl kaum der Richtigkeit. Die Thalmor-Elite würde nicht die Gesamtheit der göttlichen Schöpfung riskieren, wenn sie sich nicht absolut sicher wäre. Das zu hinterfragen stand Valiel in seiner Position nicht zu. Überhaupt war er der einzige im Raum, der über diese Information verfügte, und seine Einheit wusste es besser, als nach Geheiminformation zu schnüffeln. Jedenfalls nicht nach Geheiminformation, die ihnen selbst gehörte. Seine Untergebenen waren sehr geübt darin, nicht zu lesen, was sie nicht lesen sollten. Es zu verbrennen, hingegen, darin waren sie zu Valiels Stolz wahre Meister.
Mit einem Seufzer zerknüllte der Thalmor-Offizier vier der Blätter und warf sie, ohne hinzusehen, auf den Haufen hinter sich. Den letzten steckte er ein, dann drehte er sich zur mittlerweile entleerten – oder zumindest drastisch umdekorierten - Bibliothek um. Es waren nur einige wenige Bücher in den Regalen übrig, und ihre Arbeit war fast getan.

Valiel streckte die Hand aus, und Calirim, der unvermittelt neben ihm auftauchte, reichte ihm zwei Bücher.
„Zwei diesmal?“
„Ja, Herr. Das eine für Eure Sammlung, dem anderen unbeschriebenen fehlen neun Seiten.“
Valiel sah sich die beiden Schriftstücke an und schob dann das beschriebene von beiden diskret durch den geöffneten Kragen seiner Robe in eine Tasche auf der Innenseite. Eine seltene ketzerische Schrift, von einem längst verstorbenen ketzerischen Autor, die absurderweise das Existieren von Talos als Gott beweisen wollte. Valiel sammelte solche Werke, weil ein Altmeri-Philosoph, dessen Name ihm gerade entfallen war, behauptet hatte, dass das Ausüben von Hobbys die geistige Stärkte förderte.
In der politischen Welt der Thalmor war es ein sehr gefährliches Hobby, aber sein hochrangiger Vetter hatte bisher immer dafür gesorgt, dass Valiel aus der Schusslinie gieriger Untergebener oder paranoider Vorgesetzter blieb. Natürlich würde er seine Sammlung am ende verbrennen, wie jede andere ketzerische Schrift, aber bis dahin war es ein aufregender Zeitvertreib, den er mit seiner Arbeit verbinden konnte. Valiel fühlte sich dadurch sehr fortschrittlich und modern.
Nun durchblätterte der Altmer das andere Büchlein. In der tat war jede Seite unbeschriebenen. Auch waren die gezackten Überbleibsel der Seiten zu sehen, die der Gelehrte herausgerissen hatte. Ein typisches Tagebuch, wie es bei Abenteurern und experimentierfreudigen Magiern sehr beliebt war. Er schlug es lautstark zu.
„Nun denn. Gute Arbeit, Calirim. Vier Seiten hat er wohl schon in der Stadt verteilt.“
Sie aufzuspüren würde ein leichtes sein. Ihr einziger Gegner dabei war das kaiserliche Penitus Oculatus, doch diese fantasielosen Stümper würden kein Problem darstellen. Sie konnten sich also Zeit lassen.
Ihr letztes großes Hindernis waren die Klingen gewesen, und seit ihrer Beseitigung verursachten ihre eigenen Leute mehr Probleme, als die Kaiserlichen. Valiel musste schmunzeln, als er an den Vorfall dachte, bei dem eine Gruppe der Thalmor sich als Ketzer-Kult ausgegeben hatte, um Ketzer anzulocken, und dann von einer anderen Gruppe verhaftet wurde, die vorgegeben hatte, Ketzer zu sein, um einen Ketzer-Kult zu unterwandern. Beide wurden dann auch noch von einer dritten Gruppe für Ketzerei verhaftet, die beide Gruppen seit kurz nach Beginn ihrer Operationen beobachtet hatte und gedacht hatte, einen großen Fang zu landen. Am Ende war kein einziger echter Ketzer anwesend gewesen, und die Gruppen gingen nach einer Flut aus Papierarbeit, Flüchen und deutlich gesenkten Schultern und Köpfen wieder auseinander.
Das letzte Buch landete mittlerweile in der Mitte des Raumes und rutschte etwas den kleinen Haufen aus verschiedensten Werken herunter, wie ein Bergsteiger, der den Halt verloren hatte und verzweifelt versuchte, sich noch irgendwo festzukrallen, bevor der Abgrund ihn verschlucken konnte. Valiel nickte seiner nun aufmerksam bereitstehenden Truppe ermunternd und voller Elan zu. „Estyon, du darfst heute das reinigende Feuer entfachen.“
„Danke, Herr.“
„Arkvuar, du warst am schnellsten mit deinem Regal durch. Du hast heute das Privileg, beim heutigen Abendessen zu meiner linken zu sitzen.“
„Vielen dank, Herr.“
Wie es seiner rechten Hand zustand, würde Calirim zu seiner rechten sitzen, aber das stand außer Frage.
„Nun denn, meine Herren. Unsere Arbeit hier ist erledigt. Zurück zum Hauptquartier. Hop, hop!“