Der Doktor schreckte von seinem Schlaf auf, als er die Schreie der Bevölkerung von der Straße her hörte. Er zog sich das aufgeweichte Stück Pergament von der Wange, auf dem er die Nacht über gelegen hatte und rannte zur Tür. Kurz bevor er nach draußen ging, griff er vom Beistelltischchen eine Tasche mit einfachen Diagnosewerkzeugen für unterwegs. Ennisius stürmte durch die engen, steinigen Wege des Dorfes auf die Stelle zu, von der das Laute Geschrei tönte. Schon aus einiger Entfernung konnte er bereits die Traube erkennen, die sich um irgendetwas am Boden gebildet hatte. Er versuchte, sich durch das Gedränge zu quetschen, doch war er viel zu klein um etwas gegen die Massen ausmachen zu können, also wandte er seine mächtigste Waffe an, seinen Verstand.
„Lasst mich durch, ich bin ein Doktor!“, schrie er die Menge an, die sich sofort und ohne weiter über die Worte des Doktors nachzudenken beiseite ging.
Vor Ennisius tat sich ein Bild des Grauens auf. Eine junge Frau lag im Staub. Die Kleider zerfetzt, die Haut von Wunden zerfurcht, des Haar verkrustet von Blut und das Gesicht zu einer Fratze des blanken Entsetzens entstellt. Ganz gleich was ihr angetan wurde, sie war einen furchtbaren und vermutlich sehr schmerzhaften Tod gestorben. Zu seiner Zeit als Student an der Universität von Kohlberg hatte Ennisius vor vielen Leichen gestanden, hatte ihnen die Herzen herausgeschnitten, Finger abgetrennt, die Schädeldecken mit einem Holzhammer eingeschlagen. Doch vor etwas vergleichbarem hatte er nie gestanden.
Mit zitternden Knien und den Brechreiz unterdrückend näherte er sich dem Tatort und ging langsam in die Knie.
Er erkannte Layana. Er hatte nie mit ihr zu tun gehabt, doch sie war stets freundlich gewesen und er wusste auch, dass alle Dorfbewohner sie ins Herz geschlossen hatten. Neben der vermuteten Trauer würde dies wohl auch die Panik schüren.
Auf der rechten Seite ihrer Hüfte war ein halbkreisförmiges Stück aus ihrem Fleisch gerissen. Mit seinem Maßzirkel nahm Ennisius den Abstand zwischen den beiden Enden. Für ein einfaches Wolfsgebiss viel zu klein.
Einen weiteren tiefen Kratzer, der am Bauch des Opfers verlief, untersuchte er mit seinem Vergrößerungsglas. Die Wunde war sehr glatt, viel zu Glatt für die Klauen eines Tieres, selbst zu glatt für das Schwert eines Soldaten, vielmehr erinnerten ihn diese Schnitte an Skalpelle.
Mit diesen Erkenntnissen lehnte er sich zurück und starrte die Leiche an, als versuche er sie dazu zu zwingen, ihr Geheimnis zu offenbaren. Von allen Seiten kam das aufgeregte Gemurmel der Dorfbewohner, die immer zahlreicher erschienen.
Plötzlich murmelte der Doktor etwas. „Vollmond!“, waren seine Worte. Aufgeregt durch seine neue Erkenntnis schritt er zurück zu seinem Labor. Er hatte einige Arbeit vor sich…