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Thema: [kurzgeschichte] Das ewig weiße Blatt Papier

  1. #1

    [kurzgeschichte] Das ewig weiße Blatt Papier

    Das ewig weiße Blatt Papier
    Eine Kurzgeschichte von Chriz

    Milo hatte noch niemals einen Liebesbrief geschrieben. Er wusste nicht warum das so war. Aber noch wenig wusste er, warum er jetzt grade an seinem Schreibtisch saß und das leere Blatt Papier vor seinen Augen anstarrte, in der Hoffnung, es würde beginnen sich mit Wörtern zu füllen, ohne dass er den metallfarbenen Füllfederhalter, der geöffnet auf der Tischplatte lag in die Hand nehmen müsste. Doch - wer hätte es erwartet - das weiße, sozusagen unschuldige Blatt, dieses ehemalige Stück Holz, erdreisstete sich, weiterhin unbeschrieben vor seinem Auge zu verweilen. Zum ersten Mal schien ihm die Verwandtschaft des Papiers mit den Bäumen offensichtlich und unabstreitbar zu sein. Auf die selbe Art, auf welche die edlen Giganten des Waldes sich störrisch dem Einfluss von Wind und Wetter verschlossen, den Regen an sich abprallen ließen und dem Wind Einhalt geboten, genau mit der selben Störrigkeit trotzte diese unbefleckte Papierseite ihm, dem Menschen.
    Dieser Mensch hatte vor dieses Blatt zu füllen. Nicht einfach nur mit bloßen Wörtern, sondern mit Liebe, so wie es der Begriff des ‚Liebesbriefs’ eben in sich trägt. Nicht zwingend erwähnenswert, da selbstverständlich, ist hierbei, dass diese Tatsache das ganze Unterfangen noch schwerer machte, als es sowieso schon von sich aus schwer ist, leere Räume zu füllen.

    Plötzlich musste Milo an seine Mutter denken. Um nun an dieser Stelle das ungewollte Auftreten einer Ödipusthematik zu vermeiden, erweißt es sich als nötig den vorhergehenden Satz zu korrigieren, bzw. vielmehr zu präzisieren. Milo musste in diesem Moment, beim Schreiben oder mehr noch dem versuchten Schreiben eines Liebesbriefes, nicht wirklich an seine Mutter denken, sonder, um die Sache auf den Punkt zu bringen, an die schnulzigen Liebesfilme, die besagte, ihm familiär sehr nahe stehende Frau sich allabendlich im Fernsehen anzusehen pflegte. Er hasste sie. Die Filme, nicht die Mutter. Diese von Kitsch über und über triefenden Schnulzen, die scheinbar ewig aufs Neue zu suggerieren versuchten, dass am Ende immer alles gut werde; im Leben und in der Liebe. Wer in solchen Filmen, die für Milo allesamt Lügengeschichten erzählten, einen Liebesbrief schrieb, der eroberte seine Flamme zumeist auf kurz oder lang, wobei kurz in anbetracht der maximalen Spielzeit von 90 Filmminuten und dem viel gebrauchten, angeblich so romantischen Begriff der ‚Eroberung im Sturm’ eher die Regel war. Erst jetzt wurde Milo das Paradox bewusst, dass das Schreiben des Briefes, das man bisher immer noch nicht wirklich als solches bezeichnen konnte, darstellte. Er selbst glaubte ja gar nicht an die ganze Romantik, die ganzen unabdingbaren Happy Ends, die vielen Küssen im Regen, die gemeinsamen Strandspaziergänge im Mondschein oder die perfekten, ewig währenden Sandkastenlieben. Er glaubte nicht an Liebesbriefe. Zumindest nicht an die im Fernsehen. An die im echten Leben eigentlich auch nicht. Ehrlich gesagt noch weniger. Nur musste er sich nun das Gegenteil einreden, um das Paradox seiner momentanen Handlung zu verstecken, sich seine Verzweiflung nicht eingestehen zu müssen und den letzten Ast, an den er sich klammerte, nicht am Ende selbst zum Brechen zu bringen.
    Nachdem ihn für einen Moment die Komplexität und mehr noch die Wirre seiner eigenen Gedanken überrascht hatte, hörte Milo auf an seine Mutter oder deren Kitschfilme zu denken. Genau genommen war es viel eher, als dass er bewusst aufgehört hätte an dieses oder jenes zu denken, so, dass seine Gedanken zwangsweise überrollt wurden, ohne, dass er sich hätte dagegen wehren können. Da war sie wieder. Da waren wieder ihre braunen Rehaugen. Da waren die zarten Wangen und das freche, braun gelockte Haar. Da war ihr neckisches, herausforderndes Lächeln. Da waren ihre tapsigen Bewegungen, die sie so umwerfend süß machten und da waren die drei kleinen und dennoch gleichzeitig auch sehr auffälligen und zudem auffällig bezaubernden Sommersprossen, die ihre Nasenspitze schmückten. Sie war wieder da und verdrängte alles andere aus Milos Wahrnehmung. Milo war zu beschäftigt, um sich darüber zu wundern, wie schnell er einfach alles, was er bis eben gedacht hatte, vergessen konnte, als sei nichts geschehen. Die geschätzten zehn vergangenen Minuten des Denkens wurden aus seiner Erinnerung, und damit von dieser Welt, getilgt, als hätte er niemals in seinem Leben etwas anderes gemacht als nur so dazusitzen und an sie zu denken.
    Nachdem seine Gefühlslage bis eben zweifellos als schwelgerisch und verträumt benennbar gewesen wäre, schien sich plötzlich etwas in Milo zu verändern. Er wurde nervös. Die Hand, mit der er mittlerweile den, bereits im dritten Satz dieses Textes von mir erwähnten und bis vor wenigen Sekunden dort unberührt liegen gebliebenen, Füllfederhalter ergriffen hatte, begann zu zittern. Er hatte Angst. Angst, dass sie niemals ihm gehören würde, er für ewig der Träumer bleiben würde - der, der nachts stundenlang wach liegt und an sie denkt; der, der um sie kreiste, wie die Sonne um die Erde und schließlich auch der, dessen Namen sie nichtmal kannte – und niemals der werden würde, in dessen Armen sie abends einschläfe.
    Mit einem Mal hörte er das Ticken der Wanduhr in seinen Ohren, ungewohnt laut und aufdringlich. „Tick, Tack, Tick, Tack“ pochte es vor sich hin während der Schlag seines Herzens sich mit jedem Mal verschnellerte. Er hätte sich vielleicht überlegt, welchen unglaublich zerstörerischen Charakter das Ticken einer Uhr doch hat, wäre er nicht zu aufgewühlt gewesen, um auch nur einzigen klaren Gedanken zu fassen. Ihm wäre klar geworden, dass doch tatsächlich mit jedem Schlag einer Uhr, mit jeder noch so kleinen Bewegung des Sekundenzeigers, etwas zerstört wird, ein kleines Stück Zeit unwiderruflich kaputt gemacht wird, und er hätte sich vielleicht überlegt, diese schrecklich mathematische und immerwährend vor sich hintickende Uhr von seiner wand zu reißen und auf dem Boden zu zerschmettern. Diese Gedanken dachte er, wie bereits erklärt, nicht.
    Stattdessen dachte er, dass er diesen Brief unbedingt schreiben musste. Dieses ‚unbedingt’, meinte in seinen Gedanken nun zum ersten Mal – sowohl in Bezug auf diesen Brief, als auch überhaupt zum ersten Mal in seinem Leben in Bezug auf irgendetwas - ein wirkliches, verbindliches, sozusagen unumgehbares ‚unbedingt’. Er musste diesen Brief schreiben. Sonst konnte er nicht weiterleben. Und dies wiederum war so, weil er diesen Brief schreiben musste, um sie zu bekommen, sie zu besitzen, und er ohne diesen Besitz nicht mehr Leben konnte, nicht mehr Leben wollte. Seine Gedanken kamen ihm plötzlich unheimlich klar und strukturiert vor. Er schien alles ganz deutlich vor sich zu sehen und beschloss infolgedessen, die ganze Briefsache etwas nüchterner anzugehen. Er überlegte, was er schreiben könnte, womit er anfangen könnte, womit enden, was hervorheben, und was unbeachtet lassen, und wie er ihr schließlich seine Gefühle am besten, anschaulichsten und vor allem doch überzeugendsten vermitteln konnte, bis ihm schlagartig klar wurde, was nun, seit einer Stunde stillschweigendem und, vom Nachdenken abgesehen, tatenlosem Sitzen vor seinem Schreibtisch, sein Problem darstellte. Er wusste nicht, was er schreiben sollte.

    Nachdem diese so simple Erkenntnis ihn für einen kurzen Augenblick ruckartig aus der Bahn geworfen und er sich anschließen wieder gesammelt hatte, erinnerte er sich an eine Gesprächssituation mit einem engen Freund. Dieser hatte ihn, verwundert über Milos überschwängliche Zuneigung, skeptisch dreinblickend gefragt, was er denn so toll an ihr fände. Diese Frage hatte Milo verwirrt, wie es unerwartete Fragen, und auch Fragen gewöhnlicher Natur, da schon das Fragezeichen an sich ja ein Symbol der Verwirrung verkörpert, eben des Öfteren. Jedenfalls hatte er kurz nachgedacht und dann kurz und treffend geantwortet. „Alles.“

    Ist es nicht seltsam dachte Milo, währen er das Papier zerknüllte und sich von seinem Stuhl erhob, um den Gang zum Abfalleimer zu beschreiten, in den er den vergeudeten Fetzen zu werfen gedachte, wie doch der Satz „Ich liebe alles an dir“, in seiner unglaublichen Einfachheit, – denn es gibt bei weitem wenige so einfache, wirklich simple Sätze – die ihn tatsächlich zu banal erscheinen lässt, um ihn zu solchem Zwecke zu notieren, eines der schönsten und reinsten Liebesgeständnisse dieser Welt darstellt.

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    Werungen, Kritiken, Kommentare, einfach jede Art von Reaktion ist überaus willkommen.

    Geändert von Chriz (17.12.2007 um 00:13 Uhr)

  2. #2
    Der Witz an dieser Geschichte, vielmehr an der Verbindung zwischen der Geschichte und diesem Kommentar ist, dass ich jetzt erstmal einige Minuten dagesessen und mich gefragt habe, wie man so einen Kommentar anfangen könnte. Dann bin ich die Geschichte von oben bis unten nochmal durchgegangen und mich gefragt, was mir gefallen hat - die einfachste Antwort war: alles (die eine Sache, die ich gleich kurz kritisieren werde, ist verschwindend gering =)) aber ich brauchte doch eine wirkungsvolle Einleitung \o/) ... warum also nicht damit anfangen?

    Du greifst das Thema wirklich wunderschön auf, du beherrschst glänzend die Form der Kurzgeschichte und du vermagst, mit einer wirklich andächtigen Tiefgründigkeit männlich-menschliche Gedankengänge super darzustellen. Ich mag deinen Schreibstil wirklich sehr, vorallem diese Revidierungen und Klimaxn, die Gedankenschilderungen. Ich als Leser fühle mich wirklich richtig verbunden zu dieser armen Seele =).

    Die eine Sache, die eben schon in der obigen Klammer angeklungen ist, ist eigentlich wirklich recht kleinlich: du musst ein wenig auf deine Kommasetzung achten (hey, ich hab gesagt, es ist nix =) ).

    Tolle Kurzgeschichte - mehr davon =)).

  3. #3
    Danke erstmal fürs lesen und Kommentieren.

    Hab die Geschichte nochmal Probegelesen und verbessert, was in diesem Fall bedeutet:
    • Einige Kommafehler korrigiert(wie erkannt nichts o meine Stärke)
    • die wenige Groß-/Kleinschreibfehler behoben(siehe oben ^^)
    • einige wenige mir verbesserungswürdig erscheinende Formulierungen verbessert

    Die alte Version ist jetzt im anfangspost durch die neue ersetzt. Edit done!

    Freut mich das sich zumindest schon einer gefunden hat, dem der Text gefällt. (=


    Hier die zuerst gepostete version falls jemand vergleichen mag(was ich zugegebenermaßen für unwarscheinlich halte) :P

  4. #4
    Ich fand's toll, schöne Geschichte. Erinnert mich, als ich noch 13,14 war . So, nun gehts hier in der Schule weiter mir Rechnungswesen.

  5. #5
    Zitat Zitat von Eynes'Prayer Beitrag anzeigen
    Du greifst das Thema wirklich wunderschön auf, du beherrschst glänzend die Form der Kurzgeschichte und du vermagst, mit einer wirklich andächtigen Tiefgründigkeit männlich-menschliche Gedankengänge super darzustellen. Ich mag deinen Schreibstil wirklich sehr, vorallem diese Revidierungen und Klimaxn, die Gedankenschilderungen. Ich als Leser fühle mich wirklich richtig verbunden zu dieser armen Seele =).
    Dem kann ich mir nur anschließen, wirklich sehr schön verfasst. Ich fühlte mich beim Lesen direkt in den Abend versetzt, an dem ich meinen ersten Liebesbrief schrieb. Sehr schön!

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