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Das wahre Leben spricht niemals. Es ist nichts als ein Geschicklichkeitsspiel, entweder man gewinnt oder man verliert, es lenkt einen ab, damit man nicht soviel nachdenkt. Diesen Trick wandte auch meine Mutter damals an. Da ich nicht aufhörte zu schluchzen, zog sie mich weiter, vor einen Automaten mit ganz vielen Lämpchen und Schriftzügen, ein schöner Automat, er sah aus wie eine slot machine oder so. Eine Margarinefirma hatte ihn aufgestellt. Er war gut gemacht, das muss man schon sagen. Das Spiel funtkionierte so, dass auf einem Teller sechs Plätzchen lagen, einige waren mit Butter und andere mit der Margarine zubereitet. Man musste sie nacheinander probieren und jedesmal bestimmen, ob sie mit Margarine oder Butter zubereitet waren. Damals war Margarine noch ein bißchen exotisch, man wusste noch nicht viel darüber, hatte nur die Vorstellung, dass sie gesünder wäre als Butter, vor allem aber ziemlich ekelhaft. Das war das Problem. Also erfanden sie diesen Automaten mit dem Spiel, bei dem man auf den roten Knopf drücken musste, wenn man glaubte, dass das Plätzchen mit Butter zubereitet war, und auf den blauen, wenn es nach Margarine schmeckte. Es war lustig. Und ich hörte auf zu weinen. Das steht fest. Ich weinte nicht mehr. Nicht dass sich in meinem Kopf irgendwas geändert hätte, ich verspürte immer noch dieses stechende, schmerzhafte Staunen, das mich im übrigen nie mehr verlassen sollte, denn wenn ein Kind entdeckt, dass es einen Ort gibt, der sein Ort ist, wenn man ihm für einen Augenblick sein Haus und die [i]Bedeutung[/] eines Hauses aufblitzen lässt, und vor allem die Idee, dass so ein Haus existiert, dann ist es ein für allemal angeschmiert, von da gibt's kein Zurück, dieses Kind wird immer jemand sein, der zufällig vorbeikommt, mit diesem stechenden, schmerzhaften Staunen auf dem Buckel, und deshalb immer fröhlicher und trauriger als die anderen, bei allem, was es auf seinem Weg zu lachen und zu weinen gibt. In diesem konkreten Fall hörte ich jedenfalls auf zu weinen. Es funktionierte. Ich aß Plätzchen, drückte Knöpfe, die Lämpchen leuchteten auf, und ich weinte nicht mehr. Meine Mutter war zufrieden, sie dachte, es wäre vorbei, sie konnte es ja nicht verstehen, aber ich schon, ich verstand es ganz genau, ich wusste, dass überhaupt nichts vorbei war, dass es nie vorbei sein würde, aber ich weinte nichtmehr und spielte mit dem Automaten. Wenn sie wüssten, wie oft ich dieses Gefühl noch verspürt habe... Es kommt mir so vor, als hätte ich seit damals nichts anderes getan. Mit dem Kopf ganz woanders, bei blauen oder roten Knöpfen, bei dem Versuch, richtig zu raten. Ein Geschicklichkeitsspiel. Als Ablenkung. Und warum auch nicht, schließlich funktioniert es ja. Als die Ausstellung vorbei war, teilte die Margarinefirma übrigens mit, dass hundertdreißigtausend das Spiel mitgemacht und nur acht Prozent der Teilnehmer alle sechs Plätzchen richtig zugeordnet hätten- Sie verkündeten das mit einem gewissen Stolz. Ich glaube, meine Erfolgsquote war ähnlich hoch. Ich will damit sagen, wenn ich mir überlege, wie oft ich die blauen und roten Knöpfe dieses Lebens gedrückt habe, in der Hoffnung, richtig zu raten, muß meine Trefferquote wohl so um die acht Prozent gelegen haben, diese Zahl scheint mir ganz realistisch.
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