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Greenpeace verhindert eine Lösung der Umweltprobleme. Sagt Patrick Moore, Mitgründer der Organisation. Er fordert dreimal mehr Atomkraftwerke.
Herr Moore, weshalb soll jetzt plötzlich wieder Atomenergie unsere Probleme lösen?
Die Atomenergie wird sicher nicht alle Probleme beseitigen. Aber sie kann dazu beitragen. Ich bin ja ein grosser Anhänger von erneuerbarer Energie wie Wasserkraft oder Windenergie. Aber ich glaube nicht, dass wir den Konsum fossiler Brennstoffe wie Kohle oder Erdöl reduzieren können, wenn wir nicht zusätzlich Nuklearenergie einsetzen. Die Kombination von Klimawandel und steigendem Energiebedarf ist die grösste globale Umweltgefahr geworden.
Was bringt Atomenergie?
Erstens reduziert sie den Treibhauseffekt. Das passiert bereits: Die Energie, die in den USA von 102 Reaktoren hergestellt wird, entspricht den Abgasen von 100 Millionen Autos. Zweitens: Fossile Brennstoffe sind wertvolle, nicht erneuerbare Ressourcen, die wir auch für die Herstellung von Plastik oder Chemikalien brauchen können. Und drittens verschmutzen wir damit auch anderweitig die Luft. Kohlekraftwerke verursachen zwei Drittel des Schwefeldioxid-Ausstosses in den Vereinigten Staaten.
Als einer der Gründer von Greenpeace hielten Sie vor dreissig Jahren die Nuklearenergie noch für eine Art atomaren Holocaust.
Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs erschien uns einfach alles Nukleare als schlecht. Doch inzwischen ist die Frage des Klimawandels so drängend geworden, dass wir etwas gegen den Konsum fossiler Brennstoffe tun müssen. Er wird weiter steigen, wenn wir kein aggressives globales Programm verfolgen, das erneuerbare Energien mit Atomstrom kombiniert. Leider sind gerade die Umweltbewegungen grösstenteils dagegen.
Weil Atomenergie gefährlich ist.
Nein. Schauen Sie die Bilanz der Atomwirtschaft an: Tschernobyl war der einzige atomare Unfall, bei dem Leute in der Öffentlichkeit zu Schaden kamen. Es gab in der Geschichte der nordamerikanischen Nuklearindustrie keinen Toten als Folge eines radioaktiven Zwischenfalls. Als es auf Three Mile Island 1979 zum einzigen ernsthaften Unglück kam, explodierte weder der Reaktor, noch entwich signifikante radioaktive Strahlung. In Kohleminen sterben jedes Jahr 6000 Leute.
Als grösstes Risiko erscheint heute ein Terroranschlag auf ein Atomkraftwerk.
Eine Boeing 747, die am Boden zerschellt, ist immer gefährlich. Aber ein Atomkraftwerk ist wegen seiner Sicherheitshülle kein gutes Ziel. Wir reden hier von eineinhalb Meter dickem, verstärktem Beton. Andere Ziele wären für einen Terroranschlag geeigneter, etwa eine Anlage für flüssiges Erdgas. So etwas würde wie eine Bombe explodieren.
Weshalb decken dann die privaten Versicherungsgesellschaften bis heute nicht das ganze Risiko von Atomanlagen ab?
In Kanada und den Vereinigten Staaten haben die Regierungen die Haftbarkeit limitiert, stimmt. Die Versicherer hätten wohl gern noch etwas mehr Erfahrungswerte.
Ist Atomenergie überhaupt konkurrenzfähig?
Ja, auch wenn Kohle noch billiger ist. Kohlekraftwerke kommen allerdings nicht für Treibhausgase und Luftverschmutzung auf. Die Atomindustrie hingegen muss für die Entsorgung ihrer Abfallprodukte zahlen.
Ist Atomenergie billiger als erneuerbare?
Ja, abgesehen von Wasserkraft, die an den besten Lagen am billigsten ist.
Greenpeace sagt: Würde man alle Kosten rechnen – auch sogenannte soziale Kosten wie Entsorgung –, wäre die Atomenergie viel teurer.
Greenpeace behauptet immer wieder, dass niemand für die Entsorgung radioaktiver Abfälle zahlt. Doch in den Vereinigten Staaten etwa zahlen alle Reaktoren einen gewissen Prozentsatz in einen Fonds ein, der sich inzwischen auf mehrere Milliarden Dollar beläuft. Ich bin ganz anderer Meinung. Es muss ja auch Gründe dafür geben, weshalb die Franzosen achtzig Prozent der Elektrizität mit Atomkraft herstellen. Und sie bezahlen nicht besonders viel für Strom.
Weshalb also sind Ihre Exkollegen bei Greenpeace und andere Organisationen gegen Atomenergie?
Das liegt an ihrer historischen Position und ihrer Unfähigkeit, ihre Meinung zu ändern. Es ist heute fast ein religiöser Glaube, gegen die Kernenergie zu sein. Dabei gibt es nur wenige Alternativen zu fossilen Brennstoffen. Viele Umweltorganisationen sagen, Energieeffizienz und Sparen würden das Problem lösen. Das stimmt nicht. Wir haben die Energieeffizienz bereits stark verbessert: Seit 1973 ist die US-Wirtschaft um 157 Prozent gewachsen, im gleichen Zeitraum stieg der Stromkonsum nur um 32 Prozent. Das Problem ist, dass die Effizienzgewinne nicht mit der Wachstumsrate der Wirtschaft mithalten.
Greenpeace und Konsorten wollen doch das Gleiche wie Sie – die Reduktion von Treibhausgasen.
Das ist ihnen egal. Sie müssen nicht selbst für die Lösung des Problems gradestehen. Das müssen die Regierungen. Falls wir die Kernenergie nicht weiterentwickeln, wird die Nachfrage nach der billigen Kohle weiterbestehen und der Ausstoss von CO2-Emissionen zunehmen. Greenpeace und andere Umweltorganisationen sind heute deshalb zu den grössten Hindernissen für die Lösung der Umweltprobleme geworden.
Was? Greenpeace setzt sich nicht ernsthaft gegen den Klimawandel ein?
Nein, so stimmt das nicht. Doch im Fall der Kernenergie halten sie an ihrer Angstkampagne fest. Einerseits sei die globale Klimakatastrophe unser schlimmstes Umweltproblem; andererseits verteufeln sie die Atomenergie.
Aber was ist das Ziel einer solchen Haltung?
Sie wollen ihre Organisation bewahren. Viele Umweltkampagnen funktionieren heute so: Man jagt den Leuten Angst ein und verlangt Geld, um etwas zu tun, damit sie keine Angst mehr zu haben brauchen. Ich habe Greenpeace auch deshalb verlassen, weil ich keine Lebensstelle wollte. Sie sind dort zu einer Bürokratie geworden, die sich perpetuiert. Und viele ihrer Positionen sind unlogisch, andere sogar unmoralisch: ihr Widerstand gegen gentechnisch modifizierten Reis etwa. Dieser hat das Potenzial, zu verhindern, dass pro Jahr eine halbe Million Kinder erblinden.
Heute sorgen 443 Reaktoren für sieben Prozent des weltweiten Energieverbrauchs. Wie viele neue Kernkraftwerke müsste man bauen, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wirksam zu reduzieren?
Wenn Sie nur Elektrizität betrachten, macht Atomenergie 16 Prozent aus. In den USA würde es schon viel ausmachen, wenn wir in den nächsten dreissig Jahren die Zahl von heute 103 Kernkraftwerken verdreifachen könnten. Diese Faustregel ist wahrscheinlich für die ganze Welt vernünftig – dann hätten wir 1200 bis 1500 Atomkraftwerke.
Reichen die Uranvorräte dafür?
Ja, sie entsprechen den Kohlevorräten. Die bekannten Uranvorräte reichen für 500 Jahre, aber man wird mehr finden.
Man wagt nicht, daran zu denken, wie viel Uran dereinst durch die Welt geflogen wird und in welchen Händen es landen könnte.
Auch ohne Atomwaffen wurden in den letzten zwanzig Jahren in Afrika eine Million Menschen getötet. Das ist mehr als in Hiroshima und Nagasaki zusammen. Sie starben grösstenteils durch Messer, Macheten. Oder nehmen Sie den Iran: Das Land hat keinen Reaktor, scheint aber dennoch Uran anreichern zu können. Proliferation ist also weniger eine Frage der Kernenergie, sondern eine Frage globaler Sicherheitspolitik.
Wie reagiert die Politik auf Ihre Forderungen?
Sie überdenkt ihre Haltung. Meine Prognose: Deutschland wird nie aufhören mit Kernenergie, wie Schweden. Frankreich macht vorwärts, China und Indien sowieso. Und in den USA hat sich die Lage völlig verändert: Siebzig Prozent aller Amerikaner sind für die Kernenergie, in der Nähe eines Kraftwerks sind es sogar achtzig Prozent.
(Quelle: Weltwoche 18/06)