Wölfe von der Düsterheide - der siebte Tag

Ungeduldig traten die Schafe von einem Huf auf den andern. Momentan äußerte niemand weitere Verdächtigungen, aber vielleicht war das nur eine Frage der Zeit.
"Wisst ihr was, wir alle könnten etwas Ablenkung vertragen. Jemand Lust auf eine kleine Wanderung über die Weide? Ich kann euch ein paar sehenswerte Höhlen in den Düsterhügeln zeigen, danach können wir in den Heuballen im Norden spielen, schließlich eine Runde Verstecken in den Ausläufern des Waldes und am Ende können wir uns auf der Wiese sonnen und uns an der Schönheit unserer Weide ergötzen. Für manche von uns könnte es schließlich das letzte Mal sein.
Lasst uns hoffen, dass dies die Wölfe sein werden. Viele von ihnen kann es nicht mehr geben."

"Nunja, eigentlich habe ich ja seine Tollpatschigkeit damit gemeint. Aber das weißt du sicher." Ein kurzer Blick über die Weide genügte um eines festzustellen - es waren nicht einmal mehr zehn Schafe anwesend. "So wenige sind wir... Es ist richtig schrecklich. Hätte ich gewusst, was hier passieren würde, wäre ich nie hierher gekommen. Ich wollte ja auch nur, glaube ich, euch nach dem Weg fragen. Doch als ich Mmii wiedersah, wusste ich, dass ich hierher gehöre. Er ist mit mir der letzte meiner Familie, der mir noch geblieben ist... Ich habe Angst ihn zu verlieren."

Blanche hatte lange geschlafen. Die ganzen letzten Tage waren sehr anstrengend für sie gewesen, doch nachdem die Herde gestern einen weiteren Wolf erkannt hatten, war Blanche in einen friedlichen Schlummer gefallen. Aber nun war sie ausgeschlafen und sowohl der Hunger als auch die Frage, ob Gewitter der letzte seiner Art in der Herde gewesen war, nagten an ihr. Letzteres erledigte sich, als sie ein weiteres Grab erblickte. Blanche stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war also noch nicht vorbei. In einiger Entfernung konnte sie Fluffy, Mike, Mmii und Silvus sehen, die anscheinend frühstückten. Blanche gesellte sich zu ihnen. Nachdem sie erst einmal eine saftige Löwenzahnblüte verspeist hatte fragte sie mit einem Blick in Richtung des Grabs besorgt in die Runde: "Wer war es diesmal?"

Nachdem alle in Kenntnis gesetzt worden waren was geschehen ist begaben sich die Schafe also auf einem Trip durch ihre Heimat. In den Düsterhügeln meckerten zwar einige von ihnen über die Rumkraxelei, aber nachdem Mike ihnen eine Höhle zeigte in der mehrere Kristalle die Dunkelheit erhellten und durch die ein unterirdischer Fluss floss schienen sie wie verzaubert. Als Andenken zerschlugen sie einen der Kristalle und erhielten jeder einen größeren Splitter.
Glöckchen hängte sich ihren als Ersatz für ihre Glocke um den Hals während sie Mike weiterhin argwöhnisch betraute. Dieser Nichtsnutz würde sie noch alle in den Ruin treiben! Aber sonst hatte sich leider niemand negativ gegen seine Führung ausgelassen, also was sollte sie schon tun?

Einige Zeit später kamen sie schließlich bei den Heuballen an.
"Also dann, wollt ihr ein Spiel mit mir spielen? Die Menschen nennen es Fußball, aber bei uns wird wohl eher Heuball draus. Jedenfalls teilen wir uns in 2 Teams auf, schnappen uns einen kleinen Heuballen und danach müssen die Teams versuchen den Ball durch diese Heuhaufen zu schießen, während jeweils einer aus dem Team das verhindern muss."
Unsicher meldeten sich ein paar von ihnen und begannen mehr schlecht als recht zu spielen. Aber nach einer Weile hatten sie so langsam den Dreh raus und es entbrannte ein heftiges Gefecht zwischen Mikes Team und dem von Mmii. Schlussendlich konnte aber keine Seite den Sieg davontraben da Gary ständig Mist baute und sich scheinbar nichtmal entscheiden konnte auf welcher Seite er eigentlich spielte.
Ihm eine Lektion erteilend schmissen sie ihn in einen großen Heuhafen und begaben sich dann in den Wald um ein kleines Picknick zu halten.

Mmii, Silvus und Fluffy spielten gegen Ende einige Runden Versteckten, aber irgendwie drängte Friedobert sich immer dazwischen obwohl sie mit ihm gar nicht spielen wollte und verriet dadurch ständig wo sich die Gesuchten versteckt hielten. Ihm ebenfalls eine Lektion erteilend taten die drei so als wollten sie doch noch mit ihm spielen und kurze Zeit später hing er kopfüber in einer provisorischen Falle zwischen den Bäumen.

Stunden später hatten sie sich schließlich auf der Wiese im Westen versammelt und sonnten sich, auch wenn das bei Schafen wohl nicht wirklich einen Unterschied machte.
"Erholen wir uns einfach noch etwas bevor wir uns wieder daran machen zu entscheiden wer heute Nacht sterben muss."
Währenddessen überlegte er aber trotzdem für wen er stimmen würde. Glöckchen, Gary oder doch jemand anders? Er war sich noch nicht sicher. Vielleicht brachten die andern nachher noch gute Argumente vor.
Hoffentlich bringe ich kein Schaf um, dachte er sich. Ansonsten kann ich mich wohl morgen von meinem Posten verabschieden.
Daraufhin landete ein Vogel neben ihm. Bilder von Spiegeleiern bildeten sich vor seinem inneren Auge, doch er gab der Versuchung nicht nach, schloss die Augen und streckte sich auf der Wiese aus.

Während sich Nivicola auf der Weide im Westen der Düsterheide sonnte, ließ sie vor ihrem inneren Auge die letzen 24 Stunden Revue passieren...

Nachdem die Diskussion zwischen Gewitter und weiteren Schafen zu einer bloßen Anhäufung von Anschuldigungen geworden war, hatte sie sich dessen müßig gefühlt und sich zur Düsterlache begeben um endlich ihren Durst zu stillen. Schluck für Schluck war das Wasser ihren Schafshals hinab geglitten, das kühle Nass hatte dabei ein wohliges Gefühl hinterlassen, dessen sie sich nicht länger erwehren wollte. Und so hatte sie den restlichen Abend damit verbracht, immer größere Mengen des düsteren Gewässers in sich aufzunehmen. Dabei hatte sie die Abstimmung gänzlich vergessen.

Am sie am nächsten Tag neben dem See erwachte, machte sie sich zum Apfelbaum auf, um ihren Hunger zu stillen. Dort eingetroffen besah sie sich den kotverschmierten Stamm. Mit Müh und Not konnte sie das Geschmiere entziffern: 'Mike' stand dort in großen stinkenden Buchstaben geschrieben. Da sie sich hierauf keinen Reim machen konnte, suchte sie Mike auf, um ihn zu fragen, weshalb sein Name am Apfelbaum stünde. Mike klärte sie und ein paar weitere frisch dazugestoßene Schafe über Möbius' Tod, seine Wahl zum Leithammel und den bevorstehenden Ausflug auf. Nivicola gefiel der Gedanke an diese Zeitvertreibe, dessen Inhalt nicht an Tod und Verderben erinnerte. So sehr hatten die grauenhaften Geschehnisse der vergangenen Tage sie, das Ratio-Schaf, verändert, dass sie sinnloses Vergnügen dem Logische-Rückschlüsse-ziehen vorzog...

Mit ihren Gedanken wieder im Hier und Jetzt, begab sich Nivicola zu Mike, dem Leithammel. Was sie von seiner neuen Position halten sollte, wusste sie noch nicht recht einzuschätzen. In den Tagen seit Napoleons Tod, nein, bereits vorher, seit er ihr mit seinem kartographischen Laientum behilflich sein wollte, hatte sie ihr Mitgefühl und ihr Vertrauen in ihn gesetzt. Doch jetzt, ob seines hohen Amts, überkam sie ein weiteres Gefühl: Furcht. Woher kam sie? War es die Furcht, er könne doch ein Wolf sein? Unwahrscheinlich. War es dann vielleicht die Furcht davor, dass die Wölfe ihn ihr nun doch noch entreißen sollten, jetzt, da er diese wichtige Funktion übernahm? Sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Als sie Mike erreichte, sprach sie ihn sogleich an: "Hallo, Mike. Wie Du sicher bemerkt hast, dauert es nicht mehr allzu lange bis zum Ende dieses Tages. Ich mache mir Gedanken, nein, alle Schafe machen sich Gedanken über die bevorstehende Verurteilung. Ich erwarte nicht, dass Du gleich jemanden verurteilst. Stattdessen würde ich mich freuen, wenn Du mir ein wenig Deine persönlichen Einschätzungen, sozusagen das Für und Wider, mitteilen könntest."

Während Mike so dalag breitete sich plötzlich ein Schatten über ihm aus. Davon ausgehend es könnte ein Wolf sein riss er die Augen auf, aber es war doch nur Nivicola. Natürlich, wie hätte ihn ein Wolf auch jetzt anfallen können? Die Nacht war zwar nicht mehr fern, aber noch hielt die Sonne die Monster in ihrer Verkleidung gefangen.
"Eine Einschätzung? Nunja, wenn wir von gestern ausgingen würden 3 von uns in Frage kommen: Friedobert, Gary und Glöckchen. Keiner von ihnen hat für Gewitter gestimmt. Das kann natürlich viele Gründe haben aber es wirkt verdächtig wenn wir bedenken, dass Gewitter ein Wolf war, den sie vielleicht versucht haben zu schützen. Glöckchen würde ich natürlich ungern wählen, in der Hoffnung Goliath hat gewusst was er dort bewacht und hätte sich selbst um sie gekümmert falls sie ein Wolf gewesen wäre.
Bei den andern beiden bin ich mir jedoch nicht sicher...

Allerdings sollten wir uns nicht allein auf sie konzentrieren. Die wahren Wölfe könnten sich auch im Hintergrund versteckt halten. Gerade anwesend genug um im Kopf zu bleiben aber nicht auffällig genug um verdächtigt zu werden. Wie wir sehen konnten waren einige der auffälligsten Schafe schlussendlich unschuldig, also wäre eine umgekehrte Denkweise nicht unbedingt fehl am Platz.

Ich würde ja gern weitere Meinungen hören, aber scheinbar will heute niemand so recht. Wenn das so weitergeht werde ich wohl als einziger noch wählen wenn der Tag sich dem Ende zuneigt."

Die Wanderung war eine tolle Idee von Mike gewesen. Es war eine Ablenkung, die jedem gut tat.
Nach dieser konnte sich Silvus gar nicht vorstellen, dass überhaupt ein Wolf unter ihnen ist. Schließlich hat er sich doch mit allen prächtig amüsiert. Daher fiel es ihm umso schwerer, jemanden zu verdächtigen und zu wählen.

Blanche hatte das Gespräch zwischen den beiden mitverfolgt und mischte sich nun ein. "Ich stimme dir zu, Mike, diese drei sind die Verdächtigsten. Allerdings würde ich Gary ausschließen, immerhin wären die Reißer wohl kaum dumm genug, so offensichtlich jemanden einzuschleusen. Sie hätten ihn garantiert auch auf dem selben Weg hereinbekommen, auf dem sie selbst hier erschienen sind. Und was Glöckchen betrifft..." Blanche warf einen Seitenblick auf das andere Lamm und senkte die Stimme. "Ich weiß nicht, aber könnt ihr euch wirklich vorstellen, dass sie das Risiko eingehen würde, ihr geliebtes Fell mit Blut zu besudeln? Und außerdem hast du es ja schon gesagt, Goliath selbst hat sie ausgeschlossen und er war definitiv ein fähiger Leithammel. Damit bleibt ***Friedobert***. Ehrlich gesagt, habe ich ihn schon etwas länger im Verdacht." Insgeheim hoffte sie, dass ihr Gefühl sie nicht betrog. Andererseits konnte man hier ja nie wissen...

Fluffy war überrascht gewesen, an so einem traurigen Tag so viel Spaß haben zu können. Den Splitter, den Mike ihr gegeben hatte, hatte sie sich hinters Ohr gesteckt.
Zurück auf dem Sammelplatz hatte sie etwas Gras geknabbert und zufällig die Unterhaltung zwischen Mike und Nivicola mitbekommen. Sie bemerkte auch Blanche, die Friedobert anklagte. Darüber konnte Fluffy nur den Kopf schütteln. Jedes Mäh wurde für die Enttarnung eines bestimmten Wolfes gebraucht. Sie trabte zu den Dreien hinüber und mähte schüchtern zu Mike: "Ich will mich nicht einmischen... Aber.... Ich finde man sollte erwähnen, dass Scherzo, das Lämmchen, Glöckchen als Einziger anklagte und in der folgenden Nacht sein Leben lassen musste. Dadurch wird sie besonders verdächtig. Das ist jedenfalls der Hauptgrund, warum ich sie erwählte..." Fluffy versuchte, den Dreien in die Augen zu sehen, doch unter den bohrenden Blicken senkte sie schnell wieder den Kopf. Sie schämte sich mal wieder für ihre Feigheit.

Die Stunde der Entscheidung hatte also wieder einmal geschlagen. Mike war hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Entscheidungen, aber schlussendlich hatte er seine Wahl getroffen.
"Ich gebe zu, Glöckchen ist nicht gerade unverdächtig und sie kann mich auch nicht leiden, aber ich hoffe einfach mal, dass dieser Mensch keinen Wolf beschützt hat. Und es stimmt, Gary wäre viel zu offensichtlich, aber das könnte natürlich auch Taktik sein.
Von daher werde ich für Friedobert stimmen!"
War das die richtige Wahl? Sie würden es wohl bald erfahren.

Glöckchen war wohl oder übel mit auf die Wanderung gegangen. Immerhin wollte sie auch nichts verpassen und Mike ein bisschen im Auge behalten. Der Kristallsplitter war jedoch schön, und so kehrte sie sogar einigermaßen zufrieden mit den anderen zur Weide zurück.
Natürlich hatte sie mitbekommen, dass sie angeklagt worden war, doch seit Goliaths Tod war sie sowieso der Überzeugung gewesen, dass sie ebenfalls bald auf der Liste stehen würde. Sie war schließlich seine Schwester, und er hatte Großes vollbracht.
So legte sie sich nun teilnahmslos ins Gras und kaute an ein paar Halmen herum. Sie war nicht sicher, ob es ihr wirklich etwas ausmachen würde, an den Zaun geschickt zu werden, so einsam wie sie sich nun fühlte. Aber für ihren Bruder musste sie stark bleiben und sich entscheiden. Der Leithammel war diesmal tabu, er würde sich schon noch den nötigen Schnitzer erlauben. Ihre Wahl würde heute auf Gary fallen.

"Ein Schaf muss ich wählen... doch welches wird es sein? Jeder scheint mir auf seine eigene Art ein wenig verdächtig zu sein, aber sind sie dadurch auch Wölfe? Nein, das kann nicht der Fall sein. Vielleicht sollte ich einfach mal welche ausschließen... Mal sehen..." Silvus schaute sich um, um einen Überblick über die Lage und die Schafe zu erhalten. "Mike ist ein ganz nettes Schaf; diese Wanderung heute war echt eine gute Idee. Und so etwas kann sicher keinem Wolf einfallen. Mmii und Glöckchen scheinen mir ganz höfliche und gute Schafe zu sein. Ebenso Fluffy und Nivicola. Bei den anderen drei bin ich mir aber nicht so sicher... Gary kann ich nicht sonderlich gut leiden, aber er ist zur gleichen Zeit wie ich hier aufgetaucht. Also nur noch Blanche und Friedobert... Die drei bereits hingerichteten Wölfe waren alle männlich. Es wäre natürlich möglich, dass hier auch nur die Starken Wölfe sind. Aber... was ist, wenn sie genau das wollen? Wollen die Wölfe, dass wir denken, sie seien alle männlich? Es könnte ein weiblicher Wolf dabei sein. Von daher... Blanche, ja, ich denke, ich werde sie anklagen..."

Glöckchen machte sich nun zum dritten Mal auf den Weg zu den Kothaufen.

Zitat:

---

Erster Tag nach...Mike.

Auch diesmal haben die Reißer den gerade erst erwählten Leithammel niedergestreckt. Möbius war für viele ein großer Verlust, aber er hat seine Pflicht tapfer und mutig erfüllt. Seine Wahl für den Nachfolger ist auf Mike gefallen. Viele Schafe fragen sich berechtigterweise, wieso es ausgerechnet ihn traf, und was Möbius damit bezwecken wollte.

Am Tage leitete Mike eine Wanderung über unsere Weide, wahrscheinlich um zu überbrücken, dass er keine Ahnung hat, wie er die Herde anführen soll.
Die meisten von uns scheinen bereits müde zu sein, und zu resignieren, denn es war nur eine kleine Gruppe, die das Wort gegen jemanden erhoben haben.
Während das kluge Lamm Glöckchen ihrem Bruder wohl folgen sollte, standen noch Gary und Friedobert zur Wahl, und auch Blanche wurde genannt. Der unentschlossene Leithammel nannte schließlich Friedobert, was diesem nun wohl den Tod bescheren wird. Wir dürfen gespannt sein, was die Wahl des Leithammels bewirken wird.

---

Die Sonne am sinken, am Friedobert am stinken. Das Wort des Leithammels wog schwer, fast so schwer wie der Körper des Schafes als man es zum Zaun stieß. Als man ihm gerade den Gnadentritt ins Gesicht an den Zaun geben wollte, durchströmten auf einmal seine Düfte die Luft. Konzentrierte Liebe erfüllte die Luft. Ob Wolf, ob Schaf, keiner konnte sich für dem Moment der Kraft der Liebe die flog und siegte widersetzen. Für den Tag wurde niemand gehangen, schon gar nicht Friedobert, der sich als Pheromonschaf herausstellte. Bevor sie alle erschöpft, durchgeschwitzt, aber befriedigt in den Schlaf fielen, hatten sie sich alle ganz, ganz doll lieb <3

Die Nacht sollte am 18. Mai abends enden.