Gänseblümchen

Als sie den knapp 30-jährigen Dirk aus dem Keller zogen, hatte er bereits vergessen was er eigentlich getan hatte. Oder tun wollte. Er wusste es nicht.

Sein leicht abgemagerter Körper, welcher nur noch von einer weißen Boxershorts mit braunen Flecken am Hintern bedeckt war, wurde von drei Männern in Uniform über den laubbedeckten Boden getragen und an einem Baum, wahrscheinlich einer Rotbuche, den Blättern in der Krone nach zu deuten, niedergelegt. Dirk sah hinauf in die Krone, schmunzelte kurz und betrachtete, wie die Blätter sanft vom Wind gestreichelt wurden.

Rot...
Buch...
E...

Es dauerte etwas, bis er bemerkte, dass er an einem Baum gelehnt war. Oder hatte er das nicht vorher gewusst? Keine Ahnung, er dachte es zumindest. Er dachte. Das war ihm schon Anlass genug, noch einmal zu schmunzeln. Er blickte um sich. Reges Treiben war entstanden. Vier Polizeiautos, deren Blaulicht selbst um diese Uhrzeit, wahrscheinlich kurz vor zwölf Uhr, förmlich in die Augen stach, standen um diese Holzhütte herum. Wie kommt eine Hütte mitten in den Wald?, fragte sich Dirk kurzzeitig. Dann ein Geistesblitz... Ach sooo, klar, sein Zuhause, stimmt ja. Diese alte vergammelte Dreckshütte, in der er seit zwei Jahren lebte, die von Holzkäfern schon arg angenagt war und nicht einmal richtige Stromversorgung bot außer einem billigen Trafo, den Dirk notdürftig an einen Strommast angeschlossen hatte.

Is glaub ich illegal...?

Sein Blick wanderte auf die größenteils uniformierte Meute, die sein Haus umstellt hatten und ohne ihn zu fragen eintraten. Als würden sie etwas suchen...

...

Florian wachte auf. Was war hier los? Panisch blickte er um sich und bemerkte nicht, dass er bei seinen Worten sabberte, die kurz darauf heraus mussten: "Wer seid ihr??? EY!!! Ich rede mit euch ihr verdammten Hundesöhne! EY!!!" Ja er war wütend. Leicht wütend. Immerhin schien er zum einen in seine Boxershorts geschissen zu haben, zum anderen saß er an diesem Baum und wusste nicht wo er war. Eine blau uniformierte Frau trat näher an ihn heran und fragte: "Was ist denn los? Wir haben Ihnen den Durchsuchungsbefehl vorgelegt, und außerdem haben wir Sie persönlich aus dem Haus geholt. Das müssten Sie doch mitbekommen haben!" Sie... Sie... Sie... immer diese Höflichkeitsformen. Florian wurde sauer. Leicht sauer.

Sie...

"Ich mag dich nicht!", schrie David aus voller Insbrunst. Wo war er? Wo waren seine Eltern? Und warum drangen gerade ein Haufen Mänenr und Frauen, die er nciht kannte, Fremde, blaue Männchen, in Mamas Haus ein?
Er verstand gar nichts mehr, er woltle es nicht verstehen. Er war viel zu jung für so etwas. Für diese Sache... wie nannten es seine Eltern immer? Stress? Ja, Stress. Es war Stress. Das war imemr, wenn Papa nach hause kam und... Nein, er wollte nciht darüber nachdenken.

Papa...

Es war ihm egal. Er kauerte auf dem laubbedeckten Boden herum, heulend, unwissend, in seinem Kopf gähnende Leere, in seiner Hose ein ekelerregendes Gefühl und die Hände voll von irgendwelchem Zeug, das nicht mehr von der Haut wichen wollte.
Wie ein Schlosshund heulte er. Er wollte nach Hause. Er wollte alles, und doch nur seine Ruhe. Als er auf dem Rasen lag und in die Horizontale blickte, sah er eine Blume direkt vor ihm. Vielleicht einen Meter entfernt oder mehr. Er kauerte zu der Blume hin, zupfte sie aus dem unter dem Laub recht trockenen Boden und betrachtete sie. Weiße Blütenblätter, ein gelbes Pollen-dingsbums... wie hieß es noch? Er hatte es wohl vergessen. Langsam stammelte er "Gänse-blüm-chen..." und grinste breit dabei, während die Polizei im Hintergrund die angenagten Leichenteile von zwei seit Monaten gesuchten Kindern aus dem Haus geborgen wurden.

Sie hießen Florian (14) und David Eckelhauber (4).

Und ihr Vater rannte gerade mit Davids Lieblingsblume davon.