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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Isaac Mullen - Puppenhaus



La Cipolla
22.06.2007, 19:33
Da ich mir langsam klar werde, wie die gesamte Geschichte aussehen wird und zudem wieder Lust darauf hab, das drei Jahre alte Stück weiterzuschreiben, wird es Zeit für einen Thread. ^^''





Meine Blicke gleiten den Fenstersims entlang und beobachten jene Schneeflocken, die vom Winterwind durch die Luft gewirbelt werden. Ich stelle mir ihre Gesichter vor, von Furcht verzerrt, aus Angst vor dem Boden, der ihr unausweichliches Ende im grauen Einerlei der Matschmassen besiegeln wird. Kreischend gehen sie auf dem Asphalt hernieder und verlieren augenblicklich ihre Konsistenz. Im nächsten Moment gibt es keinen Hinweis mehr darauf, dass sie jemals existiert haben, die Schreie sind auf ewig verhallt und keine Seele wird sich ihrer erinnern.

Ich halte mir die Stirn und schüttle den Kopf, lächelnd darüber, dass mir solche Gedanken noch immer kommen, Gedanken, die von den meisten Leuten nach der Pubertät verdrängt werden. Ich war keine Ausnahme von diesem natürlichen Schutzmechanismus, gewiss nicht. Jedenfalls nicht bis zu jenem Tag.

Meine Augen wandern wieder zu dem eisigen Schneewetter, denn es weckt Erinnerungen, die ich vielleicht hätte lieber vergessen sollen. Aber das ist nicht meine Natur. Ich bin Wissenschaftler, ich vergesse nicht, ich verdränge nicht. Ich öffne die Augen für alles, was da noch kommen mag, und wenn es noch so schrecklich sein mag.
Lassen sie mich ihnen eine Geschichte erzählen.
Die Geschichte von einer Schneeflocke.
Einer Schneeflocke, die den Boden vielleicht niemals erreichen wird.







- Isaac Mullen -

Puppenhaus




12. November 1998
Zu einer Stunde, in der die Disco-Teenies bereits bewusstlos in ihren Ausscheidungen lagen und die anderen Menschen noch lange nicht vom Aufstehen träumen konnten.


Draußen in der Nacht war es stockdunkel, so konnte ich den Schnee, der leise und rhythmisch vor dem Fenster umherwirbelte, nur erahnen. Ich saß in meinem Zimmer und war verdammt müde. Diese Räumlichkeiten hatten sich ihren Ruf nicht gerade durch peinliche Ordnung erworben, aber in diesen Tagen glichen sie einem Schlachtfeld, einem sehr unordentlichen Schlachtfeld, um genau zu sein.
Es gelang mir, den Blick kurz von dem flackernden Bildschirm und den unzähligen Ausdrucken zu reißen. Das Chaos war erdrückend. Ich kratzte mir am blonden Kinnbart und nahm eine leere Pizzaschachtel, mit dem guten Willen, ein wenig aufzuräumen. Nach einem Blick hinein wurde mir klar, dass irgendjemand auf diesem Schlachtfeld mit Biowaffen hantiert haben musste. Angewidert ließ ich die Pappe fallen und verwarf die Pläne von einem friedlichen Zimmer erst einmal wieder.
Eine einfache Nachricht verhinderte nun schon seit geschlagenen 48 Stunden jeden Schlaf. Es war nur eine E-Mail gewesen, in einem ganzen Schwall von Informationen, die mein Freund Hermann für mich aus den Weiten des Internets gesucht hatte. Wir beide waren Archäologen, aber er war einfach zu faul, um den Spuren, die er fand, selbst nachzugehen. Und, um ehrlich zu sein, waren seine Entdeckungen bis dahin auch äußerst zweifelhaft gewesen.
Der größte Erfolg, den Hermann vorzuweisen hatte, war die Auflösung eines gefährlichen Satanskultes, der sein Unwesen auf dem Westfriedhof getrieben hatte. Ich war der Sache nachgegangen und musste selbstverständlich feststellen, dass es sich bei den vermeintlichen Teufelsanbetern nur um eine Gruppe jugendlicher Gothics handelte. Die Eltern der kleinen Möchtegern-Rebellen waren trotz allem sehr glücklich, als sie erfuhren, wo sich ihre Lieben so die Nacht über herumtrieben. Eine alte Mutter hatte mir sogar eine selbstgetöpferte Blumenvase geschenkt, also konnte man es wohl als Errungenschaft bezeichnen.
Diesmal jedoch war alles anders. Die E-Email bestand aus wenigen unerheblichen Worten Hermanns und aus zwei Anhängen. Der erste zeigte einen alten Kartenausschnitt, der mit den eindeutigen Linien einer Feldkarte des Militärs gekennzeichnet war, der Zweite dagegen war der Scan eines Briefes, das Datum darauf, die Schriftart und auch gewisse andere „subtile“ Hinweise ließen erahnen, dass die Nachricht etwa 60 Jahre alt war.




Sehr geehrter Herr M…
(An dieser Stelle hatte der Zahn der Zeit den Rest des Namens ausgetilgt.)



Ressourcen und Zeit sind zu knapp.

Puppenhaus ist fehlgeschlagen.
(Auch hier mochten ehemals noch ein paar Sätze mehr gestanden haben, aber das Papier war bis zur Unkenntlichkeit vergilbt, nur ein selten glücklicher Zufall hatte die vorangegangenen Zeilen sichtbar erhalten.)


24. September 1942
(Hier retuschiere ich mal den Nazi-Gruß weg, den der zweifelhafte Absender dem mindestens ebenso zweifelhaften Empfänger zukommen ließ, ganz im Geiste seiner Zeit...)
Dr. Gregor Hausmann




Hermann hatte die Dokumente auf dem alten Speicher eines Hauses gefunden und sie nur eingescannt, falls ich tatsächlich Interesse daran haben sollte. Gewiss, es gab genügend Modefaschisten, die solche Gerüchte in den Umlauf brachten, um die Zeit des Nationalsozialismus zu dramatisieren, aber keiner dieser Braunköpfe würde jemals auch nur zugeben, dass das Wort „Puppenhaus“ zu seinem Wortschatz gehörte, selbst in diesem Zusammenhang klang es ja noch lächerlich. Es war viel zu stupide und langweilig, als dass es eine Fälschung hätte sein können.
Ich hatte ein Gespür für interessante Angelegenheiten, und obgleich das eine neue Erfahrung hinsichtlich Hermanns „Entdeckungen“ darstellte, war ich aufgeregt. Seit vier Tagen durchforstete ich nun schon die Bibliotheken, das Internet und alle anderen Quellen, die mir in den Sinn kamen. Ich schickte sogar eine Rundmail mit dem Titel „Puppenhaus“. Als mich die ersten Antworten erreichten, bereute ich es ein wenig.

- Na, Isaac, bist ja auch schon fast 30, wird auch langsam Zeit, dass du dich zur Ruhe setzt und eine Familie gründest. =P
- Aha, Historik nennt man so was also heute? xD
- Puppenhaus nicht, aber ich hab noch ne Kiste Playmobil auf dem Dachboden. ^^’’

Ich lächelte nur verschmitzt. Hätten diese Leute damals gewusst, was es mit dem unglückseligen Namen auf sich hatte, wären ihnen ihre verdammten Smilies in der Tastatur stecken geblieben.

Ich fand letztendlich überhaupt nichts heraus, was meine Vorfreude nur noch mehr steigerte, denn ich wusste, wohin mich das Ganze führen würde. Die einzige Information, die mir zugespielt worden war, stellte eine Kurzbiographie über die Jugend des Doktor Hausmann dar, allerdings mit zweifelhaftem Wert, denn seit Beginn des zweiten Weltkrieges war er wie vom Erdboden verschluckt, wenn es sich überhaupt um den richtigen Hausmann handelte. Zudem konnte ich herausfinden, welchen Fleck die Karte darstellte.
Als am 12. November die Sonne aufging, schlief ich tief und fest. Mein Schnarchen sollte den Nachbarn noch bis zum Morgen des nächsten Tages an den Nerven zerren, denn ich musste wach sein. Nach achtzehn Stunden geruhsamen Schlaf war ich es.
Und ich hatte wieder ein Ziel.



13. November 1998


Der alte VW schleppte sich ächzend durch die Wälder Brandenburgs. Ich war in Gedanken versunken, während die Schneeflocken vor mir die Landschaft in Weiß tauchten. Am Straßenrand hatte sich eine hässliche Matschmauer gebildet, die mich ein wenig an die Alpen erinnerte, aber weiter oben blendete der Schnee förmlich alle Blicke.
Vier Stunden waren bereits vergangen. Die Karte war zwar alt, gewiss, aber ich hatte trotzdem gehofft, das Anwesen zu finden, welches nur durch ein einfaches Viereck mit einer Einfahrt dargestellt worden war. Die Luftaufnahme war eindeutig an diesem Gebäude justiert worden, und so würde es zweifellos einige der offensichtlichen Fragen beantworten können.
Plötzlich schluckte ich, denn mir wurde etwas bewusst. Es konnte durchaus sein, dass das Haus nach dem zweiten Weltkrieg von den Russen enteignet worden war, und ich wusste auch, dass es in den Wäldern eine Menge alter Kasernen aus dieser Zeit gab, die man dann später nach dem Mauerfall einfach verlassen hatte. In den wenigen Momenten, in denen der Brandenburger Wald und die Schneedecke gleichermaßen licht gewesen waren, hatte ich auf dem Weg auch schon die eine oder andere Ruine gesehen, die sich zwischen den Bäumen erhoben hatte, wie eine Warnung der Natur, dass selbst Stahlbeton den Wurzeln und Ranken der Pflanzen nachgeben musste. Ein wenig Pech, und die Geschwister Hammer und Sichel hatten das alte Gebäude vernichtet, um Platz für einen Schießplatz zu schaffen. Ich verzog das Gesicht wegen des dümmlichen Wortspiel und stellte mir vor, wie eine Menge an Leuten (die selbstverständlich alle wie Karl Marx aussahen) mit Sicheln in der Hand auf ein Gebäude einhoben. Dann warf mich etwas aus meinen kommunistischen Träumen und ich bremste den Wagen. Eine Wegbiegung, aber ich erkannte sie, denn sie stellte das winzige Stück Straße dar, welches man auch auf der Karte sehen konnte.

Der Wind pfiff durch die offene Tür, als ich ausstieg und mir den beigen Trenchcoat überzog. Die Haare waren zu einem langen Pferdeschwanz gebunden und unter dem Mantel verborgen, meine Brille ruhte auf der Nase und wurde sofort von einer Schneeschicht empfangen. Resigniert verstaute ich das Utensil in einer Tasche und schloss den Wagen ab. Das Geäst war dicht gewachsen, die auf der Karte verzeichnete Einfahrt war nirgends zu sehen, überhaupt erkannte ich außer Schnee und ein wenig Baum nicht besonders viel. Prüfend verglichen meine Augen die in meiner Hand umherflatternde Karte und die Realität, bis ich schließlich etwas bemerkte. Einige Pflastersteine waren zu sehen, und obwohl sie hauptsächlich dem Moos als Gehweg dienten, waren sie gewiss einmal von Menschen eingelassen worden. Hatte man diese Steine erst einmal entdeckt, war auch zu erkennen, wo der Weg früher entlang geführt hatte, obgleich er nun vollkommen überwuchert war. Ich begann, mich durch das schneebedeckte Dickicht zu kämpfen, denn nun gab es eine relative Sicherheit, dass wenigstens das Anwesen einmal existiert hatte. Hinter mir verschwand der VW langsam aus meinem Sichtfeld und ließ mich einen Schritt zulegen, denn die letzten Sonnenstrahlen würden sich nicht mehr lange halten. Zur Sicherheit hatte ich noch ein Sturmfeuerzeug und einige andere nützliche Sachen eingesteckt, die mir schon mehr als einmal geholfen hatten.
Der Weg war beschwerlich, in der Vorstellung kämpfte ich mich nach einiger Zeit nur noch mit Tropenhut und Machete durch einen tiefen Dschungel. Die Realität hatte zum Glück weder giftige Pflanzen noch exotische Tiere zu bieten, aber die verworrenen Äste und Bäume sowie der eisige Wind waren ebenfalls eine ordentliche Herausforderung. Dann verschwand die obskure Intention eines Indiana Mullen ebenso ruckartig wie sie gekommen war, denn ich erkannte hinter dem Schneefall eine dunkle Silhouette, die sich gen Himmel streckte. Ich beeilte mich, denn die Neugier hatte meine Schritte beflügelt.
Dann sah ich es.
Auf der Karte war das Anwesen, das ich in Gedanken Puppenhaus nannte, nur ein schraffiertes Viereck. In Wirklichkeit aber war es eines der schönsten Gebäude, die ich jemals gesehen hatte. Man konnte den Barockbau etwa in das 17. Jahrhundert schätzen, die großen Fenster und reich verzierten Fassaden zeugten von Prunk und vom Reichtum des Besitzers, aber auch vom ästhetischen Verständnis des Bauherrn. Oben auf den Giebeln wachten steinerne Wasserspeier über das Dach, lange, marmorne Säulen hoben sich über alle drei Etagen empor und eine dunkle Treppe führte graziös hinauf zur Hauptpforte.
Plötzlich zuckte ich zusammen, denn etwas berührte mich an der Schulter. Ich wollte gerade beiseite springen, als ich realisierte, was der Grund meiner Angst gewesen war. Neben mir stand eine große Statue, beinahe drei Meter hoch, auf einem marmornen Sockel mit seltsamer Ornamentik. Die Furcht war verschwunden, und stattdessen übernahm Verblüffung ihren Part. Das Bildnis zeigte eine Frau, die ihre Arme zum Himmel ausgebreitet hatte. Wallende, marmorne Haare bedeckten schwungvoll den ganzen Körper und stilisierte Tränen liefen ihr aus den leeren, aber sehnsüchtigen Augen. Ich war außer mir, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Obwohl die Gestalt mit Sicherheit eine Göttin darstellte und gewisse engelsgleiche Züge aufwies, fehlten ihr die typischen Merkmale, um dem Geist eines christlichen Bildhauers entsprungen zu sein, auch sonst war mir keine Religion bekannt, die solche Götzen verehrte. Die Reise hatte sich bereits jetzt gelohnt. Als ich mich von dem ersten Schock erholt hatte, realisierte ich, dass die weinende Frau nicht alleine war. Der Weg hin zum Anwesen war durch drei solcher Statuen begrenzt, und ein zerstörter Sockel ließ vermuten, dass es einmal vier gewesen sein mussten. Teilweise waren die Bildnisse schon stark angeschlagen, über den Körper der einen hatte sich eine dicke Moosdecke gelegt, einer anderen fehlte der linke Arm. Ich schüttelte in meiner Verwunderung den Kopf und machte mich auf den Weg zur Marmortreppe.
Die ebenhölzerne, kunstvoll gefertigte und reich verzierte Tür hatte der brachialen, über Jahrtausende hinweg perfektionierten Arbeit einer Brechstange nicht viel entgegenzusetzen. Ich nickte zufrieden, als sich die Flügel beiseite schieben ließen, mit einem Geräusch, das niemals das Öl gekannt hatte. Hinter mir schloss ich die Pforte wieder und sperrte so den eisigen Wind aus, woraufhin sich eine gespenstische Stille über die Eingangshalle legte, in der ich mich befand. Die Vorhänge an den riesigen Fenstern bewegten sich leicht und schützten so den Innenraum an den Stellen, wo das Glas gebrochen und auf dem Boden verteilt war. Es wurde bereits dunkel und ich hatte die Kontur einer alten Petroleumlampe in einem kleinen Schränkchen erkannt. Ich nahm eine Flasche aus dem Schrank. Obgleich das Etikett uralt war, bestätigte es meine Vermutung. Im Schein der allerletzten Sonnenstrahlen füllte ich den Alkohol in die Lampe und entzündete den Blechleib mit dem Sturmfeuerzeug.
Das Licht schwappte durch den Raum und hüllte ihn in einen unheimlichen Glanz. Wie ich aufgrund des Knarksens unter meinen Füßen schon vermutet hatte, bestand der Boden aus uralten Holzdielen, die an manchen Stellen schon vermodert waren und einen Blick auf das Fundament freigaben. Der Raum war gewiss sieben Meter hoch, und neben einem großen, mit Spinnenweben bedeckten Kronleuchter war es vor allem der Kamin, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Betrat man das Anwesen, stand man auf einem weinrot-goldenen Teppich, der bereits an vielen Stellen zerschlissen war, und schaute direkt auf das Marmorgebilde an der gegenüberliegenden Wand. Links und rechts schlängelten sich zwei Treppen nach oben auf einen Absatz, der sich noch in Dunkelheit hüllte. Der Kamin war eine beeindruckende Arbeit, der Kopf eines Hundemonsters starrte den Besucher bösartig an, seine Tatzen begrenzten die Feuerstelle auf drohende, unmissverständliche Weise. Ich ging leise darauf zu und hinterließ bei jedem meiner Schritte eine Fußspur in der Staubschicht.
Seit wie vielen Jahren war ich wohl der erste Mensch, der dieses Anwesen von innen begutachten konnte?
Ein näherer Blick auf den Kamin beantwortete diese Frage, denn der letzte Haushalter hat ein, im Vergleich zu der edlen Arbeit des Marmorflammenstuhls, lächerliches Ornament hineinschlagen lassen. Es mutete beinahe abstrakt an, wie der Reichsadler direkt unter der Fratze des Hundegeschöpfes im Marmor lag, das Hakenkreuz direkt darunter. Wären die Kommunisten die letzten Besitzer gewesen, hätte man die faschistische Symbolik gewiss nicht toleriert, und sei es nur, um den kunstvollen Kamin wieder ins linke Licht zu rücken.
Trotz dieser Verschandelung waren die ersten Fragen beantwortet, irgendein Nazi-Oberer hatte also seine schwammigen Füße zuletzt auf diesem Teppich ausgestreckt, kein schwammiger SED-Parteifunktionär, wie ich erst erwartet hatte. Dann fiel mir noch etwas auf. Gleich über dem Kamin hing die dunkle Tapete von der Wand und hielt den Blick des Betrachters auf einem Vers fest, den eine scheinbar ungeübte Hand mit einem spitzen Gegenstand in das Holz geritzt hatte.

Die kleinen Mütter sind längst erloschen, aber wenn die große Tochter wieder strahlt, wird es hell im Puppenhaus.

Ich runzelte die Stirn. Was für eine verworrene Situation, erst das Gebäude im Barockstil, dann Nazi-Ornamente im Kamin und nun mystische Sprüche darüber. Meine Vermutung, dass dieses Gebäude tatsächlich den Beinamen Puppenhaus trug, bestätigte sich, obwohl es den Grund noch herauszufinden galt.
Es war ein Rätsel.
Ich war schon immer ein illusionierter Junge gewesen, aber in diesem Moment versiegte der Glaube an einen Kinderreim und ich war mir vollkommen sicher, dass jener Vers ein Geheimnis barg. Mit der großen Tochter war angesichts des Fundortes wohl der Kamin gemeint, wenn auch zu bezweifeln war, dass man ihn entzünden sollte. Ich stutzte. Der Gedanke hatte mich einen Blick auf die Feuerstelle des Kamins werfen lassen, aber nun bemerkte ich, dass hinter dem schwarzen, kleinen Gitter nicht einmal mehr Rußspuren waren. Entweder war das Gebilde nur zur Dekoration, oder aber es steckte mehr hinter dieser Angelegenheit. Nachdem ich alles an dem Marmorkonstrukt noch einmal gründlichst und ohne Ergebnis untersucht hatte, ließ ich den Blick durch das Zimmer schweifen.
Die kleinen Mütter… Eine Couch für Besucher stand da, ebenso zwei Bücherregale und einige Hocker. Nichts davon passte in meinen Gedanken zu den kleinen Müttern, nicht einmal mehr die Fenster. Trotz allem ignorierte ich die Türen, welche mich in weitere Gemäuer führen würde, dieses Rätsel würde zuerst eine Antwort bekommen. Die Schritte halten leise wieder, als ich die Treppe emporstieg, dann stoppte ich. Auf dem Absatz war eine weitere Doppeltür, wundervoll verziert. Meine Logik jedoch behauptete, dass dies völlig unmöglich war! Sofern ich es von draußen erkennen konnte, war das Puppenhaus nicht sonderlich lang gewesen, und in welchen Raum diese Türen auch immer führten, er konnte nicht sonderlich groß sein, was vor allem in Anbetracht der wunderbaren Pforte seltsam schien. Ich beschloss, erst einmal bei einem Geheimnis zu bleiben und schaute mich um. Wieder einige Hocker, wieder zwei Regale, nichts besonderes, einige Gemälde, deren Maler mir alle fremd waren. Allerdings…
Ich schritt zu der Wand und stellte mich auf die Zehenspitzen, um die kleinen Lampen näher zu betrachten, welche daran angebracht waren. Ich war verblüfft, als ich in ihnen eine Lunte erkannte, die in einer langen Messingschale aus der Wand ragte. Kurz entschlossen entzündete ich beide Lichter, abermals mit Alkohol und Feuerzeug.
Ich war enttäuscht, dass nichts geschah, bis ich ein leises Zischen hinter der Wand hörte.
Dann schien das ganze Haus zu beben.
Panik ergriff meinen Verstand, denn welchen Mechanismus ich auch immer in Gang gesetzt hatte, er war gewiss nicht so geplant, dass das marode Haus ihm standhalten konnte. Nach einigen Sekunden jedoch atmete ich erleichtert aus, obwohl ein wenig Putz auf mein Haupt gerieselt war. Erst war nicht zu erkennen gewesen, was nun eigentlich stattgefunden hatte, doch dann erinnerte ich mich des Verses und eilte die Treppe hinab. Der Kamin brannte. Oder besser gesagt, er brannte nicht. Im Kopf des Hundemonsters war eine Flamme entzündet worden, die sein Gesicht in einen noch bedrohlicheren Ton tauchte. Dort, wo jeder vernünftige Mensch eigentlich die Feuerstelle vermutet hätte, klaffte nun eine Treppe, die in die Dunkelheit führte. Die Tatzen des Monsters hatten sich einladend nach außen gewunden, als sei es eine Belohnung für die Lösung dieses Rätsels und ich musste grinsen. Dieses Anwesen wurde immer interessanter, und meine Verwirrung wich der Neugier.

Vorsichtig, mit der Petroleumlampe voran, schritt ich die Treppe hinab. Die Wände waren aus Beton gegossen, und so lag die Vermutung nah, dass sie nicht halb so alt wie der Rest des Gebäudes waren. Plötzlich stieß meine Zehnspitze gegen etwas, vor Schreck glitt mir das Licht aus der Hand. Es polterte mit einem gewaltigen Echo die Stufen herab und erlosch dann.
Stille.
Eine ungewisse Angst erfüllte meine Gedanken, das erste Mal, seit ich dieses Haus betreten hatte. In der Dunkelheit wurde mir klar, dass ich nicht einmal wusste, was ich hier unten suchte, und dieser Gedanke, oder eher der Gedanke daran, was ich finden würde, ließ einen kalter Schauer über meinen Rücken laufen. Dann lächelte ich jedoch, in der Gewissheit, dass mich keine Angst der Welt hiervon abhalten konnte. Langsam führten mich meine Schritte weiter in die Finsternis hinein, bis die Treppe schließlich endete. Mein Fuß berührte die Lampe. Ich bückte mich und wollte sie aufheben, als ich plötzlich eine Leitung ertastete. Verwirrt entfachte ich das Sturmfeuerzeug und staunte bei dem Anblick, denn die armbreiten Kabel kamen aus der Wand und führten… Ich erstarrte.
Und wenn ich das Wort „erstarren“ in dieser Erzählung bisher schon einmal verwendet haben sollte, war es ungebracht, denn in diesem Moment konnte ich nicht einmal mehr atmen.
Vor mir erhob sich ein riesiges, metallenes Konstrukt, es mutete im flackernden Schein des Feuerzeuges wie ein Milchtank an. Allerdings hätte man eine sehr, sehr große Kuh benötigt, um den Behälter zu füllen, und so verwarf ich den absurden Gedanken schnell wieder. Die Leitungen, welche aus dem ganzen Haus zu kommen schienen, führten an allen Enden in den Kanister, aber das seltsamste war die grünliche Fläche, die vor langer Zeit einmal eine Scheibe gewesen sein mochte. Ich ging näher heran und mein ganzer Körper zitterte, als ich die Hand auf das Glas legte. Es war so verkrustet, dass man kaum hindurch schauen konnte, ein fester Metallrahmen mit dicken Nieten hielt es an dem Tank. An manchen Stellen hatte das Unkraut bereits die Betonschicht überwunden und wuchs mit den Wurzeln zwischen den Spalten und Ecken hervor.
Ich strich langsam die Staubschicht bei Seite, stolperte dann aber mit einem unterdrückten Schrei zurück.
Zwei geschlossene Augen, eingebettet in blasse Haut und lange Haare, die wie Tentakel durch die grüne Flüssigkeiten quollen. Ein paar weitere, vorsichtige Bewegungen offenbarten, was ich befürchtet hatte. Ein kompletter Körper war in den Tank eingelassen, ein Mädchen, das bei ihrem Tod vielleicht zehn Jahre alt gewesen war. Ich wollte mich umdrehen und dieses obskure Gruselbkabinett so schnell wie möglich wieder verlassen, als mich ein Gefühl ergriff. Es gab keine rationale Überlegung und in diesem Moment auch keine Angst. Entschlossen hob ich eines der Schuttteile vom Boden auf und rammte es unter lautem Krachen in die Glasscheibe. Jegliche Flüssigkeit schwoll wie Blut aus dem Kanister und benetzte meinen Arm, bevor sie zwischen den Ritzen des Bodens und dem Unkraut verschwand. Die Gestalt des Mädchens fiel aus ihrem Gefängnis und lag reglos auf dem Boden. Ich wollte den Blick abwenden, doch es gelang mir nicht.
Dann, nach einigen endlosen Augenblicken, geschah, was ich wohl in meinem tiefsten Inneren gehofft hatte, obgleich natürlich der logische Aspekt in meinem Kopf dagegen gesprochen hatte.
Sie öffnete langsam ihre Augen und starrte mich an. Striemen der grünen Flüssigkeit liefen an ihr herab, die Haare hingen nass über den Schultern und ihr Körper zitterte wie ein Fisch an der Angel. Ich half ihr auf die Beine und legte schnell meinen Mantel ab, um dem Mädchen das weiße T-Shirt überlassen zu können, das ich trug. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie etwas sagen wollte, aber kein Laut verließ den Mund. Das Hemd war lang genug, um ihr über die Knien zu fallen, und kurz darauf hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Mir selbst wurde die Situation immer unangenehmer, denn mir war der zweite Tank nicht entgangen, der im hinteren Teil des Labors gestanden hatte, offensichtlich aber schon seit Jahren nur noch aus verbogenem Metall und zersplitterten Glas bestand.
„Du bist… sicher.“, sagte ich mit einem Ausmaß von fehlender Überzeugung, das sogar einen Optimisten ins Zweifeln gebracht hätte, einfach weil mir weiß Gott nichts anderes einfiel, was ich in diesem Moment hätte sagen können. Bald verstand man ihr Flüstern, und meine Augen weiteten sich, als sie mich anschaute und in mein Ohr sprach, als sei ich ein alter Freund.
„Ihr seid … zurückgekehrt.“, sagte sie mit Freude auf dem blassen Gesicht, „Ist der Krieg vorbei … Kommandant Mullen?“




Fortsetzung folgt... bei Interesse. :rolleyes:

Mordechaj
25.06.2007, 20:08
Ich hatte mir das jetzt mal ausgedruckt, weil ich nich so lange Sachen per PC lesen mag und ich sowieso mal kurz in anderer Leute Gedanken flüchten wollte. Das mich aber sowas erwartet...

Das ist wirklich ganz große Literatur. Dein Schreibstil ist nahezu perfekt und das Setting scheint so ausgeklügelt, wie das eines Hohlbeinromans (mit fällt grad kein besseres Beispiel ein), wenn nicht sogar noch besser!

Du hattest mich theoretisch schon mit den ersten Zeilen, wo du über die Schneeflocken philosophierst. Dieser Ausdruck von Vergänglichkeit ist wirklich 1a umgesetzt. Als ich dann aber mit dem Dokument, das Mullen findet, durch war, war ich an dem Punkt angekommen, an dem man einfach weiterlesen muss. Das Folgende ist auch einfach nur packend, auch, wenn es zum Ende hin leicht ins Surreale ausufert (für meinen Geschmack etwas zu phantastisch, aber das sollte dich jetzt nun wirklich als letztes stören).
Trotzdem: Ich befinde mich grad noch im Delirium der Spannung - und das hatte ich das letzte Mal, als ich mitten in "A la folie .... pas du tout" (wird jetzt sicher jedem was sagen :rolleyes: und ist selbst dann noch dir übelste Sorte von Geschmackssache) erstmal essen gegangen bin.

Dein Ausdruck ist wirklich das notorische Balsam für die Seele. Deine Worte sind gewählt wie selten in so mancher Dan-Brown-Nacheiferung (und hey, die deutschen Romanübersetzer sind echt gut!) und ich komme nicht umhin, deine unheimlich klare Syntax zu loben (ja, ich lobe jetzt einfach mal freimütig deine Syntax...punkt). Deine Sätze sind klar strukturiert und man kommt nur an - meinem Empfinden nach - zwei Stellen zum stolpern, ansonsten sind sie wunderschön aufgebaut und der Textfluss ist liquide (flüssiger Textfluss hätte doof geklungen ;) ) genug, um die Schilderungen hungrig zu verschlingen.

Große Literatur! Ich kann nur jedem empfehlen, den Text zu lesen.


Ich möchte dennoch ein paar Kritikpunkte ansetzen, die weniger Kritik, als kleine suggestive Hinweise sind. Also nimm mich nicht zu ernst und es ist sowieso nich viel.


Zu einer Stunde, in der die Disco-Teenies bereits bewusstlos in ihren Ausscheidungen lagen und die anderen Menschen noch lange nicht vom Aufstehen träumen konnten.
Der Satz ist zwar nicht unbedingt unstimmig und unpassend, aber mich persönlich verwirrt er arg. Ich hab eben den wirklich sanft einstimmenden Prolog gelesen und jetzt lese ich soetwas. Für mich erfüllt das auch keine wirkliche Funktion im Text - wenngleich es dem Satz an leicht anklingender Originalität nicht fehlt, ist er doch ein wenig zu krass für meine Sicht.


Draußen in der Nach war es stockdunkel,...
Das ist jetzt wirklich Krümelkackerei, aber einerseits sage ich mir, dass die Nacht nicht nur draußen vorherrscht und andererseits, dass die Nacht meist die Eigenschaft des Dunklen birgt. Vielleicht könnte man das noch etwas anders formulieren, aber wie gesagt, das ist eher Kleinkram.

Ausdrucksmäßig gibt es einige Dinge bei der Schilderung des "Puppenhauses".

Man konnte den Barockbau etwa in das 17. Jahrhundert schätzen,...
Hier nur ein kleiner Augenmerk. Man kann das ruhig so stehen lassen, ich bin ohnehin ein Fan von etwas unkonventionellen Ausdrücken. Du solltest aber aufpassen, dass du die Verben trotzdem mit den obligatorischen Präpositionen anschließen lässt. Aber etwas in eine Epoche schätzen ist denke ich sehr bildlich und deshalb ganz toll eigentlich =).

Die Furcht war verschwunden, und stattdessen übernahm Verblüffung ihren Part.
Auch hier nur ein Augenmerk. Ein Part beschreibt ja meistens einen Vorgang oder eine Handlung. Hier könnte der überaufmerksame (anders gesagt: der krümelkackerische) Leser meinen, dass die Verblüffung jetzt weiter das Gefühl der Furcht erzeugt - vielleicht verstehst du, was ich meine. Mein Vorschlag wäre, "den Part übernehmen" (was eigentlich schon wieder so schön unkonventionell ist *schwelk*) durch "ersetzen" oder ähnliches auszudrücken.
Man liest im gesamten Abschnitt über die "reich verzierten Fassaden", die "reich verzierte Tür" und ständig wieder marmorne Objekte. Das lässt ein leicht eintöniges Bild vom "Puppenhaus" entstehen und schafft vielleicht auch Verwirrung. Ich kenn mich jetzt weder mit Geologie noch mit Architektur blendend aus, aber vielleicht könntest du - so doof das jetzt klingt - noch andere Gesteine und auch andere Details mit hineinbringen, vielleicht auch ein wenig auf die Musterung eingehen und die reiche Verzierung etwas ausschmücken. Der Abschnitt bietet noch viel Raum für einige Schilderungen, da er im Grunde eine wirklich ungemein passende Länge besitzt. Du hast hier noch den Vorteil, dass du den Leser auf beeindruckend brilliante Weise zuvor in deinen Text gebannt hast und er töricht wäre, sich jetzt vom Lesen ablenken zu lassen. Diesen Vorteil kannst du nutzen, um ihm ein genaueres Bild vom Haus zu geben, ohne, dass ihm das arg so schnell langweilig werden würde.
Du schreibst außerdem einmal "eine dunkle Treppe" und machst dich dann auf den Weg zur "Marmortreppe". Nun kann Marmor zwar auch dunkel sein, aber man verbindet meiner Meinung nach damit eher das weißliche Gestein. Deswegen hat mich diese Stelle auch stutzig gemacht - vielleicht kannst du auch hier nochmal etwas näher darauf eingehen?

Was ich mir sonst noch so markiert habe (ja, ich habe Markierungen gemacht! haha!) sind nur kleinere Faselfehler in der Rechtschreibung (die ja nun wirklich mal göttlich gelungen ist meines Erachtens nach - ich wär froh, wenn mein Geschreibsel halb so fehlerfrei wäre, wie dieser Text da!) oder wo statt einem Komma vielleicht ein Punkt ganz gut passen würde.

Ich muss es einfach nochmal sagen: Große Literatur.


Fortsetzung folgt... bei Interesse.
Bei Interesse? Ich verglühe...

La Cipolla
25.06.2007, 21:34
Ich bin am Schreiben, das Projekt liegt mir nämlich am Herzen, aber auf die umfangreiche Kritik muss ich doch erstmal eingehen. xD''

Was den Surrealismus angeht... Sagen wir mal so, die Geschichten um Isaac Mullen sind halt Geschichten in unserer Welt und unserer Geschichte, allerdings leicht verändert mit einem kleinen Klecks von Fantasie. Ist bekanntlich ein Trend, Brown hast du ja erwähnt, aber gut find ich die Mischung trotzdem.
Hier, muss man dazu sagen, haben wir abgesehen von der Auflösung auch die "phantastischste" Szene der Geschichte erlebt, und sie ist auch mit Absicht so mystisch gehalten. ^^''
Ebenfalls Absicht ist der desillusionierende erste Satz nach der Einleitung. :rolleyes: Natürlich zerstört es die Atmosphäre, aber das ist genau die richtige Reaktion, man soll eben nicht zu dem Fehlschluss kommen, der Text sei todernst.

Den Rest überlese ich nochmal, danke der Hinweise, werden beherzigt, vor allem die Beschreibungen der Schauplätze.

Marmor gibt es fast in allen Farben. Weiß und schwarz sind nur die gebräuchlichsten, weiß das bekanntere. ^^''
Ich glaub, ich poste heute oder morgen noch. Allerdings bin ich sehr gespannt, ob die Meinung(en) noch umschwenken, denn die Ausgangssituation ist gerade erst etabliert und da passiert nun noch einiges in Richtung andere Atmosphäre. Mal sehen.

La Cipolla
25.06.2007, 23:44
„Ihr seid … zurückgekehrt.“, sagte sie mit Freude auf dem blassen Gesicht, „Ist der Krieg vorbei … Kommandant Mullen?“
Ich wich erschrocken zurück.
„Ich… Ich bin kein Kommandant, sondern Archäologe. Aber mein Name ist Mullen, Isaac Mullen.“
„Wo ist der Kommandant?“, fragte sie verwirrt, „Wo ist … Siegfried Mullen?“
„Ich kenne keinen Siegfried Mullen.“, war meine ehrliche Antwort. Entweder war es ein sehr entfernter Verwandter oder einfach Zufall. Mein Stammbaum war mir in diesem Moment reichlich egal, es gab wesentlich größere Rätsel zu lösen. Ich verdrängte die Frage nach dem Krieg vorerst, auch wenn diese Überlegung ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hervorrief, das Mädchen schien schon enttäuscht ob der Tatsache, dass ich nicht ihr „Kommandant“ war.
„Wie ist dein Name?“, fragte ich schnell.
„Agatha.“
Wer zur Hölle nannte sein Kind Agatha? Aus irgendwelchen Gründen war das genau die Bezeichnung, die ich mit einer alten Frau assoziierte, die mir in meiner Kindheit immer den Fußball gestohlen hatte. Das war allerdings schon zwanzig Jahre her und ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dieser Name sei inzwischen ausgestorben.
„Was ist das hier? Und warum warst du in diesem Container?“, sprudelte es aus mir heraus. Agatha hielt sich den Kopf und schüttelte ihn dann vorsichtig im Schein des schwächer werdenden Feuerzeuges.
„Ich erinnere mich nicht mehr…“
„Ich verstehe… Lass uns erst einmal nach oben gehen. Bald ist es hier wieder stockdunkel.“
Sie nickte verängstigt und folgte mir zu der Treppe. Seltsam. Dieser Siegfried Mullen musste sehr wichtig für sie gewesen sein, wenn sie trotz ihrer Amnesie seinen Namen noch wusste. Oder aber sie hatte mich tatsächlich mit ihm verwechselt. In jenem Fall sollte ich meine Ahnenliste nach diesem kleinen Ausflug vielleicht doch einmal etwas genauer unter die Lupe nehmen. Was zur Hölle geschah hier überhaupt?
Jede Stufe zurück in den Kaminsaal machte mir klar, wie obskur die Situation eigentlich war. Die Petroleumlampe ließ sich erst entzünden, als wir fast wieder oben waren, und so wandte ich mich noch einmal um. Das Wort „Lagerraum“ kam mir in den Sinn, ein wenig makaber in Anbetracht der Dinge, die man dort unten gelagert hatte. Während ich in Gedanken noch über Raumbezeichnungen philosophierte, drang plötzlich ein leises Klacken an mein Ohr. Agatha war vorgelaufen und schaute verwundert zu Boden, als die Stufe unter ihren Füßen einen Finger breit herabsank. Bevor wir irgendwie reagieren konnten, erklang ohrenbetäubendes Donnern, dann erfüllten die Flammen einer Explosion den Gang und schleuderten mich hinauf. Ich riss das Mädchen ungewollt mit mir und knallte unter gewaltigem Scheppern quer durch den Kaminraum in die Flügeltüren des Gebäudes. Schmerz schoss durch mein Rückgrat, als ich vor der Treppe wieder auf dem Waldboden aufkam und sich die Holzsplitter auf dem Vorplatz verteilten.
„Alles in… Ordnung?“, quälte ich mir hervor, und das Mädchen, dass nur verwirrt in die zugewachsene Schneelandschaft starrte, nickte traumatisiert. Natürlich war alles in Ordnung. Immerhin war sie auf mir gelandet, nachdem ich den „Weg“ durch die Eingangstür bereits mit meiner Wirbelsäule freigemacht hatte. Ihr Körper zitterte, als sie langsam zwischen den Statuen hindurch schritt, die den Hof des Puppenhauses säumten.
„Was ist hier geschehen?“, fragte sie nur.
„Nichts. Jedenfalls nicht in den letzten Jahrzehnten, Kleine. Wärst du so nett, mir aufzuhelfen? Ich würde gern wissen, wieso ich gerade durch die Eingangshalle geschleudert wurde.“
Das Mädchen realisierte jetzt erst, dass die Penetration einer Holzpforte nicht zu den angenehmsten Dingen im Leben eines Mannes gehörte, und stützte mich bei dem Versuch, aufzustehen. Offenbar war wenigstens nichts gebrochen, die Schmerzen hielten sich in Grenzen.
„Lass uns hinein gehen.“
Ich tat einige Schritte, bemerkte dann aber, dass sie mir nicht folgte. Die Augen der Kleinen waren auf das Anwesen gerichtet, ihr Mund stand offen, als sähe sie einen manifestierten Alptraum.
„Agatha! Komm schon, hier ist es kalt, aber verschwinden können wir später immer noch. Komm mit rein.“
Mein Ruf holte sie aus der Starre. Bald nickte das Mädchen widerstrebend.
„Die Fenster sind… kaputt.“, bemerkte sie, „Und der Putz ist abgebröckelt.“
„Und?“, fragte ich nur und klopfte mir dabei den Schnee vom Mantel.
„Haben sie Bomben auf uns geworfen?“
Unwillkürlich zuckte mein Körper zusammen. Ich erinnere mich heute noch gut, dass mir in diesem Moment völlig klar war, dass ich kein gewöhnliches Kind vor mir hatte, auch wenn mein Verstand natürlich noch ein wenig länger nach logischen Erklärungen suchte.
„Vielleicht…“, antwortete ich vorsichtig, „Ich bin gerade erst hier angekommen.“
Wir betraten abermals den Kaminsaal. Agathas Blicke wanderten durch den Raum, ihre Füße hinterließen Abdrücke im Staub. Der geheime Eingang im Kamin war völlig verschüttet, drumherum lagen Trümmer und nur die steinerne Bestienfratze glotzte noch immer von ihrem kaputten Sockel, als hätte ihr ein sadistisches Herrchen Drogen in den Napf getan. Ich erinnerte mich an den Mechanismus, den das Mädchen beim Verlassen ihres Gefängnisses in Kraft gesetzt hatte. Offensichtlich war irgendjemand bestrebt gewesen, diesen Raum zu vernichten, sobald Agatha nicht mehr darin weilte, mein Gewicht auf dem Hinweg hatte schließlich nicht genügend Stoff für eine Explosion geliefert, und das lag gewiss nicht an guter Ernährung oder dem leidlich trainierten Körper eines Archäologen.
„Wir haben oft am Kamin gesessen.“, sprach das Mädchen plötzlich. Ihre Augen weilten in der Ferne.
„Hm?“
„Er hat uns Geschichten erzählt. Der Kommandant hat uns wunderschöne Geschichten erzählt.“
„Wen… meinst du mit ‚wir’, Kleine?“, traute ich mich zögerlich nachzufragen.
„Ich… weiß es nicht mehr.“
Eine einzelne Träne verließ ihr Auge.
„Ich bin nicht dumm, Herr Mullen. Ich sehe, dass wir hier alleine sind. Ich sehe auch, dass hier… lange niemand mehr war. Ich weiß nicht, wer sie sind… Sie tragen einen jüdischen Namen, sehen aber aus wie der Herr Kommandant. Und es ist Winter.“
„Winter…?“, fragte ich nach, den Rest ihres Wortschwalls erst langsam verarbeitend.
„Als ich die Augen geschlossen habe…“, flüsterte Agatha, „Hat die Sonne geschienen.“
Sie wandte sich ab und eine Traurigkeit erfüllte mein Gemüt.
„Wir haben den Krieg verloren, nicht wahr?“
Bevor ich etwas erwidern konnte, fuhr sie fort.
„Der Führer ist tot. Die Russen haben uns überrannt. Der Kommandant meinte, so würde es kommen. Ich habe ihm nicht geglaubt, aber er hat nur gelächelt. Genau so, wie sie vorhin gelächelt haben.“
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, als das Mädchen mit Schluchzen begann.
„Wie lange ist es her?“, schrie sie, dass es von den Wänden widerhallte, „Fünf Jahre? Zehn? Der Kommandant meinte, ich würde erst wieder aufwachen, wenn die Gefahr vorüber ist!“
„Agatha!“, stoppte ich den Monolog und legte ihr die Hände auf die Schultern, „Reiß dich zusammen. Der zweite Weltkrieg ist seit über sechzig Jahren Geschichte! Die Nazis sind zerschlagen, es gibt keinen Grund mehr, Angst zu haben.“
Die Worte, die meinen Mund verließen, erschienen mir selbst ein wenig lächerlich, aber ein einziger Blick in die entsetzten Augen des Mädchens ließen mich alle Zweifel in Richtung Vernunft vergessen. Was auch immer mit ihr passiert war, ihre Geschichte war zu mindestens nicht ausgedacht. Nicht, dass jener Umstand das Ganze vernünftiger machen würde, aber er half mir, sie nicht auf der Stelle auszulachen.
„Sechzig Jahre…“, wiederholte Agatha ungläubig.
„Der Rest der Welt hat das Regime einfach unter sich begraben, wie zu erwarten war, wenn man einen Krieg an mehreren Fronten führen möchte. Hitler hat sich erschossen. Auch wenn einige Spinner meinen, er würde irgendwo mit Elvis und Einstein an einem Tisch sitzen und seinen Schnurrbart verspielen.“
„Elvis…?“, fragte sie misstrauisch, „Ist das ein Amerikaner?“
Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Dieser Versuch, die Situation ein wenig aufzuheitern war daran gescheitert, dass Agatha die letzten 60 Jahre in einem überdimensionalen Milchtank verbracht hatte, jedenfalls schien es so.
„Ja. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sich die Mädchen auf ihn geschmissen haben, als er endlich hier war.“, grinste ich ihr ins Gesicht.
„Hat er… den Krieg gewonnen?“, hakte sie verblüfft nach und ich musste lachen.
„Nein, Agatha, nicht wirklich. Er war Musiker. Ich habe ihn nur in einem Atemzug mit Hitler genannt, weil beide wohl häufiger gesehen werden als das Monster unter dem Kinderbett, und das obwohl sie seit Jahrzehnten tot sind.“
Einen kurzen Augenblick glaubte ich, ein Lächeln in ihrem Mundwinkel zu erkennen, dann wurde das Mädchengesicht wieder ernst.
„Für diese Worte hätte man sie erschießen können.“
„Richtig, hätte man. Aber heute sperren sie lieber Leute ein, die Hitlers Überreste immer noch zu lieb haben.“
„Wer sperrt solche Leute ein? Die Kommunisten?“
„Nein.“, grinste ich, „Die sind inzwischen auch schon wieder verschwunden, haben sich aber ein wenig länger gehalten.“
Sie schwieg und zog ein altes Paar Hauslatschen aus einem Schutthaufen.
„Ich kenne diese Schuhe.“
Die Sohle fiel ab und ließ eine weitere Staubwolke aufwirbeln, das Mädchen schlüpfte trotzdem hinein.
„Warum lebe ich noch?“
Ich wusste keine Antwort und sondierte stattdessen den Raum. Ich würde dieses Haus nicht verlassen, bis ich ihr die Ungewissheit genommen hatte, und sei es nur aus rein egoistischem Wissensdurst. Andernseits tat sie mir wirklich leid. Was auch immer geschehen war, Agatha hatte in einer einzigen „Nacht“ ein halbes Jahrhundert Menschheitsgeschichte verpasst. Hoffentlich hat sie wenigstens schön geträumt, schoss es mir makabererweise durch den Kopf.
„Die Küche.“, sagte das Mädchen plötzlich, „Ich erinnere mich an Geschirr.“
„Muss im dritten Reich ja ein unglaublich belustigender Küchendienst gewesen sein, wenn es das erste ist, das dir nach sechzig Jahren wieder einfällt.“, spöttelte ich, aber sie starrte mich nur ausdruckslos an, als wäre ihr Humor völlig fremd.
„Ich habe einfach nur die Tür gesehen.“, war die ernüchternde Antwort mit einem Fingerzeig auf eine Pforte links vom Kaminsaal. Mir fiel auf, dass Agathas Haare nicht, wie ich zuerst gedacht hatte, blond waren, sondern heller, beinahe weiß wie bei einer alten Frau. Vielleicht eine Nebenwirkung ihrer „Lagerhaltung“. Gemeinsam betraten wir die Kochstube, die Tür machte nicht nur keinen Widerstand, sie fiel beinahe aus der Halterung, als ich sie mit sanftem Druck einschüchtern wollte. Beinahe alles, was vom flackernden Licht der Lampe erhellt wurde, war zerstört. Die Tische in Trümmern, zerstörtes Porzellan und Glas im ganzen Raum, ein Keramikhaufen, der vor langer Zeit vielleicht einmal irgendein Becken gewesen war. Agatha ging auf ihn zu und strich vorsichtig darüber.
„Ich erinnere mich.“

Wir standen beide hier.
Mein… Bruder!
Mein Bruder Willhelm, er war auch hier!
Ich nahm einen Teller und schrubbte ihn mit dem Tuch richtig ab, bis er fast schon glänzte, dann gab ich ihn Willhelm, der ihn trocken machte. Wir haben viel gelacht und eine Menge Schabernack mit dem Geschirr getrieben. Trotzdem ging alles gut.
Einmal habe ich aber einen Teller fallen gelassen. Er ist gleich in tausend Teile zersprungen, und wenn Willhelm nicht gleich am Lachen gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich weinen müssen.
Aber dann kam er.
Der Kommandant.
Mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht zeigte er mir, wo das Kehrblech und der Feger lagen, damit ich die Scherben schnell wegmachen konnte, noch bevor es irgendjemand bemerken würde.
Wir hatten viel Geschirr. Es ist niemandem aufgefallen, und Herr Mullen hat es auch nicht verraten.
Danach haben mein Bruder und ich aber nur noch selten Geschirr abgewaschen und die meiste Arbeit den Dienstmädchen überlassen. Die konnten das ja auch besser.

„War dieser Kommandant ein Teil eurer Familie?“, fragte ich nach, als Agatha mich wieder anschaute.
„Familie…? Ich weiß nicht. Aber ich glaube nicht.“
„Kannst du dich nicht erinnern, wieso er bei euch war?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und ich beließ es dabei. Bevor sie sich jedoch in Erinnerungen verlieren konnte, die längst zerstört waren, versuchte mein Kopf beinahe instinktiv, einen neuen Anhaltspunkt zu finden.
„Du hast von deinem Bruder erzählt. Erinnerst du dich sonst an niemanden? Eine Mutter vielleicht?“
„Nein…“, antwortete sie bedrückt, „Aber wir haben immer nur abgewaschen, wenn es davor ein großes Essen gab.“
Da war der Punkt. Er sprang mir förmlich ins Gesicht.
„Denk an das Essen, Kleine. Dann fällt es dir bestimmt wieder ein!“
Ihre Gesicht hellte sich auf.
„Die Essstube.“, rief sie und ich lächelte.
„Das ist gut, Agatha. Führ mich in die Essstube.“
Zum wiederholten Male bewegten wir uns durch die Eingangshalle, diesmal zur Tür auf der rechten Seite. Wenn Agathas Erinnerungen weiter so systematisch zurückkamen, konnte ich mir eine genauere Untersuchung des Anwesens sparen. Inzwischen war auch die Fratze am Kamin nur noch lächerlich.
Eine große Tafel aus von Würmern zerfressenem Mahagoni charakterisierte die Esstube. An den Wänden hingen ein paar alte Gemälde, in einigen Regalen prangten Zinnfiguren oder andere Sammlerstücke. Wirklich verwunderlich, dass hier bisher noch niemand geplündert hatte, wahrscheinlich gab es nicht mal eine Hand voll solcher unversehrter Gebäude in Brandenburg. Ich stoppte meinen Schritt und Agatha drehte sich fragend um.
„Niemand wusste mehr von diesem Haus, Mädchen, nicht mal die Menschen, die sich gern Geschichten erzählen. Das heißt, die Aufzeichnungen sind vor Kriegsende vernichtet worden, und zwar äußerst gründlich. Kannst du dir vorstellen, warum?“
„Nein.“, antwortete sie ehrlich und zuckte mit den Schultern, wären ihre Schritte sie um den Tisch trugen. Ich erkannte ein Tablett, das wohl in aller Eile zurückgelassen war, die teure Keramik stand noch immer darauf und nur die dunklen Rückstände innen verrieten, dass die Stücke sogar gefüllt gewesen waren, als man das Puppenhaus im Stich gelassen hatte. Unter einer Tasse lag ein kleiner, vergilbter Zettel. Ich rollte ihn vorsichtig auf und war froh, die Schrift noch lesen zu können.
Bei Sonnenuntergang, wo die Klingen den Hirsch durchstoßen.
Als sei es das normalste der Welt. Vielleicht eine Art und Weise, in den zwanziger Jahren die Telefonnummer zu hinterlassen, lächelte ich, manche Dinge änderten sich wohl niemals. Ich ließ den Zettel verschwinden, als Agatha mich fragend anschaute.
„Erinnerst du dich an etwas?“, lenkte ich sie ab, eine Technik, die man schon in der Schule perfektionieren musste, wenn man während des Unterrichtes ungestört lesen wollte.
„Ja.“, nickte das Mädchen und spielte an ihrem Hemdzipfel herum, „Es war schön damals.“
Sie lächelte nicht, als sie jene Worte aussprach, und ich konnte verstehen, dass sie dabei war, zu realisieren, dass jegliche Erinnerung durchaus viel älter als ihr erwachsener Begleiter war. Nicht der erste seltsame Gedanke an diesem Tag, aber wohl einer der verstörensten. Gnädigerweise ging sie dazu über, mir ihre Erlebnisse mitzuteilen.

Wir lebten mit unserem Vater hier. Er war Wissenschaftler und wir sahen ihn meistens nur zum Abendbrot.
Dann versammelte sich die ganze Familie am Tisch, er saß genau hier, an der Spitze, während wir an der langen Seite speisten.
An unsere Mutter erinnere ich mich nicht. Ich glaube, sie war damals bereits lange tot.
Wenn Herr Mullen hier war, saß er am anderen Ende der Tafel und unterhielt sich meistens mit unserem Vater über Politik und Wissenschaft. Dinge, die wir nicht verstanden, aber es war trotzdem schön, denn wir hatten sonst sehr selten Besuch.
Eigentlich nie.
Die Hausmädchen und die anderen Bediensteten waren immer die selben, wir kannten jeden Burschen und jedes Mädel beim Namen, nie kam jemand hinzu, nie wurde jemand entlassen. Erst als wir älter waren, sind sie fast alle gegangen.

Agatha hatte sich auf ihrem alten Stuhl niedergelassen, und ich war sehr froh, dass die Sitzgelegenheit nicht sofort nachgab, um das Mädchen desillusionierender Weise auf den Hosenboden zu setzen. Man sah ihren Augen an, dass sich all die vergangenen Dinge in jenem Moment hinter ihrer Stirn abspielten.
„Die Endlösung.“, sagte sie dann plötzlich ohne jeden Zusammengang, was abermals meinen Herzschlag beschleunigte, „Der Kommandant hat davon erzählt, dass die Partei endlich eine Möglichkeit gefunden hätte, all ihre Probleme auf einmal loszuwerden. Offenbar hat es nicht geklappt…“
Ich überlegte lange, wie ich ihr darauf antworten sollte. Und ich war irgendwo froh, dass hier ein kleines Mädchen vor mir saß und keine ideell verblendete Erwachsene, obgleich ich ihr Alter in Gedanken inzwischen auf etwa dreizehn Jahre korrigiert hatte. Ich entschied mich für die nüchterne Methode, ohne jede populistische Ausschmückung und senkte den Kopf.
„Die Endlösung hat einigen Millionen Menschen das Leben gekostet.“
Sie starrte mich mit offenem Mund an, was mich aus irgendeinem Grund zu einem schiefen Grinsen verleitete.
„Geklappt hat es trotzdem nicht. Und die Menschheit ist sich inzwischen einig, dass es so nicht unbedingt der schlechteste Ausgang war. Immerhin reden wir hier von Dingen, gegen die sich selbst die bestialischsten Kriege wie romantische Erzählungen aus 1001 Nacht anhören.“
„Das glaube ich nicht.“, antwortete sie starr.
„Selbst die Menschen in Deutschland, und ich meine all jene, die NICHT die Hälfte des letzten Jahrhunderts verschlafen haben, benötigten einige Jahre, um all das zu glauben. Also lass dir Zeit.“
Agatha senkte den Kopf.
„Der Kommandant hätte so etwas niemals getan. Er war immer nur um unser Wohlergehen besorgt.“
„Das dachten die meisten Leute auch von Hitler, bevor er tagtäglich ein paar tausend Menschen mit Giftgas umgebracht hat.“
Ich vermied es bewusst, darauf hinzuweisen, dass man den Genozid mit faschistischen Vorstellungen gerechtfertigt hatte. Es war eine Sache, einem Mädchen, dass direkt aus dem zweiten Weltkrieg in die Neuzeit gekommen war, die Tatsachen zu erklären, aber es war eine ganz andere Geschichte, ihr auch beizubringen, dass die Ideologie, unter der sie aufgewachsen war, nicht gerade das humanistische Optimum darstellte. Und dass Humanismus keine psychische Krankheit war. Ich grinste in mich hinein. Das war doch mal ein Präzedenzfall, der die Lehrbücher über Erziehung verändern würde.
„Die Menschen heute halten nicht mehr besonders viel von unserem Führer, nicht wahr, Herr Mullen?“, fragte sie mit dem Blick eines naiven Kindes. Es war seltsam, die gleiche Anrede spendiert zu bekommen, die sie vorher einem offenbar hochrangigen Nazi-Kommandanten vorbehalten hatte.
„Nein.“, antwortete ich trotz allem ein wenig belustigt, „Jedenfalls nicht jene, die über ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand und Allgemeinbildung verfügen.“
Ich fragte mich, ob sich die Alliierten bei der Aufklärung damals ebenso verlustiert hatten, aber wahrscheinlich nicht. Die Schrecken des Krieges waren wohl noch zu greifbar gewesen, als dass man hätte darüber lachen können. Für Agatha galt vielleicht das Gleiche, wenn auch in einem anderen Licht, und ich beschloss, den Zynismus ihr gegenüber hinten an zu stellen.
„Um genau zu sein“, ergänzte ich, „nennt man euren ‚Führer’ jetzt vorzugsweise einen Psychopathen.“
Da war es wieder, das winzige Schmunzeln, nur einen Augenblick. Ich verkniff mir jegliches Grinsen und griff stattdessen einen Gedanken auf, der mir eher gekommen war.
„War Gregor Hausmann dein Vater?“
Sie starrte mich an und nickte dann euphorisch.
„Ja, sie haben Recht! Ich erinnere mich, Hausmann ist mein Nachname. Vater hieß Gregor, auch wenn ihn die Bediensteten immer nur Doktor nannten.“
Ich nickte gedankenverloren.
„Gut… Er nannte einen Begriff, Puppenhaus. Kannst du mir dazu irgendetwas sagen?“
Agatha sprang auf und schleuderte den Stuhl um. Bevor ich verstand, dass sie auf das Wort reagiert hatte, verließ ein lautloser Schrei ihre Kehle und sie stürzte wie von unsichtbaren Fäusten getroffen in ein Regal, die Keramik mit sich reißend. Es dauerte noch einige Augenblicke, ehe mein Verstand die Starre überwunden hatte, dann ergriff ich ihren Arm und verhinderte mit allen Kräften, dass jenes nun wild um sich schlagende Mädchen die gesamte Einrichtung demolierte.
„Agatha!“
Mein Ruf erschall durch den gesamten Ostflügel des Gebäudes, aber das Mädchen wurde nicht ruhiger. Als mich ein kleiner Fuß unkoordiniert zwischen den Beinen traf, war es um die Selbstbeherrschung geschehen und ich versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, gerade rechtzeitig bevor mich die Schmerzen im Lendenbereich zu Boden zwangen. Ihre Augen starrten nun ins Leere, eine einzelne Träne lief die Wange entlang. Als sich das Zittern nach unendlich erscheinenden Momenten wieder zu einem schnellen Atmen wurde, schien sie die Kontrolle über den Körper zurück zu gewinnen.
„Ich habe mich nur.. gewehrt.“, lächelte ich, sofern es mir möglich war. Agatha hielt sich die Wange und stand dann auf.
„Danke.“, war die knappe Antwort, „Und Entschuldigung vielmals. Ich wollte das nicht, Herr Mullen.“
„Ist in Ordnung. Aber es tut trotzdem höllisch weh.“
Das erste Mal seit sechzig Jahren umspielte ein unverhaltenes Lächeln ihre Züge.

Puppenhaus.
Ich erinnere mich nicht. Aber ich glaube, ich habe es schon damals vergessen. Mit Absicht.
Ein Projekt meines Vaters, ein großes Projekt.
Für die Partei.
Um was ging es? Willhelm und ich haben immer unsere Späße gemacht, dass Vater oben in seinem Labor mit Puppen spielte, aber wir hatten auch nicht die geringste Ahnung, um was es wirklich ging.
Was auch immer es war, ich möchte mich nicht erinnern.
Das einzige, an das ich mich nicht erinnern möchte.
Ich habe Angst.
Nur das Wort hat mir Dinge vor Augen geführt, die ich niemals sehen wollte.

Den Rest des Abends stellte ich meine Untersuchungen ein, das Puppenhaus erwähnte ich mit keinem Wort. Eher würde mir die Brechstange auf mysteriöse Art und Weise in die Hände fallen und ich könnte die Einrichtung selbst zu Kleinholz verarbeiten, das brächte wenigstens eine perverse Art von Befriedigung. Mit einem kleinen Mädchen in Berserkerwut dagegen war nicht viel anzufangen. Wir hatten Decken aus meinem VW geholt, der Agatha übrigens sehr beeindruckt hatte wie wahrscheinlich niemanden seit seiner Herstellung, und die dicken Wolltücher im Kaminsaal zu einem kleinen Schlafplatz improvisiert. Ein umfangreicher Vorrat an Petroleum aus der Küche erlaubte mir sogar, die Lampe die ganze Nacht über brennen zu lassen, und so erzählten wir uns vor dem Schlafen noch ein wenig. Agatha hatte niemals viel von der Welt außerhalb gesehen, ihre Familie musste jenes Haus wohl schon lange vor der Geburt des Kindes bewohnt haben. Doktor Hausmann war Mediziner gewesen, ein ziemlich guter noch dazu, und so hatte er alles, was er brauchte, hierher geliefert bekommen, vor allem nach Hitlers Machtergreifung. Agathas Erinnerungen waren höchstens bruchstückhaft, ich hatte mit subtilen Fragen gerade einmal herausgefunden, dass ihr Vater für die Nazis gearbeitet hatte und aus diesem Grund auch nur selten aus dem zweiten Stock des Hauses herabgestiegen war, wo ich wohl sein Labor finden würde. Irgendwann am nächsten Tag. Jetzt galt es erst einmal zu verarbeiten, was geschehen war. In Anbetracht der Tatsache, dass ich jenes Anwesen mit einem jugendlichen Zeitzeugen durchstreifen konnte, war ich eigentlich bemerkenswert ruhig geblieben. Agatha schlief bald tief und fest, nur ein gelegentliches Runzeln ihrer Stirn berichtete von den Alpträumen, die das Mädchen offenbar plagten. Mitleid fand den Weg in meine Gedanken. Draußen sammelte sich der Schnee vor den verkrusteten Scheiben, gelegentlich blies ein kalter Windhauch durch die zerstörten Fenster. Ich bedeckte das Mädchen noch mit meinem Mantel, nahm dann selbst eine Decke, verdunkelte das Licht und schlief ein.
Mein krankes Hirn träumte in dieser Nacht von Nazi-Robotern und faschistischen Ritualen schwarzer Magie.
Irgendjemand hatte einmal behauptet, ich könnte nichts ernst nehmen. Beruhigend zu wissen, dass er Recht behielt.




Fortsetzung folgt... ;)

Mordechaj
27.06.2007, 18:40
Ohne jetzt dreiste Vermutungen anstellen zu wollen, aber den ersten Ausschnitt gibts schon bedeutend, länger, oder? =)

Der zweite Ausschnitt jedenfalls steht dem ersten nur in meiner Meinung nach ganz wenigen Punkten nach, die aber mit einer anderen Subjektivität als meiner betrachtet, nichtig werden könnten (wow, was für ein schöner Konjunktiv =)) ).

Also zuersteinmal gefällt mir die Entwicklung eigentlich ganz gut. Was mich allerdings ein wenig stört, ist, dass Mullen bei den Nachholelektionen über deutsche Geschichte immer mal wieder "stupide" grinst. Ich möchte dir alles andere als Respektlosigkeit vorwerfen, um Gotteswillen, aber mir Übersensibelchen scheint das ein wenig unpassend =/. Der letzte Satz des Ausschnittes versöhnt dahingehend und zeigt auch, dass Mullen die eine oder andere charakterliche Schwäche hat, was die Figur nur lebendiger macht. Das Ganze scheint mir auch eine bestimmte Funktion in der Geschichte zu erfüllen, deshalb das nur mal am Rande. Vielleicht aber könnte man eine kleine Einräumung einbauen, damit es eben für pingelige Spießer wie mich nicht so "unpassend" klingt? (sry für die Formulierungen, ich bin heute auf dem weg zum estimativen suizid...was auch immer das jetzt heißen soll :rolleyes: )

Ansonsten ist dir der Part wieder hervorragend gelungen finde ich. Ich würde dir aber in aller Vermessenheit empfehlen, nochmal - vielleicht laut - drüberzulesen. Es sind zwar nur ganz gazn wenige, aber es gibt beispielsweise Formulierungen (hab jetzt nur ein Beispiel *shy*) wie

die Tür machte nicht nur keinen Widerstand, sie fiel beinahe aus der Halterung
die nicht ganz so toll klingen. (Widerstand machen <-> Widerstand leisten ;) )
Aber das ist wirklich die Ausnahme =).

In der Hoffnung auf mehr und als sinnentstellend bedepperter Trennbalken zwischen den einzelnen Abschnitten

ich quasi

La Cipolla
25.07.2007, 01:53
Mullens Charakter geht schon in Ordnung, ich habs an einigen Stellen nur mit dem Humor ein wenig übertrieben, lag an der späten Zeit. ;D

Projekt liegt allerdings vorerst auf Eis, mir kreist etwas ganz anderes im Kopf herum.
Im Folgenden der absolute Spoiler der Hintergrundgeschichte, heißt, wenn man den gesehen hat, muss man die fertige Geschichte nicht mehr lesen. ;)


1930 - Gregor Hausmann, ein illusionierter Human-Biologe, der seine Frau am
Sterbebett nicht mehr retten konnte, sucht nach der Unsterblichkeit.
Hitlers Leute bieten ihm noch vor dessen Machtergreifung Unterstützung an,
natürlich unter der Vorraussetzung, von den Studien zu profitieren.
Hausmann nimmt das Angebot an und bezieht zusammen mit seinen beiden Kindern
die Villa und beginnt mit seinen Forschungen.

1933 - Der Krieg beginnt und Hausmann bemerkt die kranken Vorhaben
der Nazis, will seine Forschungen aber nicht gefährden.

1942 - Ein Mann namens Siegfried Mullen, ein SS-Ofizier, erscheint in der Villa.
Er übermittelt Hausmann das Desinteresse der Führung an seinen Studien.
Hausmann ist entsetzt und hinterfragt den plötzlichen Sinneswandel.
Mullen klärt ihn über die bevorstehende Kriegsniederlage auf und fordert
die Aufnahme eines neuen Projektes. Puppenhaus, eine Operation zur Erschaffung
des perfekten Kriegers, ohne Gewissen und Zweifel. Hausmann ist entsetzt und
widersetzt sich den Befehlen, womit Mullen allerdings gerechnet hatte.
Er bietet Hausmann an, die alten Studien, mit denen der Biologe inzwischen weit
fortgeschritten ist, verdeckt fortzuführen, im Auftrag eines Konzernes namens
Heavensgate. Hausmann zweifelt, schließlich ging es um einen Auftrag für einen
englischen Konzern, und das während des Krieges, aber letztendlich nimmt er an,
in der Hoffnung, sein Experiment fertigstellen zu können.

1945 - Kriegsende. Die Operation Puppenhaus ist ein Misserfolg, statt dem
perfekten krieger häufen sich die Leichen der unfreiwilligen menschlichen
Laborratten. Auch die Unsterblichkeit erreichte der Biologe nicht.
Hausmann hatte in den zurückliegenden zwei Jahren alle moralischen
Vorstellungen hinter sich gelassen, um seine Forrschung fortführen zu können.
Würden die Alliierten ihn finden, wäre das ein sicheres Todesurteil, für ihn
und seine inzwischen groß gewordenen Kinder, die mit ihm der Villa lebten und die
Experimente mehr oder weniger schweigend miterlebt hatten. Verzweifelt entschließt
er sich, die Erkenntnisse aus "Puppenhaus" zu verwenden, um seine eigenen Kinder zu
retten. Für sein letztes Experiment verwendete Hausmann seine Tochter, Agatha.
Dann versiegelte er das Puppenhaus, ohne das Ergebnis abzuwarten,
und floh in die Kälte. Als die Allierten ihn schließlich aufgriffen und verhörten,
erzählte er die Wahrheit, allerdings verschwieg er sein letztes Experiment.
In den Nazi-Archiven fand man zwar die Aufzeichnungen über seine Experimente zur
Unsterblichkeit, und auch das Experiment Puppenhaus war mit wenigen Worten und
Fakten beschrieben, aber der offensichtlich ausländische Konzern Heavensgate war mit
keinem Wort erwähnt. Auch weitere Forschungen brachten einzig und allein zu Tage,
dass dieser Konzern niemals existiert hatte. Hausmann war verwirrt. Hatte Mullen
ihn auf eigene Faust unterstützt? Aber wieso? Und woher bekam er diese unglaublichen
Geldmengen? Auf seine Nachfrage hin, erfuhr er, dass Siegfried Mullen nach dem
Angriff auf Berlin als vermisst galt. Als sich die Siegermächte nach Agatha und
Wilhelm Hausmann erkundigten, entschloss sich Hausmann für den Tod. Er gab an,
seine eigenen Kinder als Laborratten getötet zu haben, und bestätigte alle Anklagen.
Hausmann wurde hingerichtet, und im Puppenhaus fand man neben dem Labor nichts
Bemerkenswertes.

Mordechaj
25.07.2007, 18:30
Ich antworte trotzdem mal mit nem Spoiler, weil ich konnt mir das Draufklicken dann doch ncih verkneifen ;P.
Soweit ich weiß, hat der Krieg '33 noch lange nicht angefangen *duck* ^^"
Ansonsten ist das Setting trotz seiner - hundertprozentig der zusammengefassten Weise unterlegen - leicht fehlenden Subtilität (ui, man müsste mal ein zweites Zeichen für Einschübe einführen, so kann ich doch unmöglich vermeiden, dass meine Worte so fies klingen :rolleyes: ) eigentlich sehr ansprechend. Ich steig zwar nicht ganz dahinter, warum der Hausmann um jeden Preis verhindern will, dass jemand seine Tochter findet (schließlich kann die ja auch nich ewig da unten bleiben), aber an der Stelle kommt vielleicht ein bisschen das Hirn des kaputten Forschers raus, was aufgrund der knappen Zusammengefasstheit eindeutig gegen meine Subtilitätsthese spricht. Find ich toll, vielleicht kommts ja mal wieder =).


Eigentlich schade, dass das jetzt auf Eis liegt, dein Schreibstil ist eigentlich sehr beeindrucken und das Setting hat auch was für sich =). Aber deine Worte lassen ja bald neue Taten vermuten 8) .

Ja, das wollte ich nur loswerden, damit der Schlagabtausch an Posts nich anhält - sonst fängt noch jemand an mich ernst zu nehmen :eek: !