La Cipolla
22.06.2007, 19:33
Da ich mir langsam klar werde, wie die gesamte Geschichte aussehen wird und zudem wieder Lust darauf hab, das drei Jahre alte Stück weiterzuschreiben, wird es Zeit für einen Thread. ^^''
Meine Blicke gleiten den Fenstersims entlang und beobachten jene Schneeflocken, die vom Winterwind durch die Luft gewirbelt werden. Ich stelle mir ihre Gesichter vor, von Furcht verzerrt, aus Angst vor dem Boden, der ihr unausweichliches Ende im grauen Einerlei der Matschmassen besiegeln wird. Kreischend gehen sie auf dem Asphalt hernieder und verlieren augenblicklich ihre Konsistenz. Im nächsten Moment gibt es keinen Hinweis mehr darauf, dass sie jemals existiert haben, die Schreie sind auf ewig verhallt und keine Seele wird sich ihrer erinnern.
Ich halte mir die Stirn und schüttle den Kopf, lächelnd darüber, dass mir solche Gedanken noch immer kommen, Gedanken, die von den meisten Leuten nach der Pubertät verdrängt werden. Ich war keine Ausnahme von diesem natürlichen Schutzmechanismus, gewiss nicht. Jedenfalls nicht bis zu jenem Tag.
Meine Augen wandern wieder zu dem eisigen Schneewetter, denn es weckt Erinnerungen, die ich vielleicht hätte lieber vergessen sollen. Aber das ist nicht meine Natur. Ich bin Wissenschaftler, ich vergesse nicht, ich verdränge nicht. Ich öffne die Augen für alles, was da noch kommen mag, und wenn es noch so schrecklich sein mag.
Lassen sie mich ihnen eine Geschichte erzählen.
Die Geschichte von einer Schneeflocke.
Einer Schneeflocke, die den Boden vielleicht niemals erreichen wird.
- Isaac Mullen -
Puppenhaus
12. November 1998
Zu einer Stunde, in der die Disco-Teenies bereits bewusstlos in ihren Ausscheidungen lagen und die anderen Menschen noch lange nicht vom Aufstehen träumen konnten.
Draußen in der Nacht war es stockdunkel, so konnte ich den Schnee, der leise und rhythmisch vor dem Fenster umherwirbelte, nur erahnen. Ich saß in meinem Zimmer und war verdammt müde. Diese Räumlichkeiten hatten sich ihren Ruf nicht gerade durch peinliche Ordnung erworben, aber in diesen Tagen glichen sie einem Schlachtfeld, einem sehr unordentlichen Schlachtfeld, um genau zu sein.
Es gelang mir, den Blick kurz von dem flackernden Bildschirm und den unzähligen Ausdrucken zu reißen. Das Chaos war erdrückend. Ich kratzte mir am blonden Kinnbart und nahm eine leere Pizzaschachtel, mit dem guten Willen, ein wenig aufzuräumen. Nach einem Blick hinein wurde mir klar, dass irgendjemand auf diesem Schlachtfeld mit Biowaffen hantiert haben musste. Angewidert ließ ich die Pappe fallen und verwarf die Pläne von einem friedlichen Zimmer erst einmal wieder.
Eine einfache Nachricht verhinderte nun schon seit geschlagenen 48 Stunden jeden Schlaf. Es war nur eine E-Mail gewesen, in einem ganzen Schwall von Informationen, die mein Freund Hermann für mich aus den Weiten des Internets gesucht hatte. Wir beide waren Archäologen, aber er war einfach zu faul, um den Spuren, die er fand, selbst nachzugehen. Und, um ehrlich zu sein, waren seine Entdeckungen bis dahin auch äußerst zweifelhaft gewesen.
Der größte Erfolg, den Hermann vorzuweisen hatte, war die Auflösung eines gefährlichen Satanskultes, der sein Unwesen auf dem Westfriedhof getrieben hatte. Ich war der Sache nachgegangen und musste selbstverständlich feststellen, dass es sich bei den vermeintlichen Teufelsanbetern nur um eine Gruppe jugendlicher Gothics handelte. Die Eltern der kleinen Möchtegern-Rebellen waren trotz allem sehr glücklich, als sie erfuhren, wo sich ihre Lieben so die Nacht über herumtrieben. Eine alte Mutter hatte mir sogar eine selbstgetöpferte Blumenvase geschenkt, also konnte man es wohl als Errungenschaft bezeichnen.
Diesmal jedoch war alles anders. Die E-Email bestand aus wenigen unerheblichen Worten Hermanns und aus zwei Anhängen. Der erste zeigte einen alten Kartenausschnitt, der mit den eindeutigen Linien einer Feldkarte des Militärs gekennzeichnet war, der Zweite dagegen war der Scan eines Briefes, das Datum darauf, die Schriftart und auch gewisse andere „subtile“ Hinweise ließen erahnen, dass die Nachricht etwa 60 Jahre alt war.
Sehr geehrter Herr M…
(An dieser Stelle hatte der Zahn der Zeit den Rest des Namens ausgetilgt.)
Ressourcen und Zeit sind zu knapp.
Puppenhaus ist fehlgeschlagen.
(Auch hier mochten ehemals noch ein paar Sätze mehr gestanden haben, aber das Papier war bis zur Unkenntlichkeit vergilbt, nur ein selten glücklicher Zufall hatte die vorangegangenen Zeilen sichtbar erhalten.)
24. September 1942
(Hier retuschiere ich mal den Nazi-Gruß weg, den der zweifelhafte Absender dem mindestens ebenso zweifelhaften Empfänger zukommen ließ, ganz im Geiste seiner Zeit...)
Dr. Gregor Hausmann
Hermann hatte die Dokumente auf dem alten Speicher eines Hauses gefunden und sie nur eingescannt, falls ich tatsächlich Interesse daran haben sollte. Gewiss, es gab genügend Modefaschisten, die solche Gerüchte in den Umlauf brachten, um die Zeit des Nationalsozialismus zu dramatisieren, aber keiner dieser Braunköpfe würde jemals auch nur zugeben, dass das Wort „Puppenhaus“ zu seinem Wortschatz gehörte, selbst in diesem Zusammenhang klang es ja noch lächerlich. Es war viel zu stupide und langweilig, als dass es eine Fälschung hätte sein können.
Ich hatte ein Gespür für interessante Angelegenheiten, und obgleich das eine neue Erfahrung hinsichtlich Hermanns „Entdeckungen“ darstellte, war ich aufgeregt. Seit vier Tagen durchforstete ich nun schon die Bibliotheken, das Internet und alle anderen Quellen, die mir in den Sinn kamen. Ich schickte sogar eine Rundmail mit dem Titel „Puppenhaus“. Als mich die ersten Antworten erreichten, bereute ich es ein wenig.
- Na, Isaac, bist ja auch schon fast 30, wird auch langsam Zeit, dass du dich zur Ruhe setzt und eine Familie gründest. =P
- Aha, Historik nennt man so was also heute? xD
- Puppenhaus nicht, aber ich hab noch ne Kiste Playmobil auf dem Dachboden. ^^’’
Ich lächelte nur verschmitzt. Hätten diese Leute damals gewusst, was es mit dem unglückseligen Namen auf sich hatte, wären ihnen ihre verdammten Smilies in der Tastatur stecken geblieben.
Ich fand letztendlich überhaupt nichts heraus, was meine Vorfreude nur noch mehr steigerte, denn ich wusste, wohin mich das Ganze führen würde. Die einzige Information, die mir zugespielt worden war, stellte eine Kurzbiographie über die Jugend des Doktor Hausmann dar, allerdings mit zweifelhaftem Wert, denn seit Beginn des zweiten Weltkrieges war er wie vom Erdboden verschluckt, wenn es sich überhaupt um den richtigen Hausmann handelte. Zudem konnte ich herausfinden, welchen Fleck die Karte darstellte.
Als am 12. November die Sonne aufging, schlief ich tief und fest. Mein Schnarchen sollte den Nachbarn noch bis zum Morgen des nächsten Tages an den Nerven zerren, denn ich musste wach sein. Nach achtzehn Stunden geruhsamen Schlaf war ich es.
Und ich hatte wieder ein Ziel.
13. November 1998
Der alte VW schleppte sich ächzend durch die Wälder Brandenburgs. Ich war in Gedanken versunken, während die Schneeflocken vor mir die Landschaft in Weiß tauchten. Am Straßenrand hatte sich eine hässliche Matschmauer gebildet, die mich ein wenig an die Alpen erinnerte, aber weiter oben blendete der Schnee förmlich alle Blicke.
Vier Stunden waren bereits vergangen. Die Karte war zwar alt, gewiss, aber ich hatte trotzdem gehofft, das Anwesen zu finden, welches nur durch ein einfaches Viereck mit einer Einfahrt dargestellt worden war. Die Luftaufnahme war eindeutig an diesem Gebäude justiert worden, und so würde es zweifellos einige der offensichtlichen Fragen beantworten können.
Plötzlich schluckte ich, denn mir wurde etwas bewusst. Es konnte durchaus sein, dass das Haus nach dem zweiten Weltkrieg von den Russen enteignet worden war, und ich wusste auch, dass es in den Wäldern eine Menge alter Kasernen aus dieser Zeit gab, die man dann später nach dem Mauerfall einfach verlassen hatte. In den wenigen Momenten, in denen der Brandenburger Wald und die Schneedecke gleichermaßen licht gewesen waren, hatte ich auf dem Weg auch schon die eine oder andere Ruine gesehen, die sich zwischen den Bäumen erhoben hatte, wie eine Warnung der Natur, dass selbst Stahlbeton den Wurzeln und Ranken der Pflanzen nachgeben musste. Ein wenig Pech, und die Geschwister Hammer und Sichel hatten das alte Gebäude vernichtet, um Platz für einen Schießplatz zu schaffen. Ich verzog das Gesicht wegen des dümmlichen Wortspiel und stellte mir vor, wie eine Menge an Leuten (die selbstverständlich alle wie Karl Marx aussahen) mit Sicheln in der Hand auf ein Gebäude einhoben. Dann warf mich etwas aus meinen kommunistischen Träumen und ich bremste den Wagen. Eine Wegbiegung, aber ich erkannte sie, denn sie stellte das winzige Stück Straße dar, welches man auch auf der Karte sehen konnte.
Der Wind pfiff durch die offene Tür, als ich ausstieg und mir den beigen Trenchcoat überzog. Die Haare waren zu einem langen Pferdeschwanz gebunden und unter dem Mantel verborgen, meine Brille ruhte auf der Nase und wurde sofort von einer Schneeschicht empfangen. Resigniert verstaute ich das Utensil in einer Tasche und schloss den Wagen ab. Das Geäst war dicht gewachsen, die auf der Karte verzeichnete Einfahrt war nirgends zu sehen, überhaupt erkannte ich außer Schnee und ein wenig Baum nicht besonders viel. Prüfend verglichen meine Augen die in meiner Hand umherflatternde Karte und die Realität, bis ich schließlich etwas bemerkte. Einige Pflastersteine waren zu sehen, und obwohl sie hauptsächlich dem Moos als Gehweg dienten, waren sie gewiss einmal von Menschen eingelassen worden. Hatte man diese Steine erst einmal entdeckt, war auch zu erkennen, wo der Weg früher entlang geführt hatte, obgleich er nun vollkommen überwuchert war. Ich begann, mich durch das schneebedeckte Dickicht zu kämpfen, denn nun gab es eine relative Sicherheit, dass wenigstens das Anwesen einmal existiert hatte. Hinter mir verschwand der VW langsam aus meinem Sichtfeld und ließ mich einen Schritt zulegen, denn die letzten Sonnenstrahlen würden sich nicht mehr lange halten. Zur Sicherheit hatte ich noch ein Sturmfeuerzeug und einige andere nützliche Sachen eingesteckt, die mir schon mehr als einmal geholfen hatten.
Der Weg war beschwerlich, in der Vorstellung kämpfte ich mich nach einiger Zeit nur noch mit Tropenhut und Machete durch einen tiefen Dschungel. Die Realität hatte zum Glück weder giftige Pflanzen noch exotische Tiere zu bieten, aber die verworrenen Äste und Bäume sowie der eisige Wind waren ebenfalls eine ordentliche Herausforderung. Dann verschwand die obskure Intention eines Indiana Mullen ebenso ruckartig wie sie gekommen war, denn ich erkannte hinter dem Schneefall eine dunkle Silhouette, die sich gen Himmel streckte. Ich beeilte mich, denn die Neugier hatte meine Schritte beflügelt.
Dann sah ich es.
Auf der Karte war das Anwesen, das ich in Gedanken Puppenhaus nannte, nur ein schraffiertes Viereck. In Wirklichkeit aber war es eines der schönsten Gebäude, die ich jemals gesehen hatte. Man konnte den Barockbau etwa in das 17. Jahrhundert schätzen, die großen Fenster und reich verzierten Fassaden zeugten von Prunk und vom Reichtum des Besitzers, aber auch vom ästhetischen Verständnis des Bauherrn. Oben auf den Giebeln wachten steinerne Wasserspeier über das Dach, lange, marmorne Säulen hoben sich über alle drei Etagen empor und eine dunkle Treppe führte graziös hinauf zur Hauptpforte.
Plötzlich zuckte ich zusammen, denn etwas berührte mich an der Schulter. Ich wollte gerade beiseite springen, als ich realisierte, was der Grund meiner Angst gewesen war. Neben mir stand eine große Statue, beinahe drei Meter hoch, auf einem marmornen Sockel mit seltsamer Ornamentik. Die Furcht war verschwunden, und stattdessen übernahm Verblüffung ihren Part. Das Bildnis zeigte eine Frau, die ihre Arme zum Himmel ausgebreitet hatte. Wallende, marmorne Haare bedeckten schwungvoll den ganzen Körper und stilisierte Tränen liefen ihr aus den leeren, aber sehnsüchtigen Augen. Ich war außer mir, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Obwohl die Gestalt mit Sicherheit eine Göttin darstellte und gewisse engelsgleiche Züge aufwies, fehlten ihr die typischen Merkmale, um dem Geist eines christlichen Bildhauers entsprungen zu sein, auch sonst war mir keine Religion bekannt, die solche Götzen verehrte. Die Reise hatte sich bereits jetzt gelohnt. Als ich mich von dem ersten Schock erholt hatte, realisierte ich, dass die weinende Frau nicht alleine war. Der Weg hin zum Anwesen war durch drei solcher Statuen begrenzt, und ein zerstörter Sockel ließ vermuten, dass es einmal vier gewesen sein mussten. Teilweise waren die Bildnisse schon stark angeschlagen, über den Körper der einen hatte sich eine dicke Moosdecke gelegt, einer anderen fehlte der linke Arm. Ich schüttelte in meiner Verwunderung den Kopf und machte mich auf den Weg zur Marmortreppe.
Die ebenhölzerne, kunstvoll gefertigte und reich verzierte Tür hatte der brachialen, über Jahrtausende hinweg perfektionierten Arbeit einer Brechstange nicht viel entgegenzusetzen. Ich nickte zufrieden, als sich die Flügel beiseite schieben ließen, mit einem Geräusch, das niemals das Öl gekannt hatte. Hinter mir schloss ich die Pforte wieder und sperrte so den eisigen Wind aus, woraufhin sich eine gespenstische Stille über die Eingangshalle legte, in der ich mich befand. Die Vorhänge an den riesigen Fenstern bewegten sich leicht und schützten so den Innenraum an den Stellen, wo das Glas gebrochen und auf dem Boden verteilt war. Es wurde bereits dunkel und ich hatte die Kontur einer alten Petroleumlampe in einem kleinen Schränkchen erkannt. Ich nahm eine Flasche aus dem Schrank. Obgleich das Etikett uralt war, bestätigte es meine Vermutung. Im Schein der allerletzten Sonnenstrahlen füllte ich den Alkohol in die Lampe und entzündete den Blechleib mit dem Sturmfeuerzeug.
Das Licht schwappte durch den Raum und hüllte ihn in einen unheimlichen Glanz. Wie ich aufgrund des Knarksens unter meinen Füßen schon vermutet hatte, bestand der Boden aus uralten Holzdielen, die an manchen Stellen schon vermodert waren und einen Blick auf das Fundament freigaben. Der Raum war gewiss sieben Meter hoch, und neben einem großen, mit Spinnenweben bedeckten Kronleuchter war es vor allem der Kamin, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Betrat man das Anwesen, stand man auf einem weinrot-goldenen Teppich, der bereits an vielen Stellen zerschlissen war, und schaute direkt auf das Marmorgebilde an der gegenüberliegenden Wand. Links und rechts schlängelten sich zwei Treppen nach oben auf einen Absatz, der sich noch in Dunkelheit hüllte. Der Kamin war eine beeindruckende Arbeit, der Kopf eines Hundemonsters starrte den Besucher bösartig an, seine Tatzen begrenzten die Feuerstelle auf drohende, unmissverständliche Weise. Ich ging leise darauf zu und hinterließ bei jedem meiner Schritte eine Fußspur in der Staubschicht.
Seit wie vielen Jahren war ich wohl der erste Mensch, der dieses Anwesen von innen begutachten konnte?
Ein näherer Blick auf den Kamin beantwortete diese Frage, denn der letzte Haushalter hat ein, im Vergleich zu der edlen Arbeit des Marmorflammenstuhls, lächerliches Ornament hineinschlagen lassen. Es mutete beinahe abstrakt an, wie der Reichsadler direkt unter der Fratze des Hundegeschöpfes im Marmor lag, das Hakenkreuz direkt darunter. Wären die Kommunisten die letzten Besitzer gewesen, hätte man die faschistische Symbolik gewiss nicht toleriert, und sei es nur, um den kunstvollen Kamin wieder ins linke Licht zu rücken.
Trotz dieser Verschandelung waren die ersten Fragen beantwortet, irgendein Nazi-Oberer hatte also seine schwammigen Füße zuletzt auf diesem Teppich ausgestreckt, kein schwammiger SED-Parteifunktionär, wie ich erst erwartet hatte. Dann fiel mir noch etwas auf. Gleich über dem Kamin hing die dunkle Tapete von der Wand und hielt den Blick des Betrachters auf einem Vers fest, den eine scheinbar ungeübte Hand mit einem spitzen Gegenstand in das Holz geritzt hatte.
Die kleinen Mütter sind längst erloschen, aber wenn die große Tochter wieder strahlt, wird es hell im Puppenhaus.
Ich runzelte die Stirn. Was für eine verworrene Situation, erst das Gebäude im Barockstil, dann Nazi-Ornamente im Kamin und nun mystische Sprüche darüber. Meine Vermutung, dass dieses Gebäude tatsächlich den Beinamen Puppenhaus trug, bestätigte sich, obwohl es den Grund noch herauszufinden galt.
Es war ein Rätsel.
Ich war schon immer ein illusionierter Junge gewesen, aber in diesem Moment versiegte der Glaube an einen Kinderreim und ich war mir vollkommen sicher, dass jener Vers ein Geheimnis barg. Mit der großen Tochter war angesichts des Fundortes wohl der Kamin gemeint, wenn auch zu bezweifeln war, dass man ihn entzünden sollte. Ich stutzte. Der Gedanke hatte mich einen Blick auf die Feuerstelle des Kamins werfen lassen, aber nun bemerkte ich, dass hinter dem schwarzen, kleinen Gitter nicht einmal mehr Rußspuren waren. Entweder war das Gebilde nur zur Dekoration, oder aber es steckte mehr hinter dieser Angelegenheit. Nachdem ich alles an dem Marmorkonstrukt noch einmal gründlichst und ohne Ergebnis untersucht hatte, ließ ich den Blick durch das Zimmer schweifen.
Die kleinen Mütter… Eine Couch für Besucher stand da, ebenso zwei Bücherregale und einige Hocker. Nichts davon passte in meinen Gedanken zu den kleinen Müttern, nicht einmal mehr die Fenster. Trotz allem ignorierte ich die Türen, welche mich in weitere Gemäuer führen würde, dieses Rätsel würde zuerst eine Antwort bekommen. Die Schritte halten leise wieder, als ich die Treppe emporstieg, dann stoppte ich. Auf dem Absatz war eine weitere Doppeltür, wundervoll verziert. Meine Logik jedoch behauptete, dass dies völlig unmöglich war! Sofern ich es von draußen erkennen konnte, war das Puppenhaus nicht sonderlich lang gewesen, und in welchen Raum diese Türen auch immer führten, er konnte nicht sonderlich groß sein, was vor allem in Anbetracht der wunderbaren Pforte seltsam schien. Ich beschloss, erst einmal bei einem Geheimnis zu bleiben und schaute mich um. Wieder einige Hocker, wieder zwei Regale, nichts besonderes, einige Gemälde, deren Maler mir alle fremd waren. Allerdings…
Ich schritt zu der Wand und stellte mich auf die Zehenspitzen, um die kleinen Lampen näher zu betrachten, welche daran angebracht waren. Ich war verblüfft, als ich in ihnen eine Lunte erkannte, die in einer langen Messingschale aus der Wand ragte. Kurz entschlossen entzündete ich beide Lichter, abermals mit Alkohol und Feuerzeug.
Ich war enttäuscht, dass nichts geschah, bis ich ein leises Zischen hinter der Wand hörte.
Dann schien das ganze Haus zu beben.
Panik ergriff meinen Verstand, denn welchen Mechanismus ich auch immer in Gang gesetzt hatte, er war gewiss nicht so geplant, dass das marode Haus ihm standhalten konnte. Nach einigen Sekunden jedoch atmete ich erleichtert aus, obwohl ein wenig Putz auf mein Haupt gerieselt war. Erst war nicht zu erkennen gewesen, was nun eigentlich stattgefunden hatte, doch dann erinnerte ich mich des Verses und eilte die Treppe hinab. Der Kamin brannte. Oder besser gesagt, er brannte nicht. Im Kopf des Hundemonsters war eine Flamme entzündet worden, die sein Gesicht in einen noch bedrohlicheren Ton tauchte. Dort, wo jeder vernünftige Mensch eigentlich die Feuerstelle vermutet hätte, klaffte nun eine Treppe, die in die Dunkelheit führte. Die Tatzen des Monsters hatten sich einladend nach außen gewunden, als sei es eine Belohnung für die Lösung dieses Rätsels und ich musste grinsen. Dieses Anwesen wurde immer interessanter, und meine Verwirrung wich der Neugier.
Vorsichtig, mit der Petroleumlampe voran, schritt ich die Treppe hinab. Die Wände waren aus Beton gegossen, und so lag die Vermutung nah, dass sie nicht halb so alt wie der Rest des Gebäudes waren. Plötzlich stieß meine Zehnspitze gegen etwas, vor Schreck glitt mir das Licht aus der Hand. Es polterte mit einem gewaltigen Echo die Stufen herab und erlosch dann.
Stille.
Eine ungewisse Angst erfüllte meine Gedanken, das erste Mal, seit ich dieses Haus betreten hatte. In der Dunkelheit wurde mir klar, dass ich nicht einmal wusste, was ich hier unten suchte, und dieser Gedanke, oder eher der Gedanke daran, was ich finden würde, ließ einen kalter Schauer über meinen Rücken laufen. Dann lächelte ich jedoch, in der Gewissheit, dass mich keine Angst der Welt hiervon abhalten konnte. Langsam führten mich meine Schritte weiter in die Finsternis hinein, bis die Treppe schließlich endete. Mein Fuß berührte die Lampe. Ich bückte mich und wollte sie aufheben, als ich plötzlich eine Leitung ertastete. Verwirrt entfachte ich das Sturmfeuerzeug und staunte bei dem Anblick, denn die armbreiten Kabel kamen aus der Wand und führten… Ich erstarrte.
Und wenn ich das Wort „erstarren“ in dieser Erzählung bisher schon einmal verwendet haben sollte, war es ungebracht, denn in diesem Moment konnte ich nicht einmal mehr atmen.
Vor mir erhob sich ein riesiges, metallenes Konstrukt, es mutete im flackernden Schein des Feuerzeuges wie ein Milchtank an. Allerdings hätte man eine sehr, sehr große Kuh benötigt, um den Behälter zu füllen, und so verwarf ich den absurden Gedanken schnell wieder. Die Leitungen, welche aus dem ganzen Haus zu kommen schienen, führten an allen Enden in den Kanister, aber das seltsamste war die grünliche Fläche, die vor langer Zeit einmal eine Scheibe gewesen sein mochte. Ich ging näher heran und mein ganzer Körper zitterte, als ich die Hand auf das Glas legte. Es war so verkrustet, dass man kaum hindurch schauen konnte, ein fester Metallrahmen mit dicken Nieten hielt es an dem Tank. An manchen Stellen hatte das Unkraut bereits die Betonschicht überwunden und wuchs mit den Wurzeln zwischen den Spalten und Ecken hervor.
Ich strich langsam die Staubschicht bei Seite, stolperte dann aber mit einem unterdrückten Schrei zurück.
Zwei geschlossene Augen, eingebettet in blasse Haut und lange Haare, die wie Tentakel durch die grüne Flüssigkeiten quollen. Ein paar weitere, vorsichtige Bewegungen offenbarten, was ich befürchtet hatte. Ein kompletter Körper war in den Tank eingelassen, ein Mädchen, das bei ihrem Tod vielleicht zehn Jahre alt gewesen war. Ich wollte mich umdrehen und dieses obskure Gruselbkabinett so schnell wie möglich wieder verlassen, als mich ein Gefühl ergriff. Es gab keine rationale Überlegung und in diesem Moment auch keine Angst. Entschlossen hob ich eines der Schuttteile vom Boden auf und rammte es unter lautem Krachen in die Glasscheibe. Jegliche Flüssigkeit schwoll wie Blut aus dem Kanister und benetzte meinen Arm, bevor sie zwischen den Ritzen des Bodens und dem Unkraut verschwand. Die Gestalt des Mädchens fiel aus ihrem Gefängnis und lag reglos auf dem Boden. Ich wollte den Blick abwenden, doch es gelang mir nicht.
Dann, nach einigen endlosen Augenblicken, geschah, was ich wohl in meinem tiefsten Inneren gehofft hatte, obgleich natürlich der logische Aspekt in meinem Kopf dagegen gesprochen hatte.
Sie öffnete langsam ihre Augen und starrte mich an. Striemen der grünen Flüssigkeit liefen an ihr herab, die Haare hingen nass über den Schultern und ihr Körper zitterte wie ein Fisch an der Angel. Ich half ihr auf die Beine und legte schnell meinen Mantel ab, um dem Mädchen das weiße T-Shirt überlassen zu können, das ich trug. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie etwas sagen wollte, aber kein Laut verließ den Mund. Das Hemd war lang genug, um ihr über die Knien zu fallen, und kurz darauf hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Mir selbst wurde die Situation immer unangenehmer, denn mir war der zweite Tank nicht entgangen, der im hinteren Teil des Labors gestanden hatte, offensichtlich aber schon seit Jahren nur noch aus verbogenem Metall und zersplitterten Glas bestand.
„Du bist… sicher.“, sagte ich mit einem Ausmaß von fehlender Überzeugung, das sogar einen Optimisten ins Zweifeln gebracht hätte, einfach weil mir weiß Gott nichts anderes einfiel, was ich in diesem Moment hätte sagen können. Bald verstand man ihr Flüstern, und meine Augen weiteten sich, als sie mich anschaute und in mein Ohr sprach, als sei ich ein alter Freund.
„Ihr seid … zurückgekehrt.“, sagte sie mit Freude auf dem blassen Gesicht, „Ist der Krieg vorbei … Kommandant Mullen?“
Fortsetzung folgt... bei Interesse. :rolleyes:
Meine Blicke gleiten den Fenstersims entlang und beobachten jene Schneeflocken, die vom Winterwind durch die Luft gewirbelt werden. Ich stelle mir ihre Gesichter vor, von Furcht verzerrt, aus Angst vor dem Boden, der ihr unausweichliches Ende im grauen Einerlei der Matschmassen besiegeln wird. Kreischend gehen sie auf dem Asphalt hernieder und verlieren augenblicklich ihre Konsistenz. Im nächsten Moment gibt es keinen Hinweis mehr darauf, dass sie jemals existiert haben, die Schreie sind auf ewig verhallt und keine Seele wird sich ihrer erinnern.
Ich halte mir die Stirn und schüttle den Kopf, lächelnd darüber, dass mir solche Gedanken noch immer kommen, Gedanken, die von den meisten Leuten nach der Pubertät verdrängt werden. Ich war keine Ausnahme von diesem natürlichen Schutzmechanismus, gewiss nicht. Jedenfalls nicht bis zu jenem Tag.
Meine Augen wandern wieder zu dem eisigen Schneewetter, denn es weckt Erinnerungen, die ich vielleicht hätte lieber vergessen sollen. Aber das ist nicht meine Natur. Ich bin Wissenschaftler, ich vergesse nicht, ich verdränge nicht. Ich öffne die Augen für alles, was da noch kommen mag, und wenn es noch so schrecklich sein mag.
Lassen sie mich ihnen eine Geschichte erzählen.
Die Geschichte von einer Schneeflocke.
Einer Schneeflocke, die den Boden vielleicht niemals erreichen wird.
- Isaac Mullen -
Puppenhaus
12. November 1998
Zu einer Stunde, in der die Disco-Teenies bereits bewusstlos in ihren Ausscheidungen lagen und die anderen Menschen noch lange nicht vom Aufstehen träumen konnten.
Draußen in der Nacht war es stockdunkel, so konnte ich den Schnee, der leise und rhythmisch vor dem Fenster umherwirbelte, nur erahnen. Ich saß in meinem Zimmer und war verdammt müde. Diese Räumlichkeiten hatten sich ihren Ruf nicht gerade durch peinliche Ordnung erworben, aber in diesen Tagen glichen sie einem Schlachtfeld, einem sehr unordentlichen Schlachtfeld, um genau zu sein.
Es gelang mir, den Blick kurz von dem flackernden Bildschirm und den unzähligen Ausdrucken zu reißen. Das Chaos war erdrückend. Ich kratzte mir am blonden Kinnbart und nahm eine leere Pizzaschachtel, mit dem guten Willen, ein wenig aufzuräumen. Nach einem Blick hinein wurde mir klar, dass irgendjemand auf diesem Schlachtfeld mit Biowaffen hantiert haben musste. Angewidert ließ ich die Pappe fallen und verwarf die Pläne von einem friedlichen Zimmer erst einmal wieder.
Eine einfache Nachricht verhinderte nun schon seit geschlagenen 48 Stunden jeden Schlaf. Es war nur eine E-Mail gewesen, in einem ganzen Schwall von Informationen, die mein Freund Hermann für mich aus den Weiten des Internets gesucht hatte. Wir beide waren Archäologen, aber er war einfach zu faul, um den Spuren, die er fand, selbst nachzugehen. Und, um ehrlich zu sein, waren seine Entdeckungen bis dahin auch äußerst zweifelhaft gewesen.
Der größte Erfolg, den Hermann vorzuweisen hatte, war die Auflösung eines gefährlichen Satanskultes, der sein Unwesen auf dem Westfriedhof getrieben hatte. Ich war der Sache nachgegangen und musste selbstverständlich feststellen, dass es sich bei den vermeintlichen Teufelsanbetern nur um eine Gruppe jugendlicher Gothics handelte. Die Eltern der kleinen Möchtegern-Rebellen waren trotz allem sehr glücklich, als sie erfuhren, wo sich ihre Lieben so die Nacht über herumtrieben. Eine alte Mutter hatte mir sogar eine selbstgetöpferte Blumenvase geschenkt, also konnte man es wohl als Errungenschaft bezeichnen.
Diesmal jedoch war alles anders. Die E-Email bestand aus wenigen unerheblichen Worten Hermanns und aus zwei Anhängen. Der erste zeigte einen alten Kartenausschnitt, der mit den eindeutigen Linien einer Feldkarte des Militärs gekennzeichnet war, der Zweite dagegen war der Scan eines Briefes, das Datum darauf, die Schriftart und auch gewisse andere „subtile“ Hinweise ließen erahnen, dass die Nachricht etwa 60 Jahre alt war.
Sehr geehrter Herr M…
(An dieser Stelle hatte der Zahn der Zeit den Rest des Namens ausgetilgt.)
Ressourcen und Zeit sind zu knapp.
Puppenhaus ist fehlgeschlagen.
(Auch hier mochten ehemals noch ein paar Sätze mehr gestanden haben, aber das Papier war bis zur Unkenntlichkeit vergilbt, nur ein selten glücklicher Zufall hatte die vorangegangenen Zeilen sichtbar erhalten.)
24. September 1942
(Hier retuschiere ich mal den Nazi-Gruß weg, den der zweifelhafte Absender dem mindestens ebenso zweifelhaften Empfänger zukommen ließ, ganz im Geiste seiner Zeit...)
Dr. Gregor Hausmann
Hermann hatte die Dokumente auf dem alten Speicher eines Hauses gefunden und sie nur eingescannt, falls ich tatsächlich Interesse daran haben sollte. Gewiss, es gab genügend Modefaschisten, die solche Gerüchte in den Umlauf brachten, um die Zeit des Nationalsozialismus zu dramatisieren, aber keiner dieser Braunköpfe würde jemals auch nur zugeben, dass das Wort „Puppenhaus“ zu seinem Wortschatz gehörte, selbst in diesem Zusammenhang klang es ja noch lächerlich. Es war viel zu stupide und langweilig, als dass es eine Fälschung hätte sein können.
Ich hatte ein Gespür für interessante Angelegenheiten, und obgleich das eine neue Erfahrung hinsichtlich Hermanns „Entdeckungen“ darstellte, war ich aufgeregt. Seit vier Tagen durchforstete ich nun schon die Bibliotheken, das Internet und alle anderen Quellen, die mir in den Sinn kamen. Ich schickte sogar eine Rundmail mit dem Titel „Puppenhaus“. Als mich die ersten Antworten erreichten, bereute ich es ein wenig.
- Na, Isaac, bist ja auch schon fast 30, wird auch langsam Zeit, dass du dich zur Ruhe setzt und eine Familie gründest. =P
- Aha, Historik nennt man so was also heute? xD
- Puppenhaus nicht, aber ich hab noch ne Kiste Playmobil auf dem Dachboden. ^^’’
Ich lächelte nur verschmitzt. Hätten diese Leute damals gewusst, was es mit dem unglückseligen Namen auf sich hatte, wären ihnen ihre verdammten Smilies in der Tastatur stecken geblieben.
Ich fand letztendlich überhaupt nichts heraus, was meine Vorfreude nur noch mehr steigerte, denn ich wusste, wohin mich das Ganze führen würde. Die einzige Information, die mir zugespielt worden war, stellte eine Kurzbiographie über die Jugend des Doktor Hausmann dar, allerdings mit zweifelhaftem Wert, denn seit Beginn des zweiten Weltkrieges war er wie vom Erdboden verschluckt, wenn es sich überhaupt um den richtigen Hausmann handelte. Zudem konnte ich herausfinden, welchen Fleck die Karte darstellte.
Als am 12. November die Sonne aufging, schlief ich tief und fest. Mein Schnarchen sollte den Nachbarn noch bis zum Morgen des nächsten Tages an den Nerven zerren, denn ich musste wach sein. Nach achtzehn Stunden geruhsamen Schlaf war ich es.
Und ich hatte wieder ein Ziel.
13. November 1998
Der alte VW schleppte sich ächzend durch die Wälder Brandenburgs. Ich war in Gedanken versunken, während die Schneeflocken vor mir die Landschaft in Weiß tauchten. Am Straßenrand hatte sich eine hässliche Matschmauer gebildet, die mich ein wenig an die Alpen erinnerte, aber weiter oben blendete der Schnee förmlich alle Blicke.
Vier Stunden waren bereits vergangen. Die Karte war zwar alt, gewiss, aber ich hatte trotzdem gehofft, das Anwesen zu finden, welches nur durch ein einfaches Viereck mit einer Einfahrt dargestellt worden war. Die Luftaufnahme war eindeutig an diesem Gebäude justiert worden, und so würde es zweifellos einige der offensichtlichen Fragen beantworten können.
Plötzlich schluckte ich, denn mir wurde etwas bewusst. Es konnte durchaus sein, dass das Haus nach dem zweiten Weltkrieg von den Russen enteignet worden war, und ich wusste auch, dass es in den Wäldern eine Menge alter Kasernen aus dieser Zeit gab, die man dann später nach dem Mauerfall einfach verlassen hatte. In den wenigen Momenten, in denen der Brandenburger Wald und die Schneedecke gleichermaßen licht gewesen waren, hatte ich auf dem Weg auch schon die eine oder andere Ruine gesehen, die sich zwischen den Bäumen erhoben hatte, wie eine Warnung der Natur, dass selbst Stahlbeton den Wurzeln und Ranken der Pflanzen nachgeben musste. Ein wenig Pech, und die Geschwister Hammer und Sichel hatten das alte Gebäude vernichtet, um Platz für einen Schießplatz zu schaffen. Ich verzog das Gesicht wegen des dümmlichen Wortspiel und stellte mir vor, wie eine Menge an Leuten (die selbstverständlich alle wie Karl Marx aussahen) mit Sicheln in der Hand auf ein Gebäude einhoben. Dann warf mich etwas aus meinen kommunistischen Träumen und ich bremste den Wagen. Eine Wegbiegung, aber ich erkannte sie, denn sie stellte das winzige Stück Straße dar, welches man auch auf der Karte sehen konnte.
Der Wind pfiff durch die offene Tür, als ich ausstieg und mir den beigen Trenchcoat überzog. Die Haare waren zu einem langen Pferdeschwanz gebunden und unter dem Mantel verborgen, meine Brille ruhte auf der Nase und wurde sofort von einer Schneeschicht empfangen. Resigniert verstaute ich das Utensil in einer Tasche und schloss den Wagen ab. Das Geäst war dicht gewachsen, die auf der Karte verzeichnete Einfahrt war nirgends zu sehen, überhaupt erkannte ich außer Schnee und ein wenig Baum nicht besonders viel. Prüfend verglichen meine Augen die in meiner Hand umherflatternde Karte und die Realität, bis ich schließlich etwas bemerkte. Einige Pflastersteine waren zu sehen, und obwohl sie hauptsächlich dem Moos als Gehweg dienten, waren sie gewiss einmal von Menschen eingelassen worden. Hatte man diese Steine erst einmal entdeckt, war auch zu erkennen, wo der Weg früher entlang geführt hatte, obgleich er nun vollkommen überwuchert war. Ich begann, mich durch das schneebedeckte Dickicht zu kämpfen, denn nun gab es eine relative Sicherheit, dass wenigstens das Anwesen einmal existiert hatte. Hinter mir verschwand der VW langsam aus meinem Sichtfeld und ließ mich einen Schritt zulegen, denn die letzten Sonnenstrahlen würden sich nicht mehr lange halten. Zur Sicherheit hatte ich noch ein Sturmfeuerzeug und einige andere nützliche Sachen eingesteckt, die mir schon mehr als einmal geholfen hatten.
Der Weg war beschwerlich, in der Vorstellung kämpfte ich mich nach einiger Zeit nur noch mit Tropenhut und Machete durch einen tiefen Dschungel. Die Realität hatte zum Glück weder giftige Pflanzen noch exotische Tiere zu bieten, aber die verworrenen Äste und Bäume sowie der eisige Wind waren ebenfalls eine ordentliche Herausforderung. Dann verschwand die obskure Intention eines Indiana Mullen ebenso ruckartig wie sie gekommen war, denn ich erkannte hinter dem Schneefall eine dunkle Silhouette, die sich gen Himmel streckte. Ich beeilte mich, denn die Neugier hatte meine Schritte beflügelt.
Dann sah ich es.
Auf der Karte war das Anwesen, das ich in Gedanken Puppenhaus nannte, nur ein schraffiertes Viereck. In Wirklichkeit aber war es eines der schönsten Gebäude, die ich jemals gesehen hatte. Man konnte den Barockbau etwa in das 17. Jahrhundert schätzen, die großen Fenster und reich verzierten Fassaden zeugten von Prunk und vom Reichtum des Besitzers, aber auch vom ästhetischen Verständnis des Bauherrn. Oben auf den Giebeln wachten steinerne Wasserspeier über das Dach, lange, marmorne Säulen hoben sich über alle drei Etagen empor und eine dunkle Treppe führte graziös hinauf zur Hauptpforte.
Plötzlich zuckte ich zusammen, denn etwas berührte mich an der Schulter. Ich wollte gerade beiseite springen, als ich realisierte, was der Grund meiner Angst gewesen war. Neben mir stand eine große Statue, beinahe drei Meter hoch, auf einem marmornen Sockel mit seltsamer Ornamentik. Die Furcht war verschwunden, und stattdessen übernahm Verblüffung ihren Part. Das Bildnis zeigte eine Frau, die ihre Arme zum Himmel ausgebreitet hatte. Wallende, marmorne Haare bedeckten schwungvoll den ganzen Körper und stilisierte Tränen liefen ihr aus den leeren, aber sehnsüchtigen Augen. Ich war außer mir, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Obwohl die Gestalt mit Sicherheit eine Göttin darstellte und gewisse engelsgleiche Züge aufwies, fehlten ihr die typischen Merkmale, um dem Geist eines christlichen Bildhauers entsprungen zu sein, auch sonst war mir keine Religion bekannt, die solche Götzen verehrte. Die Reise hatte sich bereits jetzt gelohnt. Als ich mich von dem ersten Schock erholt hatte, realisierte ich, dass die weinende Frau nicht alleine war. Der Weg hin zum Anwesen war durch drei solcher Statuen begrenzt, und ein zerstörter Sockel ließ vermuten, dass es einmal vier gewesen sein mussten. Teilweise waren die Bildnisse schon stark angeschlagen, über den Körper der einen hatte sich eine dicke Moosdecke gelegt, einer anderen fehlte der linke Arm. Ich schüttelte in meiner Verwunderung den Kopf und machte mich auf den Weg zur Marmortreppe.
Die ebenhölzerne, kunstvoll gefertigte und reich verzierte Tür hatte der brachialen, über Jahrtausende hinweg perfektionierten Arbeit einer Brechstange nicht viel entgegenzusetzen. Ich nickte zufrieden, als sich die Flügel beiseite schieben ließen, mit einem Geräusch, das niemals das Öl gekannt hatte. Hinter mir schloss ich die Pforte wieder und sperrte so den eisigen Wind aus, woraufhin sich eine gespenstische Stille über die Eingangshalle legte, in der ich mich befand. Die Vorhänge an den riesigen Fenstern bewegten sich leicht und schützten so den Innenraum an den Stellen, wo das Glas gebrochen und auf dem Boden verteilt war. Es wurde bereits dunkel und ich hatte die Kontur einer alten Petroleumlampe in einem kleinen Schränkchen erkannt. Ich nahm eine Flasche aus dem Schrank. Obgleich das Etikett uralt war, bestätigte es meine Vermutung. Im Schein der allerletzten Sonnenstrahlen füllte ich den Alkohol in die Lampe und entzündete den Blechleib mit dem Sturmfeuerzeug.
Das Licht schwappte durch den Raum und hüllte ihn in einen unheimlichen Glanz. Wie ich aufgrund des Knarksens unter meinen Füßen schon vermutet hatte, bestand der Boden aus uralten Holzdielen, die an manchen Stellen schon vermodert waren und einen Blick auf das Fundament freigaben. Der Raum war gewiss sieben Meter hoch, und neben einem großen, mit Spinnenweben bedeckten Kronleuchter war es vor allem der Kamin, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Betrat man das Anwesen, stand man auf einem weinrot-goldenen Teppich, der bereits an vielen Stellen zerschlissen war, und schaute direkt auf das Marmorgebilde an der gegenüberliegenden Wand. Links und rechts schlängelten sich zwei Treppen nach oben auf einen Absatz, der sich noch in Dunkelheit hüllte. Der Kamin war eine beeindruckende Arbeit, der Kopf eines Hundemonsters starrte den Besucher bösartig an, seine Tatzen begrenzten die Feuerstelle auf drohende, unmissverständliche Weise. Ich ging leise darauf zu und hinterließ bei jedem meiner Schritte eine Fußspur in der Staubschicht.
Seit wie vielen Jahren war ich wohl der erste Mensch, der dieses Anwesen von innen begutachten konnte?
Ein näherer Blick auf den Kamin beantwortete diese Frage, denn der letzte Haushalter hat ein, im Vergleich zu der edlen Arbeit des Marmorflammenstuhls, lächerliches Ornament hineinschlagen lassen. Es mutete beinahe abstrakt an, wie der Reichsadler direkt unter der Fratze des Hundegeschöpfes im Marmor lag, das Hakenkreuz direkt darunter. Wären die Kommunisten die letzten Besitzer gewesen, hätte man die faschistische Symbolik gewiss nicht toleriert, und sei es nur, um den kunstvollen Kamin wieder ins linke Licht zu rücken.
Trotz dieser Verschandelung waren die ersten Fragen beantwortet, irgendein Nazi-Oberer hatte also seine schwammigen Füße zuletzt auf diesem Teppich ausgestreckt, kein schwammiger SED-Parteifunktionär, wie ich erst erwartet hatte. Dann fiel mir noch etwas auf. Gleich über dem Kamin hing die dunkle Tapete von der Wand und hielt den Blick des Betrachters auf einem Vers fest, den eine scheinbar ungeübte Hand mit einem spitzen Gegenstand in das Holz geritzt hatte.
Die kleinen Mütter sind längst erloschen, aber wenn die große Tochter wieder strahlt, wird es hell im Puppenhaus.
Ich runzelte die Stirn. Was für eine verworrene Situation, erst das Gebäude im Barockstil, dann Nazi-Ornamente im Kamin und nun mystische Sprüche darüber. Meine Vermutung, dass dieses Gebäude tatsächlich den Beinamen Puppenhaus trug, bestätigte sich, obwohl es den Grund noch herauszufinden galt.
Es war ein Rätsel.
Ich war schon immer ein illusionierter Junge gewesen, aber in diesem Moment versiegte der Glaube an einen Kinderreim und ich war mir vollkommen sicher, dass jener Vers ein Geheimnis barg. Mit der großen Tochter war angesichts des Fundortes wohl der Kamin gemeint, wenn auch zu bezweifeln war, dass man ihn entzünden sollte. Ich stutzte. Der Gedanke hatte mich einen Blick auf die Feuerstelle des Kamins werfen lassen, aber nun bemerkte ich, dass hinter dem schwarzen, kleinen Gitter nicht einmal mehr Rußspuren waren. Entweder war das Gebilde nur zur Dekoration, oder aber es steckte mehr hinter dieser Angelegenheit. Nachdem ich alles an dem Marmorkonstrukt noch einmal gründlichst und ohne Ergebnis untersucht hatte, ließ ich den Blick durch das Zimmer schweifen.
Die kleinen Mütter… Eine Couch für Besucher stand da, ebenso zwei Bücherregale und einige Hocker. Nichts davon passte in meinen Gedanken zu den kleinen Müttern, nicht einmal mehr die Fenster. Trotz allem ignorierte ich die Türen, welche mich in weitere Gemäuer führen würde, dieses Rätsel würde zuerst eine Antwort bekommen. Die Schritte halten leise wieder, als ich die Treppe emporstieg, dann stoppte ich. Auf dem Absatz war eine weitere Doppeltür, wundervoll verziert. Meine Logik jedoch behauptete, dass dies völlig unmöglich war! Sofern ich es von draußen erkennen konnte, war das Puppenhaus nicht sonderlich lang gewesen, und in welchen Raum diese Türen auch immer führten, er konnte nicht sonderlich groß sein, was vor allem in Anbetracht der wunderbaren Pforte seltsam schien. Ich beschloss, erst einmal bei einem Geheimnis zu bleiben und schaute mich um. Wieder einige Hocker, wieder zwei Regale, nichts besonderes, einige Gemälde, deren Maler mir alle fremd waren. Allerdings…
Ich schritt zu der Wand und stellte mich auf die Zehenspitzen, um die kleinen Lampen näher zu betrachten, welche daran angebracht waren. Ich war verblüfft, als ich in ihnen eine Lunte erkannte, die in einer langen Messingschale aus der Wand ragte. Kurz entschlossen entzündete ich beide Lichter, abermals mit Alkohol und Feuerzeug.
Ich war enttäuscht, dass nichts geschah, bis ich ein leises Zischen hinter der Wand hörte.
Dann schien das ganze Haus zu beben.
Panik ergriff meinen Verstand, denn welchen Mechanismus ich auch immer in Gang gesetzt hatte, er war gewiss nicht so geplant, dass das marode Haus ihm standhalten konnte. Nach einigen Sekunden jedoch atmete ich erleichtert aus, obwohl ein wenig Putz auf mein Haupt gerieselt war. Erst war nicht zu erkennen gewesen, was nun eigentlich stattgefunden hatte, doch dann erinnerte ich mich des Verses und eilte die Treppe hinab. Der Kamin brannte. Oder besser gesagt, er brannte nicht. Im Kopf des Hundemonsters war eine Flamme entzündet worden, die sein Gesicht in einen noch bedrohlicheren Ton tauchte. Dort, wo jeder vernünftige Mensch eigentlich die Feuerstelle vermutet hätte, klaffte nun eine Treppe, die in die Dunkelheit führte. Die Tatzen des Monsters hatten sich einladend nach außen gewunden, als sei es eine Belohnung für die Lösung dieses Rätsels und ich musste grinsen. Dieses Anwesen wurde immer interessanter, und meine Verwirrung wich der Neugier.
Vorsichtig, mit der Petroleumlampe voran, schritt ich die Treppe hinab. Die Wände waren aus Beton gegossen, und so lag die Vermutung nah, dass sie nicht halb so alt wie der Rest des Gebäudes waren. Plötzlich stieß meine Zehnspitze gegen etwas, vor Schreck glitt mir das Licht aus der Hand. Es polterte mit einem gewaltigen Echo die Stufen herab und erlosch dann.
Stille.
Eine ungewisse Angst erfüllte meine Gedanken, das erste Mal, seit ich dieses Haus betreten hatte. In der Dunkelheit wurde mir klar, dass ich nicht einmal wusste, was ich hier unten suchte, und dieser Gedanke, oder eher der Gedanke daran, was ich finden würde, ließ einen kalter Schauer über meinen Rücken laufen. Dann lächelte ich jedoch, in der Gewissheit, dass mich keine Angst der Welt hiervon abhalten konnte. Langsam führten mich meine Schritte weiter in die Finsternis hinein, bis die Treppe schließlich endete. Mein Fuß berührte die Lampe. Ich bückte mich und wollte sie aufheben, als ich plötzlich eine Leitung ertastete. Verwirrt entfachte ich das Sturmfeuerzeug und staunte bei dem Anblick, denn die armbreiten Kabel kamen aus der Wand und führten… Ich erstarrte.
Und wenn ich das Wort „erstarren“ in dieser Erzählung bisher schon einmal verwendet haben sollte, war es ungebracht, denn in diesem Moment konnte ich nicht einmal mehr atmen.
Vor mir erhob sich ein riesiges, metallenes Konstrukt, es mutete im flackernden Schein des Feuerzeuges wie ein Milchtank an. Allerdings hätte man eine sehr, sehr große Kuh benötigt, um den Behälter zu füllen, und so verwarf ich den absurden Gedanken schnell wieder. Die Leitungen, welche aus dem ganzen Haus zu kommen schienen, führten an allen Enden in den Kanister, aber das seltsamste war die grünliche Fläche, die vor langer Zeit einmal eine Scheibe gewesen sein mochte. Ich ging näher heran und mein ganzer Körper zitterte, als ich die Hand auf das Glas legte. Es war so verkrustet, dass man kaum hindurch schauen konnte, ein fester Metallrahmen mit dicken Nieten hielt es an dem Tank. An manchen Stellen hatte das Unkraut bereits die Betonschicht überwunden und wuchs mit den Wurzeln zwischen den Spalten und Ecken hervor.
Ich strich langsam die Staubschicht bei Seite, stolperte dann aber mit einem unterdrückten Schrei zurück.
Zwei geschlossene Augen, eingebettet in blasse Haut und lange Haare, die wie Tentakel durch die grüne Flüssigkeiten quollen. Ein paar weitere, vorsichtige Bewegungen offenbarten, was ich befürchtet hatte. Ein kompletter Körper war in den Tank eingelassen, ein Mädchen, das bei ihrem Tod vielleicht zehn Jahre alt gewesen war. Ich wollte mich umdrehen und dieses obskure Gruselbkabinett so schnell wie möglich wieder verlassen, als mich ein Gefühl ergriff. Es gab keine rationale Überlegung und in diesem Moment auch keine Angst. Entschlossen hob ich eines der Schuttteile vom Boden auf und rammte es unter lautem Krachen in die Glasscheibe. Jegliche Flüssigkeit schwoll wie Blut aus dem Kanister und benetzte meinen Arm, bevor sie zwischen den Ritzen des Bodens und dem Unkraut verschwand. Die Gestalt des Mädchens fiel aus ihrem Gefängnis und lag reglos auf dem Boden. Ich wollte den Blick abwenden, doch es gelang mir nicht.
Dann, nach einigen endlosen Augenblicken, geschah, was ich wohl in meinem tiefsten Inneren gehofft hatte, obgleich natürlich der logische Aspekt in meinem Kopf dagegen gesprochen hatte.
Sie öffnete langsam ihre Augen und starrte mich an. Striemen der grünen Flüssigkeit liefen an ihr herab, die Haare hingen nass über den Schultern und ihr Körper zitterte wie ein Fisch an der Angel. Ich half ihr auf die Beine und legte schnell meinen Mantel ab, um dem Mädchen das weiße T-Shirt überlassen zu können, das ich trug. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie etwas sagen wollte, aber kein Laut verließ den Mund. Das Hemd war lang genug, um ihr über die Knien zu fallen, und kurz darauf hatte sie sich einigermaßen beruhigt. Mir selbst wurde die Situation immer unangenehmer, denn mir war der zweite Tank nicht entgangen, der im hinteren Teil des Labors gestanden hatte, offensichtlich aber schon seit Jahren nur noch aus verbogenem Metall und zersplitterten Glas bestand.
„Du bist… sicher.“, sagte ich mit einem Ausmaß von fehlender Überzeugung, das sogar einen Optimisten ins Zweifeln gebracht hätte, einfach weil mir weiß Gott nichts anderes einfiel, was ich in diesem Moment hätte sagen können. Bald verstand man ihr Flüstern, und meine Augen weiteten sich, als sie mich anschaute und in mein Ohr sprach, als sei ich ein alter Freund.
„Ihr seid … zurückgekehrt.“, sagte sie mit Freude auf dem blassen Gesicht, „Ist der Krieg vorbei … Kommandant Mullen?“
Fortsetzung folgt... bei Interesse. :rolleyes: