toho
12.06.2007, 22:45
nach längerer zeit mal wieder was...viel spass.
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„Ihr könnt euch alle ficken! Ihr seid alle Tot!“
Der Mann auf dem Dach schrie die Menge, die sich zwanzig Meter unter ihm versammelt hatte, mit heiserer, von Hass und Schmerz verzerrter Stimme an. Tränen schossen aus seinen Augen, als er die Pistole an seinen Kopf setzte. Er drückte ab.
Es klickte. Einen Moment lang schien er aus dem Konzept gebracht. Ein Ungläubiger Ausdruck trat in sein Gesicht, und er verharrte einige Sekunden. Die Menge schien den Atem anzuhalten. Der Mann schloss die Augen und spannte seinen Zeigefinger. Er drückte den Abzug, und dieses Mal traf der Bolzen keinen Blindgänger. Sein Kopf wurde zur Seite geworfen, die Menge schrie auf, und Blut spritzte auf die graue Betonfläche des Flachdaches. Wenig später traf die Polizei ein und zerstreute die Schaulustigen.
1
„Er hat was getan?“
Der Angestellte sah nun deutlich nervös aus.
„Nun ja, Sir. Ähem. Er hat sich sozusagen…also. Er hat sich erschossen.“.
„Warum, zur Hölle, hat er sich erschossen?“
Führer stand von seinem Thron auf. Er mochte seinen Thron. Er sah ihn weniger als Statussymbol, als vielmehr als bequeme Sitzgelegenheit. Es war ein schöner Thron. Mit schwarzem Samt überzogen, und mit einem weichen Sitzkissen gegen seine von Zeit zu Zeit auftretenden Hämorriden versehen. Er musste in seiner Eigenschaft als Vorsitzender viel sitzen.
Der Angestellte räusperte sich wieder.
„Also…offenbar war er…wie soll ich sagen…ausgesprochen Unglücklich mit seinem Leben. Er sah den Tod wohl als einzigen Ausweg. Er schrie „Fickt euch alle“ bevor er sich erschoss. Ach ja, und „Ihr seid alle Tot“ schrie er auch noch.“
Führer verzog einen Mundwinkel. Er tat dies mit ausgesprochener Eleganz.
„Wie vulgär!“
Der Angestellte widersprach nicht.
Führer begann auf und ab zu gehen.
„Hat er mit irgendjemandem gesprochen, bevor er…na ja, sie wissen schon?“
„Offenbar hat er einem Journalisten einen Aktenkoffer mit empfindlichen Daten gegeben. Offenbar gehörte der Journalist zu uns und vernichtete das Material. Offenbar. Wir wissen natürlich von nichts.“
Führer murmelte:
“Das ist gut…sehr gut. Das freut mich. Ja, das freut mich. Ich hätte gerne einen Tee, denke ich. Schließen Sie sich mir an?“
„Tee wäre gut, Sir."
Der Tee war zu heiß. Führer ließ ihn von der Männlichen Sekretärin, die ihn gebracht hatte, in den Kühlschrank stellen und begann wieder herumzuwandern.
„Bedauern Sie seinen Tod, Angestellter?“
Der Uniformierte zögerte. Dann sagte er:
„Uhm. Ich kannte ihn nicht besonders gut, wissen Sie. Ich weiß, er war Ihr Sohn, und so. Aber nun ja. Ich kannte ihn nicht besonders gut. Er schien mir verwirrt.“
Führer nickte bedächtig.
„Ja, das war er. Verwirrt. Verwirrte Leute pflegen manchmal, dumme Dinge zu tun. Sich den Kopf wegzuschießen, zum Beispiel. Zum Glück wurde kein Schaden angerichtet. Wie kam er überhaupt an die Daten?“
„Es wird vermutet, das er eine Affäre mit einer der Laborgehilfinnen hatte, Sir. Sie wurde bereits entlassen. Den Angestellten, der sie entlassen hat, haben wir auch entlassen. Er war etwas Taktlos. Ich glaube, er sagte so etwas wie „Ihr Geliebter ist tot und Sie sind Schuld. Kommen Sie nie wieder. Sie sind Fristlos entlassen.“ Dem Oberaufseher Gordon gefiel das wohl nicht. Er…“
Der Angestellte brach abrupt ab. Er schalt sich innerlich, weil er Führer mit unwichtigen Details belästigte.
„Ah ja! Taktlosigkeit ist auch wirklich etwas, was man nicht durchgehen lassen sollte. Wir sollten Gordon befördern.“
„Es wird geschehen, Sir.“
„Sie können nun gehen, Angestellter.“
Der Angestellte Blickte verwirrt.
„Und…ähm. Der Tee, Sir?“
Führer blickte verdutzt. Er schien nachzudenken.
„Lassen Sie ihn sich einpacken. Guten Abend.“
„Guten Abend, Sir.“
Der Angestellte verließ das Konferenzzimmer.
Führer lies sich seufzend in seinen Thron sinken. Der dumme Junge. Er vermutete, dass er ihn vermissen würde. Er wusste es nicht genau. Er hatte noch nie ein Kind verloren. Aber er hatte gehört, dass so etwas schlimm war. Er fragte sich, ob das auch für ein Drogensüchtiges Balg galt, dass eine Affäre nach der anderen hatte und sich einen Dreck um die Belange seines Vaters kümmerte. Er seufzte wieder.
Incorp Inc. war eine der kleinsten Firmen des Mondes. Führer hatte sie vor gut fünfzehn Jahren von seinem Vater übernommen und hatte Spaß daran, sie zu leiten. Er hatte nie das Verlangen gehabt, sie größer zu machen, als es ihrem Potenzial entsprach. Er war genügsam, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Er handelte einfach, und dachte nicht allzu viel nach. Seine Angestellten suchte er persönlich aus, was dazu geführt hatte, das er lauter Männer und Frauen beschäftigte, die zwar nicht direkt Naiv, aber von einer unumstößlichen Ehrlichkeit und ohne jeglichen Ergeiz, mehr zu tun, als Führer es verlangte, waren. Und Führer verlangte nicht viel. Er verlangte nicht einmal Loyalität. Erzwungene Loyalität war nichts wert. Da er all seine Angestellten Persönlich kannte, vertraute er ihnen ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass jemand Firmengeheimnisse ausplaudern könnte. Nicht, das es viele Geheimnisse gab. Umso erfreuter war er, das sein armer, dummer Sohn die Daten einem Mitarbeiter der Firma überreicht hatte, und nicht irgendeinem Sensationsgeilen Reporter.
Führer dachte an seinen Tee, rief die Sekretärin herein, und schlürfte zufrieden aus der flachen, weißen Tasse.
-
Sun war eine der kleinsten Esoterischen Sekten des Mondes. Ihre Mitglieder beschäftigten sich mit Außerkörperlichen Erfahrungen, Meditation im Allgemeinen, Selbsthypnose- und Programmierung, Drogen, Sexmagick und der Erprobung Spaßbringender Kombinationen all dieser Aktivitäten.
Suns Ziel war die ultimative Auflösung des Körperlichen. Die Mitglieder, oder besser Mitwirkenden, da es keine offizielle Mitgliedschaft gab, wollten reiner Geist werden und ohne Körperliche Bindung an den Raum existieren. Teleportation und ASW waren die grundlegenden Erfolge, die ein Mitwirkender erreichen musste, um als Weiser zu gelten.
Sun hatte bisher keine Weisen hervorgebracht, aber man arbeitete daran. Die Sekte war noch Jung, erst zwei Jahre alt. Sie steckte praktisch noch in den Kinderschuhen. Man durfte nicht zu viel erwarten.
Darüber, dass man nicht zuviel erwarten durfte, waren sich alle Mitwirkenden von Sun im Klaren. Die meisten waren auch gar nicht wegen den hohen Zielen der Sekte dabei, sondern weil es jede Menge Drogen und Sex gab. Trotzdem merkten die meisten nach einigen Wochen, dass die tägliche Meditation, die Atemübungen, und die Techniken zur Selbstprogrammierung durchaus nützlich für die Erhöhung des Spaßfaktors des eigenen Lebens waren.
Wenn ein Neuling den amtierenden Guru (der der Abwechslung wegen wöchentlich von einem anderen Mitwirkenden gespielt wurde) fragte, was denn nun mit der Teleportation und „dem ganzen Zeug“ (der normale Neuling war aus Gründen der Bildung meist nicht zu einer genaueren Ausdrucksweise fähig) sei, machte dieser meist keinen Hehl daraus, dass das Erreichen dieser Zustände zwar nett wäre, aber in naher Zukunft nicht unbedingt zu erwarten sei. Entweder verlies der Neuling dann die Sekte, oder er zuckte mit den Schultern und gab sich einem oder mehreren Sexualpartnern hin.
Insgesamt kann man guten Gewissens sagen, das Sun eine ungeführte Pseudo-Organisation mit einem Hang zur Faulheit war. Einige der hervorgerufenen Effekte waren selbst für die Welt des Ausgehenden 21 Jahrhundert recht wunderlich (betrafen aber meistens die Psychen der Mitwirkenden und waren so von eher gemäßigtem Interesse für die breitere Öffentlichkeit), aber die Sekte bot nichts, was nicht auch ohne sie hervorgerufen werden konnte. In Gesellschaft machte das Erforschen des eigenen Gehirnes und das Programmieren der individuellen Realität nur mehr Spaß und ging dank dem Austausch von Erfahrungen schneller. Nicht zu vergessen, das die Mitglieder alle Sexuell recht aufgeschlossen waren, was auf dem Mond dank vorherrschender katholischer Führung keine Selbstverständlichkeit war. Die katholische Kirche hatte dank ihrer übervollen Konten in der Mitte des 21 Jahrhunderts einen Großteil der Mondoberfläche eingekauft und war maßgeblich an den ersten Städtegründungen beteiligt gewesen. Auf der Erde hatte sie zwar längst einen großen Teil ihrer Wirtschaftlichen Macht eingebüßt (unter anderem wegen der vehementen Hetzkampagne gegen Dr. A.I Masulin, der 2012 das Heilmittel gegen AIDS erfand, zum Leidwesen einiger radikaler Mitglieder der Kirche, die AIDS mehr denn je als Strafe Gottes angesehen hatten), doch auf dem Mond „erstrahlte das Kreuz in neuem Glanze“, wie man sich auszudrücken pflegte, wenn man über die Heilige Mutter Kirche sprach. Die Päpstin hatte sogar eine eigene Fernsehsendung, in der sie einmal am Tag den universellen Segen sprach und praktische Rezepte für die Emanzipierte Hausfrau vorführte.
-
Neben Sun gab es eine weitere kleinere Sekte auf dem Mond. In derselben Stadt ansässig wie Sun, bot sie jedoch ein gänzlich anderes Erfahrungsspektrum, allerdings in denselben Disziplinen. Zumindest war es das, was ihr Meister den Mitgliedern erzählte.
Die Bezeichnung dieser Sekte war /g/. Das /g/ prangte, eingerahmt von einem Rot glühenden Kreis, über dem Eingang des Gebäudes, indem die Mitglieder zu Leben pflegten. Außerdem befand es sich auf jedem Vorhang und auf den meisten der sich im Gebäude befindenden Stoffdecken und sogar auf der Kleidung der Mitglieder. Jedes Mitglied hatte einen Speziellen Namen, den der Meister ihm mitteilte, nachdem der Anwärter eine Woche lang in einem Dunklen Raum, angeschlossen an ein Lebenserhaltungssystem, in einer art von künstlichem Koma verbracht hatte. Dies war /g/s gängige Methode zur Tiefenmeditation. Der Aufgenommene (und niemand wurde jemals abgelehnt) musste diesen Namen stets gut sichtbar unter dem /g/ Symbol auf seiner Oberbekleidung tragen, um stets mit seinem Mystischen Namen angesprochen werden zu können, auch von Mitgliedern, die ihn noch nicht kannten. Dies beugte Verständigungsproblemen vor, meinte der Meister. Außerdem gewöhnte der Neuling sich auf diese Weise schneller an seinen Namen.
Die Ziele von /g/ waren den meisten Mitgliedern unbekannt. Sie versprachen sich Persönlichen Erfolg oder Anerkennung, dauerhafte Sexuelle Befriedigung oder einfach nur ein interessanteres Leben. Mit all diesem warb /g/. In dieser Hinsicht war sie allen anderen Sekten gleich (außer Sun, die keinerlei Werbung machten. Sie interessierten sich nicht dafür. „Wer kommt, der kommt.“ war ein Lieblingsspruch von Sun Mitwirkenden.), und aus eben diesem Grund wurde /g/ langsam erfolgreicher und wuchs. Man munkelte gar, dass ein zweites Schlafhaus angebaut werden würde, wenn es weiterhin bergauf ging.
/g/s Stern war tatsächlich am steigen.
-
Führer lies sich in die weichen Decken fallen, die das harte Bett bedeckten. Dabei stieß er sich den Hinterkopf an, verzog die Mundwinkel und stellte den Schmerz mit einem geschickten Kniff seines rechten Mittelfingers in den Nacken ab. Dann seufzte er wohlig, schloss die Augen und dachte nach. Das hatte er in den letzten Stunden ungewöhnlich oft getan. Er wusste nicht genau, was ihn dazu brachte, nachzudenken, aber er hatte ein mieses Gefühl im Bauch. Irgendetwas lief schief. Nachdem er seinen Tee getrunken und ein wenig Papierkram erledigt hatte, war dieses seltsame Gefühl in ihm aufgestiegen, das er nicht so recht einordnen konnte. Er vermutete, das es irgendwas mit den Daten zu tun hatte, aber was? Sie waren wieder da und sein Sohn hatte sie, soweit Führers Mitarbeiter das feststellen konnten, nicht kopiert. Außerdem waren sie nicht einmal besonders wichtig. Warum hatte der dumme Junge gerade diese Ordner gestohlen?
Vielleicht war es das. Es fühlte sich zumindest richtig an. Führer drehte sich grummelnd auf die Seite. Er sabberte ein wenig, wie er es vor dem Einschlafen immer tat. Sein Gehirn war bereits halb in die Traumwelt abgedriftet, und er lies zu, das seine Augen sich schlossen. Er würde einfach einen Agenten in die Wohnung seines Sohnes schicken. Der sollte sich das noch einmal alles genau angucken und am besten Fotos machen. Ja, das war gut. Fotos waren gut. Dann konnte er selber gucken.
Er schlief ein. Der Sabber tropfte auf die weiche Decke.
Am nächsten Morgen lies Führer sich von seinem Lieblinksangstellten in der Frage des zu schickenden Agenten beraten. Offiziell beschäftigte Incorp Inc. keine Agenten, aber offiziell war so eine Sache. Incorp hatte einige ehemalige Journalisten und Polizisten auf der Gehaltsliste, die nun als Büro- oder Sicherheitskräfte arbeiteten. Führer wählte eine Journalistin aus, die, nach den Angaben seines Lieblingsangestellten, besonders aufmerksam war. Sie hatte die Fotos vom toten Dalai Lama gemacht, als dieser beim Morgendlichen Frühstück in einer Tasse Haferschleim ertrunken war. Die Journalistin hatte gerade ein gemütliches Interview mit dem alten Mann geführt, als dieser urplötzlich einen Herzinfarkt erlitten hatte. Sie verlor zwar wegen unethischer unterlassener Hilfeleistung ihren Job, aber das Foto ging um die ganze Welt. Führer hatte sie, nachdem sie wieder aus den Medien verschwunden war, in seine kleine Firma aufgenommen. Ihr Name war Angela.
-
Sam war in dieser Woche der Guru.
Er trug einen lustigen Hut auf dem Kopf, den er aus alten Konservendosen zusammengeschweißt und mit Gläsernen Murmeln gefüllt hatte. Dies war seine Art zu sagen: „Hier bin ich!“ Er trug diesen Hut nur 2 Stunden am Tag, während der Audienzen, die er zu gewähren beliebte. Es war ein Heidenspaß, den Kopf zu schütteln, wenn jemand eine einfache Frage stellte. Nun ja, stellen würde. Denn bisher war niemand aufgetaucht, um seinen Rat einzuholen. Sam war nicht enttäuscht. Irgendwann würde jemand kommen und ihn um Hilfe bitten. Er klackerte ein paar Mal mit dem Hut und erklärte die Audienz lautstark für beendet. Dann setzte er ihn ab, ging in seine kleine Hütte, die am Rande des Sun-Geländes stand, und nahm eine Kopfschmerztablette.
Mary lag auf ihrer Matte und lauschte einem alten The Beatles Album. Die Stimme schien in ihren Schädel einzudringen und den Raum zu verdrängen, der sie unzweifelhaft umgab, und von dem sie zu jeder Zeit einen gewissen Teil einnahm.
Turn off your mind, relax and float down stream…it is not dying…it is not dying...
Mary lauschte. Dann lauschte sie nicht mehr. Dann machte es “plopp“, und Mary war verschwunden.
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Wird fortgesetzt.
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„Ihr könnt euch alle ficken! Ihr seid alle Tot!“
Der Mann auf dem Dach schrie die Menge, die sich zwanzig Meter unter ihm versammelt hatte, mit heiserer, von Hass und Schmerz verzerrter Stimme an. Tränen schossen aus seinen Augen, als er die Pistole an seinen Kopf setzte. Er drückte ab.
Es klickte. Einen Moment lang schien er aus dem Konzept gebracht. Ein Ungläubiger Ausdruck trat in sein Gesicht, und er verharrte einige Sekunden. Die Menge schien den Atem anzuhalten. Der Mann schloss die Augen und spannte seinen Zeigefinger. Er drückte den Abzug, und dieses Mal traf der Bolzen keinen Blindgänger. Sein Kopf wurde zur Seite geworfen, die Menge schrie auf, und Blut spritzte auf die graue Betonfläche des Flachdaches. Wenig später traf die Polizei ein und zerstreute die Schaulustigen.
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„Er hat was getan?“
Der Angestellte sah nun deutlich nervös aus.
„Nun ja, Sir. Ähem. Er hat sich sozusagen…also. Er hat sich erschossen.“.
„Warum, zur Hölle, hat er sich erschossen?“
Führer stand von seinem Thron auf. Er mochte seinen Thron. Er sah ihn weniger als Statussymbol, als vielmehr als bequeme Sitzgelegenheit. Es war ein schöner Thron. Mit schwarzem Samt überzogen, und mit einem weichen Sitzkissen gegen seine von Zeit zu Zeit auftretenden Hämorriden versehen. Er musste in seiner Eigenschaft als Vorsitzender viel sitzen.
Der Angestellte räusperte sich wieder.
„Also…offenbar war er…wie soll ich sagen…ausgesprochen Unglücklich mit seinem Leben. Er sah den Tod wohl als einzigen Ausweg. Er schrie „Fickt euch alle“ bevor er sich erschoss. Ach ja, und „Ihr seid alle Tot“ schrie er auch noch.“
Führer verzog einen Mundwinkel. Er tat dies mit ausgesprochener Eleganz.
„Wie vulgär!“
Der Angestellte widersprach nicht.
Führer begann auf und ab zu gehen.
„Hat er mit irgendjemandem gesprochen, bevor er…na ja, sie wissen schon?“
„Offenbar hat er einem Journalisten einen Aktenkoffer mit empfindlichen Daten gegeben. Offenbar gehörte der Journalist zu uns und vernichtete das Material. Offenbar. Wir wissen natürlich von nichts.“
Führer murmelte:
“Das ist gut…sehr gut. Das freut mich. Ja, das freut mich. Ich hätte gerne einen Tee, denke ich. Schließen Sie sich mir an?“
„Tee wäre gut, Sir."
Der Tee war zu heiß. Führer ließ ihn von der Männlichen Sekretärin, die ihn gebracht hatte, in den Kühlschrank stellen und begann wieder herumzuwandern.
„Bedauern Sie seinen Tod, Angestellter?“
Der Uniformierte zögerte. Dann sagte er:
„Uhm. Ich kannte ihn nicht besonders gut, wissen Sie. Ich weiß, er war Ihr Sohn, und so. Aber nun ja. Ich kannte ihn nicht besonders gut. Er schien mir verwirrt.“
Führer nickte bedächtig.
„Ja, das war er. Verwirrt. Verwirrte Leute pflegen manchmal, dumme Dinge zu tun. Sich den Kopf wegzuschießen, zum Beispiel. Zum Glück wurde kein Schaden angerichtet. Wie kam er überhaupt an die Daten?“
„Es wird vermutet, das er eine Affäre mit einer der Laborgehilfinnen hatte, Sir. Sie wurde bereits entlassen. Den Angestellten, der sie entlassen hat, haben wir auch entlassen. Er war etwas Taktlos. Ich glaube, er sagte so etwas wie „Ihr Geliebter ist tot und Sie sind Schuld. Kommen Sie nie wieder. Sie sind Fristlos entlassen.“ Dem Oberaufseher Gordon gefiel das wohl nicht. Er…“
Der Angestellte brach abrupt ab. Er schalt sich innerlich, weil er Führer mit unwichtigen Details belästigte.
„Ah ja! Taktlosigkeit ist auch wirklich etwas, was man nicht durchgehen lassen sollte. Wir sollten Gordon befördern.“
„Es wird geschehen, Sir.“
„Sie können nun gehen, Angestellter.“
Der Angestellte Blickte verwirrt.
„Und…ähm. Der Tee, Sir?“
Führer blickte verdutzt. Er schien nachzudenken.
„Lassen Sie ihn sich einpacken. Guten Abend.“
„Guten Abend, Sir.“
Der Angestellte verließ das Konferenzzimmer.
Führer lies sich seufzend in seinen Thron sinken. Der dumme Junge. Er vermutete, dass er ihn vermissen würde. Er wusste es nicht genau. Er hatte noch nie ein Kind verloren. Aber er hatte gehört, dass so etwas schlimm war. Er fragte sich, ob das auch für ein Drogensüchtiges Balg galt, dass eine Affäre nach der anderen hatte und sich einen Dreck um die Belange seines Vaters kümmerte. Er seufzte wieder.
Incorp Inc. war eine der kleinsten Firmen des Mondes. Führer hatte sie vor gut fünfzehn Jahren von seinem Vater übernommen und hatte Spaß daran, sie zu leiten. Er hatte nie das Verlangen gehabt, sie größer zu machen, als es ihrem Potenzial entsprach. Er war genügsam, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Er handelte einfach, und dachte nicht allzu viel nach. Seine Angestellten suchte er persönlich aus, was dazu geführt hatte, das er lauter Männer und Frauen beschäftigte, die zwar nicht direkt Naiv, aber von einer unumstößlichen Ehrlichkeit und ohne jeglichen Ergeiz, mehr zu tun, als Führer es verlangte, waren. Und Führer verlangte nicht viel. Er verlangte nicht einmal Loyalität. Erzwungene Loyalität war nichts wert. Da er all seine Angestellten Persönlich kannte, vertraute er ihnen ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass jemand Firmengeheimnisse ausplaudern könnte. Nicht, das es viele Geheimnisse gab. Umso erfreuter war er, das sein armer, dummer Sohn die Daten einem Mitarbeiter der Firma überreicht hatte, und nicht irgendeinem Sensationsgeilen Reporter.
Führer dachte an seinen Tee, rief die Sekretärin herein, und schlürfte zufrieden aus der flachen, weißen Tasse.
-
Sun war eine der kleinsten Esoterischen Sekten des Mondes. Ihre Mitglieder beschäftigten sich mit Außerkörperlichen Erfahrungen, Meditation im Allgemeinen, Selbsthypnose- und Programmierung, Drogen, Sexmagick und der Erprobung Spaßbringender Kombinationen all dieser Aktivitäten.
Suns Ziel war die ultimative Auflösung des Körperlichen. Die Mitglieder, oder besser Mitwirkenden, da es keine offizielle Mitgliedschaft gab, wollten reiner Geist werden und ohne Körperliche Bindung an den Raum existieren. Teleportation und ASW waren die grundlegenden Erfolge, die ein Mitwirkender erreichen musste, um als Weiser zu gelten.
Sun hatte bisher keine Weisen hervorgebracht, aber man arbeitete daran. Die Sekte war noch Jung, erst zwei Jahre alt. Sie steckte praktisch noch in den Kinderschuhen. Man durfte nicht zu viel erwarten.
Darüber, dass man nicht zuviel erwarten durfte, waren sich alle Mitwirkenden von Sun im Klaren. Die meisten waren auch gar nicht wegen den hohen Zielen der Sekte dabei, sondern weil es jede Menge Drogen und Sex gab. Trotzdem merkten die meisten nach einigen Wochen, dass die tägliche Meditation, die Atemübungen, und die Techniken zur Selbstprogrammierung durchaus nützlich für die Erhöhung des Spaßfaktors des eigenen Lebens waren.
Wenn ein Neuling den amtierenden Guru (der der Abwechslung wegen wöchentlich von einem anderen Mitwirkenden gespielt wurde) fragte, was denn nun mit der Teleportation und „dem ganzen Zeug“ (der normale Neuling war aus Gründen der Bildung meist nicht zu einer genaueren Ausdrucksweise fähig) sei, machte dieser meist keinen Hehl daraus, dass das Erreichen dieser Zustände zwar nett wäre, aber in naher Zukunft nicht unbedingt zu erwarten sei. Entweder verlies der Neuling dann die Sekte, oder er zuckte mit den Schultern und gab sich einem oder mehreren Sexualpartnern hin.
Insgesamt kann man guten Gewissens sagen, das Sun eine ungeführte Pseudo-Organisation mit einem Hang zur Faulheit war. Einige der hervorgerufenen Effekte waren selbst für die Welt des Ausgehenden 21 Jahrhundert recht wunderlich (betrafen aber meistens die Psychen der Mitwirkenden und waren so von eher gemäßigtem Interesse für die breitere Öffentlichkeit), aber die Sekte bot nichts, was nicht auch ohne sie hervorgerufen werden konnte. In Gesellschaft machte das Erforschen des eigenen Gehirnes und das Programmieren der individuellen Realität nur mehr Spaß und ging dank dem Austausch von Erfahrungen schneller. Nicht zu vergessen, das die Mitglieder alle Sexuell recht aufgeschlossen waren, was auf dem Mond dank vorherrschender katholischer Führung keine Selbstverständlichkeit war. Die katholische Kirche hatte dank ihrer übervollen Konten in der Mitte des 21 Jahrhunderts einen Großteil der Mondoberfläche eingekauft und war maßgeblich an den ersten Städtegründungen beteiligt gewesen. Auf der Erde hatte sie zwar längst einen großen Teil ihrer Wirtschaftlichen Macht eingebüßt (unter anderem wegen der vehementen Hetzkampagne gegen Dr. A.I Masulin, der 2012 das Heilmittel gegen AIDS erfand, zum Leidwesen einiger radikaler Mitglieder der Kirche, die AIDS mehr denn je als Strafe Gottes angesehen hatten), doch auf dem Mond „erstrahlte das Kreuz in neuem Glanze“, wie man sich auszudrücken pflegte, wenn man über die Heilige Mutter Kirche sprach. Die Päpstin hatte sogar eine eigene Fernsehsendung, in der sie einmal am Tag den universellen Segen sprach und praktische Rezepte für die Emanzipierte Hausfrau vorführte.
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Neben Sun gab es eine weitere kleinere Sekte auf dem Mond. In derselben Stadt ansässig wie Sun, bot sie jedoch ein gänzlich anderes Erfahrungsspektrum, allerdings in denselben Disziplinen. Zumindest war es das, was ihr Meister den Mitgliedern erzählte.
Die Bezeichnung dieser Sekte war /g/. Das /g/ prangte, eingerahmt von einem Rot glühenden Kreis, über dem Eingang des Gebäudes, indem die Mitglieder zu Leben pflegten. Außerdem befand es sich auf jedem Vorhang und auf den meisten der sich im Gebäude befindenden Stoffdecken und sogar auf der Kleidung der Mitglieder. Jedes Mitglied hatte einen Speziellen Namen, den der Meister ihm mitteilte, nachdem der Anwärter eine Woche lang in einem Dunklen Raum, angeschlossen an ein Lebenserhaltungssystem, in einer art von künstlichem Koma verbracht hatte. Dies war /g/s gängige Methode zur Tiefenmeditation. Der Aufgenommene (und niemand wurde jemals abgelehnt) musste diesen Namen stets gut sichtbar unter dem /g/ Symbol auf seiner Oberbekleidung tragen, um stets mit seinem Mystischen Namen angesprochen werden zu können, auch von Mitgliedern, die ihn noch nicht kannten. Dies beugte Verständigungsproblemen vor, meinte der Meister. Außerdem gewöhnte der Neuling sich auf diese Weise schneller an seinen Namen.
Die Ziele von /g/ waren den meisten Mitgliedern unbekannt. Sie versprachen sich Persönlichen Erfolg oder Anerkennung, dauerhafte Sexuelle Befriedigung oder einfach nur ein interessanteres Leben. Mit all diesem warb /g/. In dieser Hinsicht war sie allen anderen Sekten gleich (außer Sun, die keinerlei Werbung machten. Sie interessierten sich nicht dafür. „Wer kommt, der kommt.“ war ein Lieblingsspruch von Sun Mitwirkenden.), und aus eben diesem Grund wurde /g/ langsam erfolgreicher und wuchs. Man munkelte gar, dass ein zweites Schlafhaus angebaut werden würde, wenn es weiterhin bergauf ging.
/g/s Stern war tatsächlich am steigen.
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Führer lies sich in die weichen Decken fallen, die das harte Bett bedeckten. Dabei stieß er sich den Hinterkopf an, verzog die Mundwinkel und stellte den Schmerz mit einem geschickten Kniff seines rechten Mittelfingers in den Nacken ab. Dann seufzte er wohlig, schloss die Augen und dachte nach. Das hatte er in den letzten Stunden ungewöhnlich oft getan. Er wusste nicht genau, was ihn dazu brachte, nachzudenken, aber er hatte ein mieses Gefühl im Bauch. Irgendetwas lief schief. Nachdem er seinen Tee getrunken und ein wenig Papierkram erledigt hatte, war dieses seltsame Gefühl in ihm aufgestiegen, das er nicht so recht einordnen konnte. Er vermutete, das es irgendwas mit den Daten zu tun hatte, aber was? Sie waren wieder da und sein Sohn hatte sie, soweit Führers Mitarbeiter das feststellen konnten, nicht kopiert. Außerdem waren sie nicht einmal besonders wichtig. Warum hatte der dumme Junge gerade diese Ordner gestohlen?
Vielleicht war es das. Es fühlte sich zumindest richtig an. Führer drehte sich grummelnd auf die Seite. Er sabberte ein wenig, wie er es vor dem Einschlafen immer tat. Sein Gehirn war bereits halb in die Traumwelt abgedriftet, und er lies zu, das seine Augen sich schlossen. Er würde einfach einen Agenten in die Wohnung seines Sohnes schicken. Der sollte sich das noch einmal alles genau angucken und am besten Fotos machen. Ja, das war gut. Fotos waren gut. Dann konnte er selber gucken.
Er schlief ein. Der Sabber tropfte auf die weiche Decke.
Am nächsten Morgen lies Führer sich von seinem Lieblinksangstellten in der Frage des zu schickenden Agenten beraten. Offiziell beschäftigte Incorp Inc. keine Agenten, aber offiziell war so eine Sache. Incorp hatte einige ehemalige Journalisten und Polizisten auf der Gehaltsliste, die nun als Büro- oder Sicherheitskräfte arbeiteten. Führer wählte eine Journalistin aus, die, nach den Angaben seines Lieblingsangestellten, besonders aufmerksam war. Sie hatte die Fotos vom toten Dalai Lama gemacht, als dieser beim Morgendlichen Frühstück in einer Tasse Haferschleim ertrunken war. Die Journalistin hatte gerade ein gemütliches Interview mit dem alten Mann geführt, als dieser urplötzlich einen Herzinfarkt erlitten hatte. Sie verlor zwar wegen unethischer unterlassener Hilfeleistung ihren Job, aber das Foto ging um die ganze Welt. Führer hatte sie, nachdem sie wieder aus den Medien verschwunden war, in seine kleine Firma aufgenommen. Ihr Name war Angela.
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Sam war in dieser Woche der Guru.
Er trug einen lustigen Hut auf dem Kopf, den er aus alten Konservendosen zusammengeschweißt und mit Gläsernen Murmeln gefüllt hatte. Dies war seine Art zu sagen: „Hier bin ich!“ Er trug diesen Hut nur 2 Stunden am Tag, während der Audienzen, die er zu gewähren beliebte. Es war ein Heidenspaß, den Kopf zu schütteln, wenn jemand eine einfache Frage stellte. Nun ja, stellen würde. Denn bisher war niemand aufgetaucht, um seinen Rat einzuholen. Sam war nicht enttäuscht. Irgendwann würde jemand kommen und ihn um Hilfe bitten. Er klackerte ein paar Mal mit dem Hut und erklärte die Audienz lautstark für beendet. Dann setzte er ihn ab, ging in seine kleine Hütte, die am Rande des Sun-Geländes stand, und nahm eine Kopfschmerztablette.
Mary lag auf ihrer Matte und lauschte einem alten The Beatles Album. Die Stimme schien in ihren Schädel einzudringen und den Raum zu verdrängen, der sie unzweifelhaft umgab, und von dem sie zu jeder Zeit einen gewissen Teil einnahm.
Turn off your mind, relax and float down stream…it is not dying…it is not dying...
Mary lauschte. Dann lauschte sie nicht mehr. Dann machte es “plopp“, und Mary war verschwunden.
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Wird fortgesetzt.