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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Wüstenblut



La Cipolla
19.05.2007, 09:26
Eigentlich als Italowestern konzepiert ist es ein wenig harmlos und am Ende zu optimistisch für dieses Genre geworden, aber es gefällt mir trotzdem, vor allem weil ichs tatsächlich noch fertig gekriegt hab. xD'' Einen neuen Thread gibts, weil viele Sachen recht eingehend überarbeitet sind, ich lösch gleich den alten.

Kritik ausdrücklich erwünscht.










Weint nicht

Wenn ihr jetzt verzweifelt, ist unser Traum gestorben
Aber ich will noch nicht in den Himmel

Ich will das ewige Blau des Pazifiks sehen
… nur ein einziges Mal …



Wüstenblut






Erstes Kapitel


„Hey! Lasst sie in Ruhe!“
Erst herrschte Stille, dann brach das Gelächter los und die Männer in dem Saloon vergaßen für einen Moment sogar das entsetzte Freudenmädchen, über das sie eben noch hergefallen waren. Sie sammelte mit Tränen in den Augen ihre zerfetzte Kleidung ein und rannte dann weinend eine Treppe hinauf. Die Blicke der Anwesenden konzentrierten sich auf den Jungen, der breitbeinig im Eingang des Hauses stand. Er war nicht größer als die kleine Flügeltür selbst und seine Haare noch strohblond, er trug einen viel zu großen Poncho, wie man es von den Mexikanern gewohnt war, und seine blauen Augen schauten sicher in die belustigte Menge.
„So etwas ziemt sich nicht!“, rief er tadelnd, „Habt ihr denn überhaupt keine Ehre?“
Einer der Männer erhob sich und torkelte auf ihn zu, seine rot angelaufenen Wangen und die in der Hand baumelnde Whiskeyflasche sprachen Bände.
„Hey, Kleiner… Wenn du hier noch länger überleben willst, solltest du dir… dir besser überlegen… was du sagst.“
Die anderen hatten mit Lachen aufgehört, aber das schmierige Grinsen in ihren Gesichtern zeigte, dass sie ein großes Schauspiel erwarteten. Dann stockte der Besoffene und die Flügeltüren öffneten sich ein weiteres Mal, mit einem Geräusch, das niemals den Geschmack des Öls kennen gelernt hatte.
„Er hat sich genau überlegt, was er gesagt hat. Schieb deine schmierigen Stiefel weg von meinem Bruder.“
Eine andere Person betrat die Bar. Auch er war nicht sehr groß, und seine vom Steppensand grau verfilzten Haare hingen lose über dem dunklen Gesicht.
„Vor dem Teufel brennen wir alle in gleicher Glut.“
Er hob den Kopf und seine Augen starrten den Mann wütend an, in der golden glitzernden Farbe der Sonne. Unter den Trinkenden brach sofort ein Gemurmel los und auch der Besoffene trat einen Schritt zurück. Erst schien er zu zweifeln, dann lachte er laut los.
„Ha! Meinst du… du machst mir Angst?!“
Der Junge atmete aus.
„Nein.“, lächelte er und lehnte sich auf die Schultern seines Bruders, „Niemand fürchtet sich vor einem Kind. Niemand…“
Er lächelte, ein seltsames Lächeln. Kein Ansatz von Freude lag mehr darin, aber es war auch keine Überheblichkeit. Es war einfach nur grimmig.
„Betet für euer Seelenheil, wenn ihr nicht wisst, was ihr tun sollt.“, meinte das goldäugige Kind und verließ mit leisen, klackenden Schritten den Saloon. Sein Bruder schüttelte den Kopf bösem Blickes und folgte ihm sodann.
Kurz herrschte Stille, dann stellte der Barkeeper ein Glas auf den Tresen.
„Was habt ihr nur alle…“, murmelte er mit verdrossenem Blick, „Es war nur ein Kind, und jetzt ist es verdammt noch mal weg.“
Der Angetrunkene drehte sich um und zitterte nun noch mehr.
„Hast du… seine Augen gesehen?!“ Ihm glitt die Flasche aus der Hand und zerschellte auf dem Boden.
„Das war ein Monster!“
„Nein.“, meinte eine ruhige Stimme aus einer dunklen Ecke der Bar. „Ein Bastard. Es war nur ein Bastard, mein Freund.“
Die Gestalt, ein Mann mit langem schwarzen Mantel und Hut, erhob sich, und mit ihm einige seiner Leute.
„Der Bastard. Und sein Kopf gehört mir.“
Die Bande verließ die Bar, der schwarz Gekleidete zuletzt. Er drehte sich noch einmal um, ließ seinen Blick über die Menge gleiten, dann schnellte seine Hand unter den Mantel, und einige Leute zogen ruckartig den Kopf ein. Als sie die Augen wieder öffneten, waren die Männer verschwunden, und in der Flügeltür steckte ein Dolch, unter ihm ein Pergament. Der Barkeeper schlich zu der Tür und riss das Papier ab. Dann dreht er sich wortlos zum Rest seiner Gäste um. Langsam glitt der Steckbrief zu Boden, auf dem das Gesicht des Jungen mit den goldenen Augen abgebildet war.



~°~°~°~


„Samuel! Hast du denn nicht gesehen, was sie der armen Frau angetan haben?“
Samuels schwarz-grauer Schopf beachtete seinen Bruder gar nicht, als er auf einen Sarg zulief, der in der nächsten Seitenstraße an der Mauer lehnte.
„Das ist nicht unser Problem. Wir müssen weiter.“
Er legte sich ein breites Lederband, welches an dem Leichenkasten befestigt war, über die Schulter und zog den Sarg so aus der Ecke auf den staubigen Dorfplatz, der von der Abendsonne in ein bedrohliches Orange getaucht wurde.
„Sonst kommen wir gar nicht mehr an.“
Der Kleinere schaute seinen Bruder besorgt ins Gesicht und ließ die Schultern hängen.
„Vielleicht hast du Recht…“
„Hey!“, erklang ein Schrei, und als die Brüder sich umdrehten, fiel ihnen auf, dass eine Banditenbande zwischen den Hütten hervor gekommen war und sie mit gehörigem Abstand umstellte.
„Verkriech dich, Kleiner, das gibt Ärger.“
Es mussten weniger als sechs sein, aber Samuel zweifelte nicht daran, dass sich der ein oder andere versteckt hielt.
„Samuel…“
Der jüngere Bruder, Claude war sein Name, hatte Tränen in den Augen.
„Bitte nicht, Bruder… Bitte…“
„Es hilft nichts, Claude. Blut fordert Blut.“
Mit diesen Worten rammte er seinen Fuß unter den Sarg und schleuderte die Holzkiste wie einen Schild in die Höhe, während er mit den Händen zwei tiefschwarze Kanonen aus dem Gürtel zog. Claude schrie, und die Geier auf den Dächern begannen mit Fliegen.


Jungs, hört mit dem elenden Klauen auf. Beim Stehlen reicht es niemals aus, wenn andere nur denken, ihr könntet es, beim Schießen schon. Hier, nimm die Kanone, aber pass auf, dass du dir nicht in den Fuß ballerst!


Die Kugeln zischten an Samuels Kopf vorbei und der Junge spürte, wie die Projektile in das Holz des Sarges einschlugen. Die Gegner waren schrecklich unorganisiert, noch bevor sie den ersten Schuss abgegeben hatten, war der Junge im Stande gewesen, zwei von ihnen zu erledigen, und auch nun ballerten sie sinnlos in seine Deckung.

Dreizehn… vierzehn… fünfzehn…

Es waren weniger Angreifer als erwartet, jedenfalls in dieser Welle. Gerade einmal fünf Männer insgesamt, zwei davon bereits kampfunfähig.

Sechzehn… Siebzehn.

Claude hatte den Kopf eingezogen und hockte zitternd zwischen Samuels Beinen.

Achtzehn!

Samuel hoffte, dass er sich nicht verzählt hatte und wirbelte die beiden Revolver an den Seiten des Sarges vorbei. Zwei der Schüsse verfehlten ihre Ziele, aber er lag richtig, die Kugeltrommeln seiner Gegner waren leer. Der Junge konnte sich nun auf das Zielen konzentrieren, und nachdem der erste Schuss einen überrumpelten Angreifer getötet hatte, traf auch die zweite Kugel ins Schwarze und ließ das leblose Gesicht eines weiteren Gegners auf den staubigen Boden schlagen. Nur noch der Anführer war übrig. Samuel ergriff seine Chance und zerrte den Sarg hinter sich, um freie Schussbahn zu haben. Dann stockte er und wirbelte aus einem Reflex heraus die Kanone in die Höhe. Funken stoben, als er den Dolch des Mannes in Schwarz blockte. Samuels Waffe wurde von der Wucht weit weg geschleudert, aber bevor der Angreifer ein zweites Mal attackieren konnte, hatte der Junge die andere Pistole in Position gebracht. Die Eisen prallten scheppernd gegeneinander, und die Kontrahenten starrten sich wütend an, während sie versuchten, den anderen zu Boden zu drücken.


Wenn ihr nichts mehr habt, wenn sich Sonne, Mond und Sterne gegen euch verschworen haben, erinnert euch daran, dass ihr gesegnet seid. Gott gab euch etwas, das euch durch den dunkelsten Schatten führen wird.


Der Mann in Schwarz war zwei Köpfe größer als Samuel, doch die goldenen Augen des Jungen glühten vor Fanatismus. Langsam, aber sicher geriet der Sargträger trotz allem ins Hintertreffen, sein Angreifer grinste hämisch. In diesem Moment bemerkte er plötzlich Claude, der zwischen den Beinen des älteren Bruders hindurch schlitterte und mit beiden Händen eine abgesägte Schrotflinte ins Gesicht des Banditen hielt. Seine Finger hatten sich um den Griff der Waffe verkrampft, und schreiend drückte er den Abzug.


Doch irgendwann hilft euch auch eure Freundschaft nicht mehr, und wenn dieser Tag kommt, muss euer Glaube stark sein, sonst machen euch eure Taten zu dem, was diese Welt fordert. Zu Monstern.


Der Körper des Banditen wurde weggeschleudert, und sein Blut verteilte sich über Claudes Gesicht. Samuel fiel aus Erschöpfung in den Sand, und sein Bruder starrte mit entsetzten, weit aufgerissenen Augen in den Himmel. Das Blut lief überall an seinem Körper hinab und vermischte sich mit dem Wüstensand.



~°~°~°~


Sheriff Harry McMillman, den man gewöhnlich Hank rief, schaute betrübt auf die gesichtslose Leiche herab. Der Anführer der Dolchbande, welcher da vor ihm lag, war immer sehr stolz auf seinen kleinen Ziegenbart gewesen. Hank schlug das Kreuz und wollte den Toten mit einem dreckigen weißen Tuch bedecken.
„Millman!“, schrie eine hysterische Stimme hinter ihm, „Wo bleiben sie denn gottverdammt noch mal?!“
Hank drehte ich um und starrte den Redner böse aus seinen kastanienfarbenen Augen heraus an.
„Gottverdammt? Nehmen sie keine Phrasen in den Mund, die sie nicht einmal mehr verstehen, sonst könnte der Allmächtige sie tatsächlich noch einmal verdammen…“
Dem dicklichen Redner lief eine Angstperle über die Wange und er wich Hanks Blicken aus, indem er wieder in seiner Hütte verschwand. Der Sheriff schaute noch einmal zu der Leiche herab. Sie sah schrecklich aus, so ganz ohne Gesichtszüge, ein Kopf aus rohem Fleisch.
„Gottverdammt, hm…?“, murmelte er, bevor er seinem Kollegen folgte.



~°~°~°~


„Es… es war schrecklich! Dieses Monster ließ niemandem am Leben und die Mordlust brannte in seinen Augen!“
„Aha.“, meinte Hank ausdruckslos und pochte mit einem kleinen, bleiernen Kruzifix auf den Verhörtisch, „Und wie, mein Freund, können sie mir das jetzt erzählen, wo dieses ‚Monster’ doch niemanden am Leben ließ?“
Der Mann glotzte dämlich und suchte verzweifelt nach passenden Worten.
„Nächster!“, rief der Sheriff und ignorierte die Beschwerden seines Gegenübers. Es war eine komplizierte Angelegenheit, Zeugen zu vernehmen, wenn ein Kopfgeld ausgesetzt war, die Menschen entdeckten plötzlich eine unglaublich dramatische Ader in ihrer sonst so staubtrockenen Gedankenwelt.
„Guten Tag…“, flüsterte ein kleines Mädchen, das von ihrer Mutter an den Tisch gebracht wurde. Die Alte fasste sie fest an der Schulter und zischte ihr etwas ins Ohr.
Hank verabscheute sie bereits jetzt.
„Haben sie gesehen, was geschehen ist?“, widmete er sich mit gespieltem Interesse der Mutter.
„Nein, aber ich denke, ich könnte ihnen besser berichten, was meine Tochter…“
„Danke. Bitte verlassen sie den Raum.“, unterbrach er sie nüchtern.
„Aber das Mädchen ist doch noch…“
Der Blick des Sheriffs ließ sie verstummen.
„Kann ihre Tochter sprechen?“
Ja, natürlich, aber…“
„Gut. Dann verschwinden sie endlich.“
Widerwillig gab die Frau der Staatsgewalt nach und trottete in Richtung Tür, nicht ohne ihrem Mädchen noch einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Harry McMillman wies ihr einen Stuhl zu und verschränkte seine Arme. Kurz herrschte Stille, dann sprach die Zeugin.
„Soll ich erzählen… was ich gesehen habe…?“
Der Sheriff blickte ihr kalt in die Augen und stellte das Kruzifix direkt vor ihr auf den Tisch.
„Weißt du, was das ist?“
„Ja… Das Zeichen… unseres Herrn.“
„Genau. Und vor Gott lügt man nicht. Denn Gott sieht alles…“
Hank spürte, wie das Mädchen unter seinen düsteren Blicken nervös wurde.
„Aber egal.“, lächelte er, „Schließlich sind wir nicht hier, um irgendwelche Unwahrheiten zu verbreiten, nicht wahr?“
Die Kleine wandte den Blick ab und starrte zu Boden. Abermals lag Ruhe in der Kammer, bis der Sheriff sanftmütig das Wort ergriff.
„Fürchtest du dich vor dem Zorn deiner Mutter?“
Erst zweifelte sie, dann nickte das Mädchen langsam.
„Hör mir zu.“, sprach Hank und schaute ihr in die Augen, „Gott sieht alles. Deine Mutter nicht. Wenn du dem Allmächtigen hier…“, er zeigte auf das bleierne Kreuz, „…ehrlich gegenüber trittst, wird sie nichts von dem erfahren, was du mir sagst. Aber du sprichst nur die Wahrheit, in Ordnung?“
Erst lächelte sie verlegen, dann nickte das Mädchen fröhlich, ohne ein Wort zu sagen. Hank atmete innerlich aus.
Die erste ernstzunehmende Spur an diesem Tag.



~°~°~°~


Er wird dich beschützen. Er wird euch beschützen! Mich hat er schließlich auch beschützt, nicht wahr? Seht ihr, ihr müsst nur an ihn glauben!

Stille… Gedanken in einer leeren Welt.

Manchmal verstehen wir es nicht. Manchmal sind wir sicher, dass es falsch ist. Aber der Tag wird kommen, wenn wir uns an ihm festklammern, wenn er der letzte Fels in der Brandung ist.

…Nur Gedanken in der Leere… Nichts zum Festhalten… Kein Fels in der Brandung.

Verlasst euch auf ihn. Wenn ihr ihn braucht, wird er da sein.

Wo ist er…?

Die Antwort schlug Samuel aus seinem Alptraum, denn das Erste, was er sah, als er die Augen wieder öffnete, war Jesus, wie er hilflos an seinem Kreuz verendete, die Arme und Beine festgenagelt, mit rostigem, kalten Stahl. Verkrustetes Blut war an den Wunden gegoren, die Antwort eindeutig - Gott war tot.
Der Junge lag noch einen Moment, dann konnte er den Anblick der Qualen Christi nicht mehr ertragen und erhob sich. Die Erinnerungen kehrten nur langsam zurück, aber seine Muskeln schmerzten noch immer von dem verlorenen Kräftemessen mit dem schwarz gekleideten Banditen. Verloren. Er hatte das Duell verloren. Wieso war er noch am Leben? Samuel erinnerte sich an die Gestalt des Bruders, die durch seine Beine hindurch schnellte und dem Gegner die Ladung einer Schrotflinte ins Gesicht feuerte. Claude hatte ihn gerettet, sein Bruder allein, sein kleiner Bruder, der jeglichen Kampf verurteilte und Waffen hasste. Samuel verfluchte den Mann, der vor ihm am Kreuz hing. Tiefe Falten der Wut verzerrten das Gesicht, und noch tiefere Furchen entstellten die Seele des Jungens.

Er wird euch beschützen!

Nichts hatte er getan. Da hing er an seinem Kreuz, hilflos, in seinem Gesicht lagen nur Trauer und Verzweiflung, kein Funken der Hoffnung. Er war tot. Samuel erhob sich und schaute Jesus tief in die Augen. Der Gottessohn erwiderte den Blick seiner goldenen Augen nicht, wehmütig starrte die Leiche zu Boden. Abermals überkam den Jungen ein Schauer von Wut und er spuckte Jesus mit Hass ins Gesicht.
„Du kannst mir auch nicht in die Augen sehen, nicht wahr?“, lachte er das Kreuz an, „Sogar du fürchtest dich vor dem ‚Bastard’!“
Das letzte Wort spie Samuel aus, als sei es der Name eines Verdammten.
„Und das, wo du doch so allmächtig bist!!“, schrie er, und seine Muskeln verkrampften sich.
„Warum zur Hölle hast du mich nicht gerettet? Warum?!“
Samuels Augen waren weit aufgerissen und sein ganzer Körper zitterte.
„Sieh mich an!“, forderte er die Gestalt am Kreuz auf, erst leise, dann lauter.
„Sieh mir in die Augen!!“
Plötzlich klang eine fremde, aber beruhigende Stimme durch den Raum.
„Wie kann er dich ansehen, wenn er tot ist?“
Samuel erschrak und riss seinen Arm zum Pistolengurt. Er war leer.
„Suchst du die hier?“, fragte ein Mädchen, das lächelnd im Kirchentor stand und die Waffen des Jungens um den Zeigefinger wirbeln ließ. Sie musste um die zwanzig Jahre alt sein, und ihre dunklen, schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, der ihr über der Schulter hinab hing.
„Du brauchst die Waffe hier nicht, wir sind die Einzigen in diesem Gotteshaus.“
„Nur ein Mädchen… Sei froh, dass du die Kanone hast, sonst wärst du wohl bereits tot.“, antwortete er, ohne sie anzusehen. Die junge Frau lächelte.
„Du machst mir keine Angst, ich…“
Samuel unterbrach sie mit einem lauten Lachen. Sie tat hastig einen Schritt zurück und zog die Pistole in die Höhe. Kein Wort entkam ihrer Kehle.
„Richtig, Mädchen, niemand fürchtet einen kleinen Jungen, aber dann sag mir…“
Grinsend drehte er sich um und breitete seine Arme weit aus.
„…warum weichen die Menschen meinen Augen aus? Warum, oh, du mutige Frau mit der Waffe, warum nennen sie mich einen Bastard?!“
Samuels Gesicht erstarrte, als er den Blick des Mädchens traf. Sie schaute ihm tief ins Gesicht, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Langsam senkte sie die Pistole.
„Ich fürchte mich nicht vor dir, das habe ich dir schon einmal gesagt. Dein Bruder hatte Recht, wenn man den Hass in deinen Augen überwindet, ist der Bastard verschwunden, und nichts ist von ihm übrig.“
Wortlos fiel Samuel mit ausgebreiteten Armen auf die Knie, und seine schweißkalten Finger zitterten, als die Knöchel den Boden trafen.



~°~°~°~


„Verstehe ich dich richtig, Kleine, die Bande hat den Jungen angegriffen?“
Das Mädchen nickte und Hank ließ sich zu einem Lächeln hinreißen.
„Danke. Du kannst gehen. Sag deiner Mutter, sie soll auf mich warten, dann kriegt sie ihren Anteil.“
Sie grinste und lief auf die Tür zu. Mit der Klinke in der Hand drehte sie sich noch einmal um.
„Herr Sheriff?“
Hank war bereits wieder in Gedanken versunken und das Mädchen blickte ihn aus traurigen Augen heraus an.
„Ist der Bastard wirklich ein böser Mensch?“
Der Pistolero schaute sie nachdenklich an. Leise pochte er das bleierne Kreuz auf den Tisch und erhob sich dann.
„Was denkst du denn?“
„Ich weiß nicht…“, meinte das Mädchen, „Aber ich kenne ihn ja auch nicht, ich weiß nicht einmal mehr, wie er heißt, weil ihn alle nur den Bastard nennen.“
Hank lehnte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch und starrte sein Kruzifix an, während er es nachdenklich zwischen den Fingern hin und her gleiten ließ.
„Die Menschen wollen seinen Namen nicht wissen. Es reicht ihnen, wenn er der Bastard ist. Geh mit Gott.“
Langsam verließ das Mädchen den Raum und schloss die Tür hinter sich. Der Sheriff lag wieder in Gedanken und das Kreuz pochte abermals stumpft auf den Tisch.
„Samuel…“, fragte er leise in die Leere des Raumes, „…was bei Gott tust du nur?“



~°~°~°~


„Hier hast du sie wieder.“, meinte das schwarzhaarige Mädchen und hielt dem knienden Samuel seine Waffen hin. Der Junge zweifelte kurz und ergriff dann hastig das Eisen, um es im Pistolengurt verschwinden zu lassen. Er hob seinen Kopf dabei nicht ein einziges Mal, und in diesem Moment verstand er auch, warum die Leute seinem Blick auswichen. Sie fürchteten sich. Vor etwas Fremden, vor etwas, das sie nicht kannten. Nun erging es ihm genau so, aber es war keine Furcht.
„Wie heißt du, Mädchen?“
„Carmen.“, antwortete sie zögernd, „Und wenn die Geier deinen Namen nicht von den Dächern pfeifen würden, wäre es unhöflich, sich nicht zuerst vorzustellen.“
„Geier pfeifen nicht.“, meinte er ausdruckslos, woraufhin ihn ein kleiner Stiefel zu Boden drückte. Empörung lag in Carmens Gesicht.
„Natürlich pfeifen sie nicht! Aber ich habe noch keine Nachtigall entdecken können, seit wir Amerika erreicht haben! Meinst du nicht, du könntest ein wenig freundlicher sein? Immerhin liegt dein Leben in meiner Hand!“
„Tut es nicht.“, widersprach Samuel trocken und wollte abermals seine Waffe ziehen, aber das Mädchen war schneller und trat ihm die Kanone aus der Hand.
„Lass das! Wir sind in einem Gotteshaus!“, schrie sie ihn wütend an und zerrte ihn an seinem Halstuch in die Höhe, sofern es möglich war.
„Oh…“, grinste er, „…es steht …leer? Du bist niedlich, wenn du wütend bist.“
Samuel konnte ihr Gesicht rot anlaufen sehen, bevor sich der Stiefelabsatz zum wiederholten Male in seinen Körper bohrte. Dann verlor er von der Erschöpfung des Tages abermals das Bewusstsein und seine Alpträume begannen von neuem. Carmen schaute kopfschüttelnd auf den Jungen herab, denn während seine Augen geschlossen waren, sah er aus wie ein kleines Kind, das friedlich vor sich hinschlummerte. Eine Weile stand das Mädchen noch so da, dann bewegte sie sich mit klackenden Schritten zum Ausgang der Kirche. Plötzlich stoppte sie. Ihre kleine Hand strich über die schwarzen, welligen Haare, als sie noch einmal zurückschaute. Er schlief. Tief und fest. Carmens Blick wanderte durch das Gotteshaus und stoppte bei dem hölzernen Sarg, der an einer Wand lehnte. Der Totenkasten war schon alt und verwittert, und man erkannte nichts mehr von dem typischen, hellen Glanz des Holzes. Hier und da waren Einschusslöcher zu sehen, woraufhin sich das Mädchen unwillkürlich an die Gerüchte über das Unheilskind erinnerte.
„Die verdammte Kiste ist voller Waffen! Keine Brigade der Welt könnte die Munition darin an einem Tag verschießen!“
Das Lederband, an welchem der Bastard den Sarg getragen hatte, war abgegriffen und zerfetzt.
„Er nimmt die Munition seiner toten Gegner! Statt der Leichen stopft er ihre Patronen in den Kasten!“
Carmens Schritte trugen sie wie bezaubert zu dem Sarg. Er schien einsam. Das dunkle Holz mit dem verblichenen Kreuz darauf biss sich mit der blendenden Helligkeit der Kirchenbänke, zudem war er nicht dafür gemacht, an einer Wand zu lehnen. Der dünne Lederhandschuh des Mädchens strich fasziniert über das Material und sie spürte jeden noch so kleinen Riss darin, jede Schramme. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. „Was tue ich hier…? Es ist ein Leichenkasten… das letzte Bett der Toten… er ist so… schön.“
Wie von Zauberhand bewegten sich ihre Finger sanft zum Rand des Deckels. Samuels Händen zuckten im Schlaf wild umher, als Carmen den uralten Sarg vorsichtig öffnete.



~°~°~°~


Eine hässliche Wut hatte sich auf das zuvor schon nicht gerade hübsche Gesicht der alten Vettel gelegt und entstellte sie nun noch mehr.
„Was soll das heißen?! Ich will die Belohnung - und zwar sofort!“
Hank, der förmlich von der Frau überfallen wurde, kaum dass er aus dem Haus gekommen war, schaute gelassen auf sie herab und lächelte.
„Wer war die Zeugin, sie oder ihre Tochter?“
Die Alte glotzte nur böse, wagte aber nicht, zu widersprechen.
„Dann geben sie das Geld doch meiner Tochter, Sheriff!“, meinte sie mit gespielter Einsicht.
„Nein.“, lachte Hank und legte der Tochter, die daneben stand, seine Hand auf die Schulter.
„Sie wüsste mit dem ganzen Geld ja noch gar nichts anzufangen. Ich werde ihr stattdessen einen Platz an Pfarr-Schule in New Orleans verschaffen.“
Das Mädchen strahlte den Sheriff glücklich an, im Gesicht der Mutter dagegen konnte man den puren Hass erkennen.
„Was soll das?! Meine Tochter soll nicht zur Schule, was soll ein Mädchen da?“
„Lernen, Madame, lernen, falls sie sich der Bedeutung dieses Wortes bewusst sind.“
Bevor sie noch etwas dagegen einbringen konnte, fügt Hank mit einer düsteren Stimme hinzu: „Gott will es, ziehen sie nicht seinen Zorn auf sich, sonst kann niemand ihre Seele retten…“
Mit diesen Worten ließ Harry McMillman die Alte und ihre Tochter stehen. Seine Gedanken weilten längst an einem anderen Ort, an einem Ort, an dem es wichtigere Probleme zu lösen gab.



~°~°~°~


Claude saß an einem kleinen Tisch im Seitenschiff der Kirche, als ein Schrei aus dem Inneren erklang. Er schreckte auf und schnellte um den großen Pfosten. Carmens Augen waren weit aufgerissen und ihre Hände, die den Deckel des Sarges fest umklammert hielten, waren schweißnass.
„Nein!“, schrie Claude, riss das Mädchen beiseite und donnerte den Leichenkasten zu. Obwohl er einen Kopf kleiner war, fasste er das Mädchen bei den Schultern und schrie ihr ins Gesicht.
„Warum tust du das?!“
Sie war noch immer wie gelähmt, und leise Tränen verließen ihre Augen. Carmen sackte zu Boden.
Das verzerrte Gesicht des Toten hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, seine eingefallenen Augen, die wie matte Murmeln die verschrumpelten Züge geschmückt hatten.
„Antworte mir! Warum?!“
Das Mädchen starrte Claude mit entsetztem Blick an.
„Was ist… das?“
Ihre zitternde Hand zeigte auf den Sarg, und einige Fliegen verschwanden schuldbewusst wieder in den Einschusslöchern. Auch Claude weinte und packte sie noch einmal fester an den Schultern.
„Versprich mir, dass du ihn nie wieder störst!“
Erst, als Carmen mit Tränen in den Augen nickte, lehnte sich der Junge an die Wand und atmete aus.
„In Ordnung…“, meinte Claude, und die Wut verließ langsam seinen Körper, „Wenn du mir hoch und heilig schwörst, ihn nicht wieder zu stören, erzähle ich dir seine Geschichte.“
Der Schock war noch nicht ganz aus dem Gesicht des Mädchens gewichen, und vor ihrem inneren Auge sah sie noch immer die weißen Maden, die sich durch das verrottende Fleisch fraßen. Sie fasste sich ein Herz und atmete tief durch.
„Ich weiß nicht… ob ich die Geschichte überhaupt hören will, aber in Ordnung. Erzähl schon…“
Claude blickte sie mit kindlichem Trotz an.
„Aber dann lässt du ihn in Ruhe!“
„Ja… sicher doch…“, antwortete sie perplex, denn es müsste viel passieren, bis sie diesen verfluchten Sarg noch einmal öffnen würde.
„Gut. Aber ich muss dich warnen, es ist eine sehr traurige Geschichte.“
„Das ist in Ordnung…“, meinte Carmen, „…ich glaube nicht, dass mich heute noch etwas aus der Fassung bringen würde.“
Dann sah sie Claudes traurige Augen, und plötzlich war sie sich in dieser Angelegenheit nicht mehr so sicher.






Zweites Kapitel


„Und so sage ich euch, lebt ein gutes Leben, ein sündenfreies Leben, und am Ende wird euch der Herr für eure schwere Arbeit entlohnen!“
Der junge Pfarrer blickte glücklich in die zufriedenen Augen seiner Schäfchen und streckte die Finger gen Himmel. Er war noch sehr jung, eigentlich zu jung für diese Position, aber der Glaube in seinen Augen verschleierte die hagere Gestalt und den ungepflegten Stoppelbart.
„Geht nun wieder an eure Arbeit, Frauen und Männer, lasst uns diesen Kontinent zu dem unseren machen, nehmen wir dieses gottgegebene Geschenk mit Freunde entgegen!“
Die Menge jubelte, als der Mann, der sich Joe nannte, die Bühne verließ und zwischen seinen Jüngern verschwand. Lächelnd ging er ein paar Schritte, dann schloss ein Anderer zu ihm auf. Seine Züge waren ähnlich, aber er war offensichtlich älter und ein Schlapphut lag auf seinen braunen Haaren.
„Na, Bruder, macht es Spaß, den Menschen den Himmel zu versprechen?“
„Ja!“, lachte Joe, ein ehrliches Grinsen, und kratzte sich am Nacken, „Schließlich gibt es in dieser Einöde nichts, was ihnen sonst die Hoffnung geben könnte, die sie brauchen.“
Der Andere lächelte.
„Du hast Recht. Ich glaube nicht an deinen Gott, aber wenn er die Menschen stark macht, werde ich ihm einen Platz in meiner Gedankenwelt einräumen.“
Joe lachte abermals herzlich und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter.
„Wer hätte das gedacht? Jetzt hat der Allmächtige seine Existenz sogar schwarz auf weiß, und das vom großen Pistolero Hank McMillman!“



~°~°~°~


Das schmierige Gesicht eines Hafenarbeiters schob sich unter die Decke des Rettungsbootes und grinste die Kinder hämisch an. „Na, wen haben wir denn…“
Sein Satz wurde jäh unterbrochen, als ein winziger Stiefel unter dem Versteck hervorschnellte und ihm seine Nase eindrückte. Der Mann fiel auf seinen Rücken, und als er sich wieder erheben konnte, waren die blinden Passagiere verschwunden. Panisch suchten seine Augen nach ihnen, aber es half nichts.
Die Jungen rannten hechelnd über die knarksenden Planken des Schiffes. Hier und dort versuchte jemand, sie festzuhalten, doch die Kinder waren es gewohnt, den gierigen Händen auszuweichen. Plötzlich stolperte der Kleine und die Mannschaft ergriff sofort die Gelegenheit, die blinden Passagiere zu umzingeln. Zwischen den Matrosen trat ein großer Mann mit einer unglaublichen Wampe hervor. „Oh, wer seid ihr denn?“, fragte er mit dreckigem Grinsen, und seine Pfeife pendelte zwischen den Mundwinkeln hin und her. Die Kinder rührten sich nicht, bis der Größere nach vorn trat.
„Ich bin Samuel, mein Bruder heißt Claude!“
Das Schiff hatte einen Moment zuvor angelegt, die Brüder hatten offensichtlich schon bessere Tage erlebt. Der Kapitän grinste auf den Älteren herab.
„Was meinst du, sollten wir mit euch machen, Kleiner? Sollen wir euch gehen lassen?“, fragte er mit Sarkasmus in der Stimme. Samuel antwortete nichts, aber Claude nickte fröhlich, woraufhin sich das Gesicht des Obersten noch weiter verfinsterte.
„Ich könnte euch auch kielholen lassen. Frische Muscheln haben noch jedem geschmeckt…“
Der goldäugige Junge verzog das Gesicht und funkelte den Kapitän wütend an.
„Ich hasse Fisch!“
Die Züge des Großen weiteten sich vor Gram.
„Halt deine große Klappe, du Missgeburt!“
Schwere Matrosenstiefel traten auf den Jungen ein, und während er langsam das Bewusstsein verlor, hörte er die schreiende Stimme des Kapitäns in seinem Hinterkopf.
„Verdammter kleiner Bastard!“



~°~°~°~


„Übernehmt ihr die Verantwortung?“
„Selbstverständlich. Aber auch, wenn sie das sind, was man blinde Passagiere nennt, können sie die Beiden nicht einfach von Bord werfen!“
Der Kapitän schwieg und schaute leicht desorientiert zu Boden.
„Geht klar, Pater. Nehmt sie nur mit, wir haben ja eh schon angelegt.“
Die Seemänner und ihr Oberhaupt verließen das Hafengebäude und ließen die drei so allein in dem großen Lagerhaus zurück. Samuel war noch immer bewusstlos, aber Claude hielt ängstlich die Hand des Priesters.
„keine Angst, Kleiner, ihr habt Glück gehabt. Auf offener See hätten sie euch gleich dem Wasser übergeben.“
„Danke, dass ihr uns gerettet habt.“, meinte Claude ein wenig schuldbewusst.
„Kein Problem.“, lächelte der Pater, „Ihr steht unter dem Schutz Gottes. Mein Name ist Joe McMillman, wie heißt du?“
„Ich bin Claude. Und das ist mein Bruder Samuel.“
Joe blickte nachdenklich auf den bewusstlosen Bruder herab und kratzte sich am Kinn.
„Was für ein seltsamer Name. Ihr seht euch auch kaum ähnlich.“
Claude verzog die Mundwinkel.
„Der Name ist nicht komisch!“, meinte er trotzig und stemmte die Arme in die Seiten.
„Ist ja gut!“, lachte der Pfarrer, „Komm, wir bringen deinen Bruder erstmal in unsere Dorfkirche, dort können wir ihn wieder gesund pflegen.“
„In Ordnung…“, murmelte Claude mit verschränkten Armen. Joe warf sich den bewusstlosen Jungen vorsichtig über die Schulter und verließ mit leichten, trottenden Schritten das Hafengebäude. Die Menschen, die ihnen begegneten, grüßten den Pater und erkundigten sich nach dem Zustand Samuels, aber nachdem Joe ihnen seine Gesundung versichert hatte, wünschten sie noch einmal gute Besserung und gingen wieder ihren eigenen Geschäften nach. Claude blickte den glücklichen Leuten hinterher und strahlte schon nach kurzer Zeit über das ganze Gesicht. Als der Pater dies sah, musste er unwillkürlich lächeln.
„Und? Ist dieses Land so, wie du es dir vorgestellt hast?“
„Aber ja!“, freute sich der Junge. Joe grinste, aber ein Anflug von Traurigkeit lag in seinen Zügen.
„Dann ist es gut. Willkommen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“



~°~°~°~


Samuel öffnete mühsam die Augen. Sein Körper schmerzte schrecklich und er konnte die blauen Flecken förmlich spüren. Helles, weiches Licht fiel auf sein Gesicht. Als er sich umschaute, erkannte er eine Figur, die neben seinem Bett auf einem Stuhl saß und scheinbar ein Nickerchen hielt, denn der Hut war über das Gesicht gezogen. „Hey!“, rief er und zupfte dem Mann unsanft am Mantelkragen, woraufhin der eben noch Schlummernde zusammenzuckte, blitzschnell eine Pistole aus dem Gürtelhalfter wirbelte und sie dem blinden Passagier ins Gesicht hielt. Überrascht stupste er die Hutkrempe nach oben und lächelte ihn an.
„Oh. Du bist wach. Guten Morgen. Mein Name ist Harry McMillman… aber du kannst mich Hank nennen.“
Dann sah er, dass Samuel vor Angst zitterte und nahm verlegen die Kanone herunter.
„Entschuldigung.“, meinte er lächelnd, „Lass uns lieber noch einmal von vorne beginnen, ich wollte dich nicht erschrecken, das ist nur so ein Reflex.“
Der Mann ließ die Waffe aus dem Sichtbereich des Jungens verschwinden, hielt ihm die Hand hin und grinste abermals. Samuel erholte sich nur langsam von dem Schock und nahm die Finger, wobei er das Zittern seines Körpers langsam wieder unter Kontrolle bekam.
„Wo bin ich?“, fragte er desorientiert mit einem Blick auf die großen Fenster, „Ist dies eine… Kirche?“
„Ja.“, meinte sein Gegenüber, das Haus meines Bruders Joe. Er hat euch gerettet.“
„Ich sollte mich bei ihm bedanken…“
Hank schaute den Jungen an und erkannte Unsicherheit.
„Was ist?“
Samuels Augen verweilten noch ein wenig auf den bunten Fenstern, dann erwiderte er Hanks Blick, woraufhin dem Pistolero das erste Mal die unnatürliche, leuchtende Augenfarbe auffiel.
„Es gibt keinen Gott. Und es hat ihn niemals gegeben.“
„Das sollte dir in deiner Situation egal sein. Schließlich hat dich letzten Endes doch ein Priester gerettet.“
„Warum? Er hatte doch gar keinen Grund?“
Hank lächelte, verschränkte die Arme hinterm Kopf und lehnte sich zurück.
„So ist mein Bruder nun mal. Würde eine Eisenbahn direkt auf ihn zufahren, er würde immer noch die Arme ausbreiten und sie freundlich begrüßen.“
In diesem Moment musste Samuel lachen, und auch sein Gegenüber stimmte mit ein.
„Hast du Hunger?“, fragte er, als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatten. Der Junge nickte nur glücklich und das seltsame Gefühl, welches Harry McMillman überkommen hatte, als er in die Augen des Jungens geblickt hatte, war gänzlich verschwunden.



~°~°~°~


Hank und Joe trauten ihren Augen nicht, als sie beobachteten, wie ihre Vorräte in einer Geschwindigkeit verschwanden, die kaum von dieser Welt schien. Claude riss kleine Brocken von einem riesigen Brotleib ab und hatte seine Zähne schon wieder darin vergraben, bevor die erste Fuhre seinen Magen erreicht hatte. Samuel hielt sich gar nicht erst mit dem Kauen auf, sondern ging sofort zum Hinunterschlucken über. Als Joe das Tischgebet beendete, hatte sich ein Großteil der Speisen schon in Luft aufgelöst, aber der Pfarrer lächelte nur.
„Esst, soviel ihr wollt, wir haben genug da.“
„Ja.“, lachte Hank, „Die Frage ist nur, wie lange noch?“
Nach einigen Minuten neigte sich das Fassungsvermögen der Brüder langsam dem Ende zu und Claude ließ sich mit einem glücklichen Gesicht in den Stuhl zurückfallen.
„Danke, Herr Pfarrer, vielen Dank!“
Joe grinste und räumte den Tisch ab.
„So. Und für das Essen erzählt ihr mir jetzt erstmal ein wenig über euch, wo ihr herkommt, und wieso ihr als blinde Passagiere gereist seid, wäre zum Beispiel sehr interessant.“
Claude wollte fröhlich losreden, aber sein Bruder hielt ihn zurück.
„Wo wir herkommen, spielt keine Rolle, denn dort wollte man uns nicht. Wie ich schon mal erzählt habe, ich heiße Samuel und bin sieben Jahre alt, Claude ist vier. Ich bin von zu Hause abgehauen, und mein dummer Bruder ist mir gefolgt.“
Joe blickte ihm traurig in die Augen.
„Aber wieso denn nur? Eure Eltern…“
„Sind tot.“, fiel ihm der goldäugige Junge ins Wort, „Meine Mutter wurde von einem Priester zu Tode gehetzt, Claudes Vater hat einen Menschen erschlagen und sich dann selbst das Leben genommen.“
Kurz herrschte eine elende Ruhe, dann stand Samuel auf und verließ mit stampfenden Schritten den Raum. Hank blickte düster unter seinem Hut hervor, während Joe schwieg.
„Er meinte, dein Vater hätte sich das Leben genommen. Ich dachte, ihr seid Brüder?“
Claude blickte nur betrübt auf den leeren Tisch vor sich.
„Tut mir leid, aber ich habe meinem Bruder zwei Sachen versprochen, als ich mit ihm gegangen bin. Ich werde nicht die ganze Zeit rumheulen. Und ich erzähle niemandem, was mit Papa und Mama passiert ist.“
Dann stand auch er auf und folgte Samuel. Joes Augen starrten traurig hinter den Beiden her.
„Sie haben schrecklich gelitten.“
Hank blickte auf den Tisch herab und spielte ausdruckslos an seinem Pistolenhalfter herum.
„Ein Wunder, dass der Kleine noch so ein frohes Gemüt hat.“
Das sanfte Licht der Sonne fiel in den Raum und warf den McMillman-Brüdern lange Schatten.



~°~°~°~


„Sie wollen uns doch nur helfen!“, rief Claude dem älteren Jungen hinterher. Samuel stapfte durch das Dorf, Wut lag in seinem Gesicht. Joe wollte nicht helfen. Er war ein Pfarrer, und damit diente er einem Gott. Es gab keinen Gott.
Plötzlich verdrängte irgendetwas Samuels Hass, denn Schreie drangen durch die sandigen Gassen der Siedlung.
„Was passiert hier?“, fragte Claude, der seinen Bruder eingeholt hatte und sich nun ängstlich an ihn klammerte. Der Schwarzhaarige versuchte, etwas durch den Staubmantel zu erkennen, der sich über das Dorf gelegt hatte, aber der Sand brannte schrecklich in seinen Augen. Dann hörte er das Getrappel unzähliger Pferde, die stetig näher kamen. Samuel begann, zu zittern, als er bemerkte, dass Joe und Hank neben den Brüdern standen. Auch sie hielten sich die Hände vor die Augen, um etwas zu erkennen.
„Meinst du, sie kommen wegen der Eisenbahn?“, fragte der Priester seinem Bruder.
„Ich hoffe doch…“, meinte Hank, „Denn ich will nicht wissen, was sie sonst hier wollen sollten.“
Claude zog Joe am Hosenbein.
„Von wem redet ihr, Herr Pfarrer? Wer kommt hierher?“
Die Augen des Älteren waren düster, als er antwortete, ohne Claudes Blick zu erwidern.
„Die Sioux. Ein Indianerstamm.“
Samuel spürte eine ungewöhnliche Erregung in seiner Brust, als das Wort Indianer fiel. Früher hatte man den beiden oft Geschichten erzählt, Geschichten über wilde Eingeborene, die Menschen fraßen und ihre Haare als Trophäe behielten. Joe bemerkte das Glitzern in den Augen des Jungen und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Samuel, vergiss alles, was man dir erzählt hat. Die Sioux sind ein edles Volk. Die Leute von der Railroad Corporation sind jene, die ihre Züge direkt durch das Land der Indianer bauen.“
„Pah...“, raunte Joes Bruder ein wenig abfällig, „Was noch lange nicht heißt, dass wir hier ewig die Bösen bleiben werden.“
„Ich hoffe, dass du Unrecht behältst, Bruder.“, war die Antwort des Pfarrers. Langsam legte sich der Staub, und als man die ersten Gestalten erkannte, trat Joe nach vorn. Samuel bemerkte, dass Hank seine Hand beinahe nervös auf den Revolver gelegt hatte, aber er wusste nicht, ob das nur eine Angewohntheit des Mannes war. Die Menschen auf den Pferden gaben ein beeindruckendes Bild ab, ihre Körper waren kleiner als die eines gewöhnlichen Mannes und ihre Haut war dunkel, aber nicht wie bei einem Neger, eher rötlich, wie der Steppensand. Der schon recht alte Mann, der an der Spitze des Dutzends geritten war, trug eine Kopfbedeckung aus Knochen und Federn, der Zahn der Zeit ließ seine Haut trocken und eingefallen erscheinen. Samuel überlegte, wie alt der Reiter wirklich war, aber er konnte es sich nicht vorstellen. Neben diesem stieg nun ein jüngerer und muskulöserer, wenn auch ebenfalls recht kleiner Mann von seinem Pferd und gesellte sich neben den offensichtlichen Anführer.
„How.“, war seine Begrüßung, wie die Brüder an der gehobenen Hand erkannten. Joe antwortete mit dem gleichen Gruß, in seiner anderen Hand trug er das Jesuskreuz.
„Sei gegrüßt, weißer Mann.“, begann der abgestiegene Indianer mit einer tiefen Stimme und einem Dialekt, den weder Samuel noch Claude irgendwo einordnen konnten, „Ich werde im Namen des alten Wiesels sprechen.“
Der obere Indianer, den man, wie die Brüder später erfuhren, Häuptling nannte, beugte sich zu seinem Übersetzer und sprach einige unverständliche Worte.
„Eure Kohlemaschinen sind weit in unser heiliges Land eingedrungen.“, begann dieser darauf hin, „Altes Wiesel hat befunden, es sei zu weit.“
Joe wandte seinen Blick ab und umfasste das Kreuz fester.
„Altes Wiesel soll wissen, dass ich nur für meine Leute sprechen kann, wenn ich sage, dass wir den Bau der Bahnanlagen nicht gebilligt haben.“
Der Jüngere übersetzte dem Häuptling Joes Worte, woraufhin dieser ein schweres, kehliges Geräusch, gefolgt von einem Nicken und weiteren Sätzen von sich gab. Der Übersetzer wandte sich wieder dem Pfarrer zu und ließ es nicht aus, auch das Stöhnen noch einmal zu wiederholen.
„Wenn ihr einen Steppenwolf seht, überlegt ihr, ob er es war, der eure Tiere gefressen hat? Solange ihr an den Metallwegen arbeitet, seid auch ihr dafür verantwortlich.“
Inzwischen hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, welche die Sprechenden interessiert, aber betont vorsichtig umrundete. Claude und Samuel wagten nicht, einen Ton herauszubringen und auch Hank war die Anspannung deutlich anzusehen.
„Entschuldigt.“, meinte Joe, „Ich werde mit den Verantwortlichen reden und beten, dass wir eine friedliche Lösung finden können.“
Der Indianer verzog die Augen leicht und übersetzte das Gesagte dann in die Sprache der Sioux. Die Antwort folgte sofort, unterstützt von einem düsteren Lachen des Häuptlings.
„So haben wir euch kennen gelernt, Fremde. Wenn es Probleme gibt, schiebt ihr sie auf eure Götter, um euch nicht selbst damit befassen zu müssen. Ein richtiger Gott wäre ein Freund für euch, kein Herrscher.“
Joe tat einen kleinen Schritt nach vorn, streckte den Arm aus und öffnete die Faust.
„Ich bitte euch“, meinte er mit ehrlicher Freundlichkeit, „Nehmt dieses Symbol unseres Gottes, damit er auch euch auf euren Wegen beschützen wird.“
Der Häuptling blickte lange und skeptisch auf das hölzerne Kreuz und die Schnitzerei des gekreuzigten Jesus herab, nahm es dann aber mit einer angedeuteten Verbeugung in die Hand.
„Ich weiß euren guten Willen zu schätzen, Fremder.“, übersetzte der zweite Sioux die Worte des Oberen, „Aber wir erwarten keine Hilfe von Menschen, die den Tod auf so unnatürliche Weise entehren.“
Bei den letzten Worten blickten die Indianer auf die Schnitzerei des toten Jesus. Noch bevor Joe etwas darauf antworten konnte, gaben die anderen Sioux, die bisher unbeweglich auf ihren Reittieren verharrt hatten, den Pferden die Sporen und bildeten eine Reitergruppe. Der Häuptling hob noch einmal die Hand zum Gruße. Sein Übersetzer schwang sich auf das Pferd.
„Wenn eure Kohlemaschinen zum Stillstand kommen, werdet ihr uns nie wieder sehen. Wenn nicht, wird die Zeit kommen, da diese Reiter den Tod bringen.“
Hank spuckte zu Boden, als sich die Pferde langsam entfernten. Kurz traute sich niemand, etwas zu sagen, dann brach ein wildes Durcheinander los. Joe wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte noch immer den Indianern nach. Sein Bruder gesellte sich zu ihm und klopfte ihm mit der Hand auf die Schulter. Viele der Siedler, die glücklich über den friedvollen Verlauf des Gesprächs waren, taten es ihm gleich und schon kurz darauf war der Pfarrer von unzähligen Menschen umringt. Hank grinste und tat einige Schritte, um der Menge zu entkommen. Samuel blickte einfach zu Boden und seine Hände waren zu Fäusten geballt.
„Es gibt keine Götter.“, raunte er in einem Tonfall, der dem Pistolero Angst einjagte, „Weder euren Gott noch die Götter der Indianer. Es hat niemals einen Gott gegeben.“
„Vielleicht hast du Recht, Kleiner.“, meinte Hank und zuckte mit den Schultern, woraufhin Samuel ihn verblüfft anstarrte.
„Du glaubst mir?“, fragte er den älteren McMillman verwirrt. Hank drehte sich um und zeigte mit dem Finger auf die Menschenmenge, die sich um Joe und Claude gesammelt hatte.
„Ich weiß es nicht. Aber ist es nicht auch egal?“
„Egal…?“, brachte der Junge hervor und starrte verständnislos zu den Leuten.
„Sieh in ihre Augen.“, meinte Hank und hockte sich auf den Boden, „Siehst du Angst?“
„Nein.“, antwortete Samuel kurz entschlossen. Die Menschen schienen glücklich und zufrieden, obwohl die Bedrohung durch die Indianer mehr als nur greifbar war.
„Richtig. Und ob es nun einen Gott gibt oder nicht, solange Joe bei ihnen ist, werden sie auch keine Angst haben.“
Der Kleine schaute Hank an und wendete dann ebenfalls den Blick ab.
„Ich verstehe….“
„Nein. Das tust du nicht.“, registrierte dieser murrend, „Du hast noch nichts von dieser Welt gesehen. Aber die Menschen sind froh, wenn sie sich an etwas festhalten können, sei es ein Gott oder eine Familie.“
Dann schwiegen sie eine Zeit lang, bis Samuel schließlich in den Gassen verschwand, ohne ein weiteres Wort zu erwidern.



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Die kleine Hafenstadt war ruhig geworden und die Pioniere, die den Bau der Eisenbahn zu verantworten hatten, waren zu ihren Stammplätzen im Saloon zurückgekehrt. Während sie tagsüber mit dem Ebnen der Strecke und dem Verlegen der Gleise beschäftigt waren, schnupperten ihre verstaubten Nasen einen Hauch von der fremden neuen Welt, jedes Mal, wenn die Sonne unterging, in Bier, in Whiskey und in Absinth. Hank verließ die Bar und erspähte seinen Bruder, der neben den Flügeltüren wartete.
„Schon so früh auf dem Heimweg?“, grinste dieser, als er sah, dass der Pistolero den Saloon verließ.
„Yep.“, murrte er knapp und stellte eine leere Flasche neben dem Gebäude ab, „Man muss ja nicht jeden Tag unter der Bank liegen.“
Joe lächelte und schloss sich den Schritten Hanks an, der daraufhin ein leises „Und?“ von sich gab. Der Pater senkte den Kopf und antwortete nicht. Hank konnte erahnen, was geschehen war. Die Railroad Corporation würde das Privileg der ersten Strecke in den Westen nicht aus der Hand geben, und erst recht nicht wegen ein paar Wilden. Er atmete laut aus. Die Schreibtischtäter hatten in ihrem Leben gewiss noch keinen Indianer zu Gesicht bekommen, und doch betrachteten sie diese ungefähr mit demselben Blick, mit dem sie auch einen Felsbrocken in der Wüste bedenken würden. Die Sioux waren nur ein Hindernis, nicht mehr. Und ein in ihren Augen primitives noch dazu. Hank fürchtete die Auseinandersetzung mit den Ureinwohnern, denn im Gegensatz zu den Arbeitern waren sie in der Jagd geübt, wahrscheinlich sogar im Kampf Mann gegen Mann. Der einzige Vorteil auf Seiten der Siedler waren ihre Schusswaffen. Die behandschuhten Finger des Pistoleros strichen sanft über den Griff des Eisens, das an seiner Seite hing, aber Joe bedachte ihn mit einem traurigen Blick.
„Ich hoffe, Gott steht uns bei, damit es niemals soweit kommt.“
„Hoffen kann man immer, Bruder, aber es ist besser, auf das vorbereitet zu sein, was passiert, wenn dein Gott uns im Stich lässt.“
Joe ließ die seine Worte ohne Erwiderung im staubigen Boden der Siedlung versinken, als sie der Kirche näher kamen.



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Samuel und Claude saßen abermals am Tisch der Millman-Brüder und genossen die Gastfreundschaft.
„Pater Joe.“, fragte Claude zwischen zwei Bissen eines saftigen Hähnchens, „Was wollten die Indianer eigentlich von euch?“
„Nun ja, wir bauen die Strecke direkt durch ihr Land, müsst ihr wissen.“
„Die Eisenbahn?“, hakte Samuel nach.
„Richtig. Wenn wir den Westen dieses Landes erkunden wollen, brauchen wir sie. Und die Railroad Corporation will die Verluste nicht hinnehmen, die entstehen würden, wenn wir die Gebiete der Indianer einfach umbauen…“
„Das hört sich nicht gut an…“, ließ Samuel bemerken, woraufhin Hank sich erhob und gähnte.
„Gut erkannt. Aber es ist nicht euer Problem, Kleiner. Ihr solltet lieber überlegen, wie es mit euch weitergeht. In dieser Siedlung könnte es bald gefährlich werden.“
„Wir werden nicht zurückkehren.“, bemerkte Samuel mit düsterem Blick, woraufhin die Millman-Brüder ihn ein wenig verwirrt anschauten.
„Das meinte er nicht…“, wollte Joe beginnen, aber der Junge mit den goldenen Augen lachte nur.
„Ich danke euch, dass ihr uns geholfen habt, aber wir werden hier bleiben, wenn nicht bei euch, dann woanders, und notfalls auch in den Straßen.“
Hank knallte seine Waffe auf den Tisch und beendete damit jegliche Diskussion. Der Pistolero erhob sich langsam und zog den überraschten Samuel am Saum seines Hemds in die Höhe.
„Hör mir gut zu.“, knurrte der ältere Millman, während der Junge in seinem kräftigen Arm ängstlich mit den Füßen strampelte, „Wir hätten euch nicht aufnehmen müssen, und ihr solltet froh sein, dass mein Bruder euch davor gerettet hat, als Fischfutter zu enden! Euch steht jederzeit frei, zu gehen, aber denk nicht einmal mehr daran, kleiner Bastard, mir irgendwelche Vorschriften machen zu wollen! Wir wissen noch nicht einmal mehr, warum ihr hier seid, und du willst mir sagen, dass ich dich nicht wieder auf den nächsten Kahn nach Europa setzen kann?!“
Samuel zitterte, als der Pistolero sich wieder beruhigt hatte und den Jungen zurück auf den Stuhl setzte.
„Wut ist eine Todsünde, Bruder.“, meinte Joe mit tadelnden Augen, „Allerdings gehört auch der Hochmut zu diesen.“, vollendete er seine Predigt mit Blick auf die Jungen. Claude schluckte, als Hank sich wieder unter Kontrolle hatte und flüsterte seinem Bruder etwas ins Ohr. Samuel nickte widerstrebend und holte tief Luft.
„In Ordnung, ich werde erzählen, was uns passiert ist, aber ihr müsst versprechen, dass ihr uns nicht zurückschickt.“
Joe nickte nur wortlos und legte das Essbesteck beiseite.
„Unsere Mutter lebte zusammen mit ihrem Bruder in einem kleinen Dorf in unserer Heimat. Der Bruder war seit seiner Geburt vollkommen idiotisch und konnte kaum ein deutliches Wort herausbringen, der Pfarrer meinte sogar, er sei vom Teufel besessen! Doch das störte Mutter nicht, sie kümmerte sich um ihren dummen Bruder, wo es nur ging. Eines Tages lernte sie allerdings Claudes Vater kennen und die Beiden zogen zusammen. Den Dummen machte das sehr neidisch, da sich seine Schwester nun kaum noch um ihn kümmerte. Eines Tages schließlich vergewaltigte er unsere Mutter, ohne das jemand etwas davon mitbekam.“
Hank und Joe warfen sich düstere Blicke zu, sagten aber nichts, da sie Samuel nicht in seiner Erzählung unterbrechen wollten.
„Sie warf ihn daraufhin heraus und von diesem Tag an lebte er als Ausgestoßener in der Gosse. Ihrem Mann erzählte Mutter nichts, aus Angst, er könnte sie verlassen. Kurz darauf bemerkte sie, dass sie schwanger war und wendete sich in ihrer Not an den Dorfpfarrer. Der Priester glaubte ihr aber nicht und behauptete, sie hätte ihren Mann mit dem eigenen Bruder betrogen. So flehte ihn unsere Mutter nur an, er möge ihrem Gatten nichts verraten, und widerstrebend gab er ihr das Versprechen.“
Joe schwieg, aber er konnte sich vorstellen, wie die Geschichte ausgehen würde.
Es bedrückte ihn.
„Als ich schließlich zur Welt kam“, fuhr Samuel fort, „war ich schon ein verdammtes Kind. Meine Mutter hasste mich und gab mir den Namen Samuel, der selbst in der Bibel schon für Unheil steht. Vater sagte sie nichts, aber er war misstrauisch, da ich weder ihm noch meiner Mutter ähnelte. Außerdem hatte ich goldene Augen, und die Waschweiber aus dem Dorf redeten immer vom „Teufelskind“ oder vom „kleinen Bastard“. Kurz darauf wurde meine Mutter wieder schwanger. Als das Kind zur Welt kam, war Mutter zwar glücklich, aber das Misstrauen ihres Mannes wuchs nur noch weiter. Der Junge, den sie Claude nannten, hatte blaue Augen und strohblondes, beinahe weißes Haar, genau wie seine Mutter. Mir sah er überhaupt nicht ähnlich. Alles lief gut, bis der Dorfpfarrer eines Tages sein Versprechen brach. Er erzählte Mutters Gatten alles, was sich damals zugetragen hatte, allerdings behauptete er, die junge Frau hätte ihren Mann betrogen, von der Vergewaltigung erwähnte er nichts. Claudes Vater war außer sich vor Wut. Er beschimpfte sie eine •••• und eine Hexe, der Priester bestärkte ihn in dieser Meinung sogar noch. Eines Tages zogen die beiden zusammen mit einem Lynchmob los und töteten den Bruder meiner Mutter. Dem Pfarrer allerdings reichte das nicht, er stachelte die Meute an, und gemeinsam trieben sie auch meine Mutter in eine tiefe Schlucht, wo sie sich zu Tode stürzte. Als die Wut ihres Mannes schließlich nachließ, verstand er, was er getan hatte, und er folgte ihr in die Hölle.“
Samuel legte eine Pause ein, aber die Millman-Brüder saßen noch immer gebannt auf ihren Stühlen, Claude hatte seinen Kopf gesenkt und sein leises Schluchzen bewies, dass er mit den Tränen kämpfte.
„Ich war damals noch ein kleines Kind, und Claude war noch fast ein Neugeborenes. Irgendwie haben wir es geschafft, zu überleben, und obwohl der Priester uns aus dem Dorf jagte, erreichten wir eine andere Stadt. Einige Jahre schlugen wir uns so durchs Leben, und die meisten Leute, denen wir begegneten, fürchteten sich, denn sie hatten unsere Geschichte gehört, die wir zu dieser Zeit selbst kaum verstanden, zudem hatten sie Angst vor meinen Augen. Ich stellte fest, dass es keinen Gott gab, denn ein Gott hätte nicht zugelassen, dass ein Priester so etwas tut.“
Obwohl der Kommentar direkt an ihn gerichtet war, schwieg Joe, und Schmerz überwältigte sein Herz.
„Am Ende“, meinte Samuel dann, ohne auf eine Antwort zu warten, „schmuggelten wir uns auf ein Schiff, denn ich hatte von der fremden neuen Welt gehört, wo alles gut sein soll. So sind wir hierher gekommen.“
„Ich danke dir…“, flüsterte Joe unter Tränen und umarmte Samuel, „Danke, dass du es uns erzählt hast… Ich werde euch unter keinen Umständen von uns gehen lassen.“



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Die folgenden vier Jahre waren die Besten im Leben der beiden Waisenkinder. Nachdem sie den Millman-Brüdern ihre Geschichte erzählt hatten, wurden sie beinahe zu einer großen Familie. Und obgleich Samuels schreckliche Erinnerungen nicht so einfach zu untergraben waren, begann er mit der Zeit sogar wieder, in die Kirche zu gehen, denn Joes Worte ließen Zweifel an der seiner Blasphemie aufkommen.
„Gottes Wege sind unergründlich.“, hatte der Pfarrer einmal während einer Predigt gesagt, und Samuel nahm sich dieser Worte an. Hank lehrte ihn eines Tages auch den Umgang mit der Pistole, da der Junge ein gewaltiges Talent an den Tag legte, was die Präzision anging, schon nach zwei Tagen Übung traf ein geworfener Stein von ihm jede Flasche. Joe predigte den Menschen weiter davon, wie wunderbar doch der pazifische Ozean war und steckte die Kinder bald mit seiner Hysterie nach dem fernen Nass an. So vergingen die Tage und Wochen wie im Flug, Claude half dem Pfarrer in der Kirche, Hank und Samuel übten das Schießen oder arbeiteten mit am Bau der Eisenbahnstrecke. Vom Stamm der Sioux hörte man nicht viel in diesen Tagen, aber die Railroad Corporation war auch nicht bereit gewesen, sich zu einem Kompromiss hinreißen zu lassen. Und obwohl sich noch immer einige Leute vor Samuel fürchteten, wenn er aus irgendeinem Grund in Rage geriet und seine Augen mit Glitzern begannen, ging es den Brüdern besser als je zuvor. Joe war höchst erfreut, als der goldäugige Junge eines Tages in der Kirchentür erschien. Der Pfarrer unterbrach aus Verwunderung seine Predigt und ein Murmeln ging durch die Bänke, als Samuel sich zu den anderen setzte. Das erste Mal seit langer Zeit legte er seine Hände zum Gebet zusammen. Das Leben war schön und Gott hatte die Vier gesegnet. Der Pazifik kam den Siedlern immer näher.



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Der Schicksalstag begann wie jeder andere auch. Nach dem Morgenmahl verabschiedeten sich Samuel und Hank, um an den Schienen zu werkeln, doch gleich, nachdem sie die Kirche verlassen hatten, bemerkte der Pistolero, dass etwas nicht stimmte, denn Schreie drangen in sein Ohr.
„Verdammt!“, rief er laut und legte dann Samuel die Hand auf die Schulter, während er seinen Revolver zog, „Du gehst zu Joe und Claude in die Kirche, Kleiner, ich fürchte, die Indianer sind zurückgekehrt.“
Dann hastete er los, ohne sich umzudrehen. Samuel rannte verwirrt durch die große Pforte, denn von der Bedrohung der Sioux war seit ihrem ersten Besuch nichts mehr zu spüren gewesen. Joe erwartete ihn schon mit besorgtem Blick, denn auch er hatte Schüsse gehört, welche eigentlich nicht zum gewöhnlichen Arbeitsrhythmus der Siedlung gehörten.
„Wartet ihr hier, Kinder, ich muss helfen, die Siedlung zu verteidigen. Möge Gott euch beschützen.“
Claude wollte protestieren, aber der Pfarrer hatte sich bereits ein Gewehr aus dem Nebenraum geholt und war losgerannt.
„Was sollen wir nur tun, Samuel?“, fragte er seinen Bruder. Dieser war noch vollkommen verwirrt und musste erst einmal tief durchatmen, bevor er antworten konnte.
„Na was wohl?“, fragte er mit gespieltem Mut, „Wir treten den Rothäuten in den Allerwertesten!“
Claude kam abermals nicht dazu, Protest einzulegen und folgte seinem Bruder, der übereilig in Richtung der Schienen gehetzt war.



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Als die Brüder ankamen, war ein blutiger Kampf in vollem Gange. Claude schrie und warf sich zitternd an den Körper seines Bruders, aber dieser war kaum mutiger und umklammerte seine Pistole, als wäre sie das einzige, was ihm geblieben war. Von Hank und Joe war nichts zu sehen. Die Sioux waren zahlreicher als beim letzten Mal, etwa drei Dutzend von ihnen hatten sich mit Beilen und Äxten in den Kampf gestürzt, nachdem sie ihre Bögen nach dem ersten Angriff gleich im Wüstensand liegen gelassen hatten. Die Einwohner der Siedlung waren eindeutig in der Unterzahl, viele waren auch schon im Hagel der Pfeile gefallen, aber durch ihre Feuerwaffen hatten sie einen technischen Vorteil. Nur wenige Schritte neben den Brüdern ging ein Siedler mit einer Axt im Hinterkopf zu Boden und sein Blut färbte den Sand rot, wie es auch schon an anderen Stellen geschehen war. Obwohl sich bald auch die Frauen der Pioniere mit in den Kampf warfen, schienen die Indianer ihnen keine Beachtung zu schenken, ebenso wie den beiden Kindern, die zitternd im Sand standen. Samuel nahm seinen ganzen Mut zusammen und legte seinem Bruder die Hände auf die Schultern.
„Komm schon, Claude! Wir müssen uns zusammenreißen“, schrie er, „Damit wir Joe und Hank finden. Wenn wir hier nur herum stehen, können wir gar nicht helfen!“
Auch der Kleinere nickte nun zögerlich und gemeinsam rannten sie zwischen den sterbenden Siouxkriegern und Siedlern hindurch.
„Dort!“, rief Claude plötzlich. Samuel erkannte, was der Bruder gemeint hatte, und stoppte abrupt. Joe stand inmitten einer Hand voll Indianer, unter ihnen der Häuptling, und redete auf die Rothäute ein. Samuel wollte gerade zu ihm eilen, als die ersten Bogensehnen surrten.
Der goldäugige Jung fiel auf seine Knie und der Revolver entglitt seiner Hand.
Claude schrie, als die Sehnsucht in Joes Augen erlosch und der Pfarrer zu Boden ging, neben einem Pfeil in seiner Brust hatte sich ein anderes Projektil in den Hals gebohrt und ließ den Kopf in einer abstoßend unnatürlichen Position herabhängen.
Dann hoben die anderen Sioux auf den Pfarrer ein. Samuel rannte kreischend auf die Menge zu, aber ein Indianer, der ihn bemerkt hatte, verpasste ihm einen Tritt, bevor seine kleinen Arme überhaupt nur in Reichweite waren. Claude blieb sitzen, wo er war, sein ganzer Körper zitterte vor Angst, Tränen liefen aus seinen Augen. Der Indianerhäuptling stellte sich vor dem goldäugigen Jungen auf und begann, einige Worte in seiner Sprache zu sprechen, die Sonne, welche direkt über ihm glutrot auf Samuel hinab brannte, verlieh seinen Sätzen einen tödlichen Nachdruck. Der Junge verstand kein Wort, als die anderen Sioux Joes Leiche in die Höhe hoben, aber er erkannte den Anhänger Christi, welchen der Pfarrer dem Oberhaupt zum Geschenk gemacht hatte. Die goldenen Augen waren verstört auf die hölzerne Schnitzarbeit, welche der Häuptling um den Hals trug, gerichtet, aber er war nicht im Stande, ein einzelnes Wort hervorzubringen. Der Oberste der Sioux bedachte ihn mit einem herablassenden Blick und schritt auf die Leiche zu, welche seine Untergebenen gerade auf ein Holzgestell hingen. Mit beinahe erschreckender Vorsicht legte er die Figur um Joes Hals und sagte abermals etwas in seiner Sprache. Einer der Indianer, Samuel erkannte ihn als den Übersetzer vom ersten Besuch, zeigte mit dem Finger auf die Leiche.
„Möge sich euer Totengott ihm annehmen!“, rief er. Samuel war noch immer nicht in der Lage, zu sprechen, der leblose Körper Joes raubte ihm den Atem. Plötzlich erklangen Schussgeräusche hinter den Kindern. Die Indianer blickten sich nervös um und entschieden sich auf einen Wink des Häuptlings zum Rückzug. Der letzte Sioux zog kräftig an einem Seil, welches die Rothäute um den toten Körper des Priesters gelegt hatten und zerrte die Leiche so in ihre endgültige Position, dann warf auch er sich auf sein Pferd und ritt los. Als Hank und die anderen überlebenden Siedler den Ort erreichten, waren die Sioux längst verschwunden. Samuel hockte wild zitternd im Sand, Claude hatte längst das Bewusstsein verloren.
„Verdammter…“, war das Einzige, das Hank in seinem Ekel über die Lippen bringen konnte, aber das Bild, welches sich nun allen Anwesenden bot, sollte sich in Samuels Gedächtnis brennen und ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr loslassen.
Ein breiter, vermoderter Holzpfahl, der durch einige angenagelte Bretter wie ein gewaltiges Kreuz anmutete, zerrte Joes Körper in die Höhe. Die Arme des Pfarrers waren an den Seiten des Brettes festgebunden, seine Beine und der Kopf hingen schlaff hinunter. Als die Sonne auf das große Holzkreuz und den blutigen Körper des Pfarrers schien, erkannte Samuel, dass er die gleiche Position wie der heilige Sohn angenommen hatte, denn die Schnitzerei baumelte geschmacklos an seinem verzerrten Hals, Blut floss über den hölzernen Leib Jesu und tropfte dann in den Wüstensand.
Samuel fürchtete sich nicht mehr, denn er verspürte keine Lust, noch länger zu leben. Sein Körper zitterte nicht mehr, die Augen waren leer.
Und er verstand, was der Indianer gemeint hatte.



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Hank und die anderen Siedler begannen bald, die Verwundeten zu versorgen und die Gefallenen vor den Aasfressern zu beschützen. Joes Ableben hatte die Bewohner in tiefe Depressionen gestürzt, dennoch erfüllten sie ihre letzte Pflicht den Toten gegenüber. Auch, als Hank und einige andere die verstümmelte Leiche des Pfarrers von seinem Kreuz holten, rührte Samuel sich nicht. Erst, als es dunkel wurde, betrat er wortlos den Saloon und setzte sich zu Hank und Claude. Niemand redete an diesem Tag laut oder spielte Karten. Der kleinere Bruder weinte den ganzen Abend, doch Samuel konnte es ihm nicht übel nehmen. Er selbst fühlte gar nichts mehr.
„Sein Traum ist tot.“, meinte Hank nach einiger Zeit, den Blick ins Whiskeyglas gerichtet. „Joe wird den Pazifik niemals sehen. Und wir genau so wenig.“
Samuel blickte ihm ausdruckslos in die Augen, erhob sich dann aber ohne ein Wort und verließ die Bar. Hank sah ihm kurz nach, folgte dem goldäugigen Jungen dann, zusammen mit Claude.
Das ältere Waisenkind stoppte erst vor dem großen, hölzernen Sarg, der den Körper des Priesters barg.
Lange schwiegen alle drei, dann ergriff der goldäugige Junge seinen Gürtel und klemmte ihn unter dem Deckel ein.
„Was soll das werden?“, fragte Hank verwirrt, „Samuel, was zur Hölle tust du da?“
Dieser blickte dem Pistolero in die Augen und seine Pupillen leuchteten.
„Joe wird den Pazifik sehen.“
„Joe ist tot!“, schrie Claude in die Nacht, und Hanks Gesicht bekam einen wütenden Ausdruck.
„Wir alle werden ihn vermissen, Kleiner, aber du musst akzeptieren…“
Dann stoppte er, denn Samuel hatte seinen Revolver gezogen und zielte auf Hanks Stirn. Claude brach verwirrt in Tränen aus.
„Was soll das, Samuel?! Lass das!“
Der Pistolero machte vorsichtig einen Schritt zurück, denn der Blick des Jungen ängstigte ihn, seit dem Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten, waren diese Augen nicht mehr zum Vorschein gekommen.
„Was hast du vor… Samuel?“, fragte er ruhig, als der Junge begann, den Sarg hinter sich herzuziehen. Als er neben Hank stand, antwortete er, ohne ihm in die Augen zu blicken.
„Es gab einen Gott, aber er ist tot. Mein Leben hat keinerlei Bedeutung mehr, Joes dagegen schon. Ich werde ihm seinen letzten Wunsch erfüllen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte der Junge seinen Gang fort, der Sarg schabte im sandigen Boden der Wüste, als würde er tiefe Wunden ins Antlitz der Erde schneiden. Hank drehte sich ungläubig um.
„Samuel, lass den Unsinn. Du würdest den Pazifik nicht einmal mehr mit einem Pferd erreichen, geschweige denn zu Fuß! Du wirst in der Wüste elendig verdursten!“
Der Junge beachtete ihn nicht und lief einfach weiter. Hank wurde wütend.
„Hey!“, rief er laut und ging auf den Goldäugigen zu. Dieser drehte sich um und zog die Waffe, kein Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
„Komm mir nicht näher.“
Der Pistolero nahm sich zusammen, überzeugte sich, dass der Junge ihn gewiss nicht umbringen würde und sprang auf ihn zu. Claude kreischte, als der Bastard das erste Mal auf einen Menschen schoss.



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Hank erwachte schweißgebadet aus einem Alptraum und spürte sofort den Schmerz in seiner Schulter. Er erinnerte sich der Ereignisse des letztens Tages und umfasste den Verband, welcher ihm angelegt worden war.
Das Kind hatte tatsächlich geschossen.
Hank wusste zwar, dass er ihn nicht umbringen wollte, sonst hätte er es getan, aber die Tatsache, dass ein Junge von kaum zehn Jahren auf ihn gefeuert hatte, erschütterte ihn zutiefst. Er hatte zuviel Blut verloren, um Samuel zu folgen, aber die Siedler hatten dem Pistolero versichert, dass sie sich an diesem Morgen darum kümmern würden, weit konnte der Junge schließlich nicht gekommen sein. Hank stützte die Stirn in die Hände. Der Ausdruck in Samuels Augen hatte sich in seine Gedanken gebrannt und er wusste nun nicht mehr, zu was der Junge fähig war. Das Schlimmste war, das Claude seinem Bruder gefolgt war.
„Ich kann damit leben, dass du auf mich geschossen hast, Kleiner.“, sprach Hank flüsternd in den leeren Raum, „Und ich werde dir auch verzeihen, dass du die Leiche meines Bruders schändest.“
Dann ballte der Pistolero die Faust und verzog das Gesicht.
„Aber ich werde nicht zulassen, dass du dein Leben und das deines Bruders für einen Toten in den Wüstensand trittst.“



~°~°~°~


Auch Samuel erwachte aus einem Alptraum. Über ihm standen die Sterne am Himmel und ein warmes Lagerfeuer brannte neben dem Jungen. Einige Indianer saßen im Kreis darum und unterhielten sich mit seinem Bruder Claude. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Er war in der Wüste zusammengebrochen und hatte auf den sicheren Tod gewartet, den Riemen des Sarges fest in der Hand. Die Indianer hatten die Brüder scheinbar gerettet, obgleich Samuel nicht verstand, warum.
„Euer Totengott war gut mit euch.“, meinte der Sioux, welcher die Sprache der Brüder verstand, zu dem Erwachten. Samuel erhob sich und setzte sich mit an das Feuer. Er schwieg und dachte nach, aber er war sich sicher, dass ihn kein Gott gerettet hatte.
„Wieso helft ihr uns?“, fragte er die Indianer.
„Warum sollen wir euch nicht helfen?“, gab der Übersetzer stumpf zurück, „Ihr baut keine Eisenpferde durch unser Land. Ihr tragt keine Waffen, sondern nur einen Toten bei euch. Wir haben keinen Groll gegen euch.“
Samuel war froh darüber, den Revolver in dem Sarg verstaut zu haben, aber er sagte nichts. Claude blickte ihn traurig an, und der ältere Bruder verstand, dass er ihm Vorwürfe wegen Hank machte. Betreten wandte er den Blick ab.



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Die Reiter der Siedlung fanden am nächsten Tag keine Spur von den beiden Brüdern, und tiefer hinein ins Gebiet der Sioux trauten sie sich seit dem nächtlichen Angriff nicht mehr. Hank war wütend, beschloss jedoch, den Jungen eigenhändig zur Vernunft zu bringen. Der Widerstand der Sioux-Indianer gegen die Railroad Corporation dauerte nicht mehr lange an, denn die Organisation rüstete die Siedler mit besseren Waffen aus und schickte sie in eine Kampfausbildung. Nach wenigen Wochen waren die letzten Überreste des einst mächtigen Stammes in alle Windrichtungen zerstreut und der Bau der Eisenbahn ging zügig voran. Schon bald trafen die Siedler auf eine andere Baugruppe, die schon wesentlich weiter war. Hank nutzte diese Gelegenheit, und stieg durch seine Fähigkeiten dort schnell zum Sheriff auf. Sein Ziel verlor er niemals aus den Augen. Dann eines Tages, beinahe drei Jahre später, er hatte eigentlich schon damit gerechnet, dass Samuel längst verstorben war, drang plötzlich eine seltsame Nachricht zu ihm. Die Nachricht von einem goldäugigen Bastard, der zwei erwachsene Männer erschossen hatte und stets einen großen Sarg bei sich trug. Hank hatte sich gleich aufgemacht, und obwohl die Bahnstrecken bereits eine gewaltige Länge und einen unglaublichen Umfang angenommen hatten, war er schnell auf die Spur des Jungens gekommen. Der Sheriff verfolgte Samuel, wo er nur konnte, aber die einzigen Nachrichten, die er erhielt, waren jene über die zweifelhaften Kämpfe des Bastards. Mal hatte ihn eine ganze Gemeinde für seine Gotteslästerung, einen Sarg mit sich zu tragen, verfolgt und doch war er entkommen. Langsam aber sicher baute sich eine Legende um Samuel auf, wie Hank befürchtete, denn solche Gerüchte lockten immer Aasgeier an, und die Vermutungen, die er hier und da über den Inhalt des Sarges vernahm, ärgerten ihn ebenfalls. Zähneknirschend verfolgte er den Weg des Jungens, aber auch nach drei Jahren hatte er ihn nicht wieder zu Gesicht bekommen.



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Samuel und Claude waren lange Zeit durch den unentdeckten Kontinent gezogen. Der Wüstensand hatte sich in den Haaren des Älteren festgesetzt und sie beinahe gräulich werden lassen. Eines Tages, als sie in einem Wagon gemeinsam auf dem Sarg saßen, stellte Claude plötzlich eine Frage, die seinen Bruder zutiefst verunsicherte.
„Was ich tun werde, wenn wir Joe zum Pazifik gebracht haben…?“, wiederholte der Ältere zögernd, „Ich weiß es nicht…“
Claude schwieg, denn er hatte seinen Bruder in den vergangenen Jahren vollkommen durchschaut. Er wusste, dass Samuel nicht davon ausging, die Reise zu überleben. Sein Wille war längst versiegt und alle Blicke des goldäugigen Jungen lagen nur noch auf seinem Ziel. Claude erinnerte sich gern an die Zeit, als Samuel noch mit ihm gelacht hatte. Nun lächelte er niemals mehr.
„Wenn Joe den Pazifik gesehen hat.“, wiederholte Samuel nach langer Zeit in Schweigen noch einmal, „Wird auch mein letzter Wunsch erfüllt sein.“
Claude blickte ihm traurig in die Augen und sagte nichts mehr.






Drittes Kapitel


„Dieser Hank verfolgt euch seit beinahe drei Jahren?“, hakte Carmen verblüfft nach. Claude nickte nur. Seine Augen zeigten, dass ihn die eigene Geschichte betrübte. Das Mädchen blickte vorsichtig zu dem Sarg hinüber, der nun wieder unschuldig an der Wand lehnte. dieses Mal ging keine Faszination mehr von dem Mahagoni aus, es war ein alter verdreckter Leichenkasten aus zerschossenem Holz, der längst unter der Erde ruhen sollte, wo sein rechtmäßiger Platz war. Sofern man diese letzte Ruhestätte überhaupt einem Menschen zumuten wollte. Die Seele des toten Joe tat Carmen ein wenig leid.
„Warum hast du nie versucht, Samuel aufzuhalten?“, fragte sie Claude, und gegen ihren Willen klang der Satz ein wenig nach einem Vorwurf. Der kleine Junge schaute sie an und wandte den Blick dann kopfschüttelnd wieder ab.
„Du hast ihn kennen gelernt. Niemand kann ihn davon abhalten, und wenn man ihm beide Beine zerschießen würde, Samuel würde sich mit den Händen bis zum Pazifik zerren.“ Als Carmen etwas erwidern wollte, fügte er geschwind „Außerdem ist er mein Bruder.“ hinzu, was das Mädchen schnell verstummen ließ.
„Ich werde ihm helfen, den Sarg im Meer zu versenken.“
„Das ist vollkommener Schwachsinn!“, rief die Schwarzhaarige zur Antwort und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, „Was soll ein Sarg im Meer, irgendwann wird er an Land treiben, und dann wird am nächstbesten Strand verrotten, das heißt, solange die Haie sich ihn nicht schon vorher holen!“
Claude zuckte zusammen, fasste dann aber Mut.
„Pah! Unter der Erde geht es ihm nicht anders, die Maden zerfressen seinen Körper so oder so. Aber es war sein Traum, das große Meer im Westen zu sehen, und deshalb wird wenigstens seine Seele Ruhe finden!“
„Das glaube ich nicht. Und dein Bruder hält Gott für einen Toten, euer Freund Joe kann nicht hoffen, von einem Heiden ins Himmelreich geführt zu werden!“
„Wieso nicht?“, erklang Samuels Stimme fast schon amüsiert im Gang und unterbrach so das eskalierte Gespräch der Beiden. Die klackenden Schritte seiner Stiefel kamen näher und die Müdigkeit war fast gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden.
„Ich bin genau so gut darin, jemandem Seelenruhe zu verschaffen, wie es auch ein toter Gott tun würde.“
Carmen stand wutentbrannt auf und schrie ihm ins Gesicht.
„Gott ist nicht wie du und ich, hör endlich auf damit! Der Allmächtige kann niemals sterben!“
„Wieso nicht?“, antwortete der ältere Bruder seelenruhig, was das Mädchen nur noch wütender machte, „Es heißt, er habe uns nach seinem Vorbild geschaffen.“
Als Carmen gerade aus ihrer Haut fahren wollte, wurde das Gespräch unsanft unterbrochen, denn ein lautes Hämmern drang aus dem Kirchenschiff.
„Komm raus, du Bastard! Wir wissen, dass du dort drin bist!“
Samuel wandte seinen Blick nicht ab, als er den schweren Lederriemen des Sarges ergriff und den Leichenkasten schulterte.
„Komm mir nicht in die Quere. Sonst bring ich dich um.“
Die schwarze Kanone lag wieder in der Hand des älteren Bruders, als er zur Hintertür des Gotteshauses eilte. Claude entschuldigte sich mit einem verschmitzten Lächeln bei ihrer Gastgeberin und folgte ihm dann. Das Pochen wurde lauter, und doch konnte Carmen die Kinder nur anstarren. Routiniert spähte der Ältere durch die Tür, bevor die beiden gemeinsam auf dem Friedhof verschwanden. Das Portal wurde nun aufgestoßen und einige Bewohner der kleinen Siedlung stürmten in die Halle. Das schwarzhaarige Mädchen ignorierten sie in ihrer panischen Suche völlig, und so konnte Carmen bald einen düster dreinblickenden Mann mit dunklem Duster und einem Schlapphut ausmachen. Das musste Hank sein. Sie traf eine Entscheidung und verließ die Kirche unbeachtet durch die kleine Pforte, durch die auch die Brüder verschwunden waren, ohne darüber nachzudenken, was sie in diesem Moment tat.



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„Wartet!“
Die Stimme pendelte irgendwo zwischen einem Flüstern und einem Rufen, und so verlangsamten die Kinder ihre Schritte.
„Was ist noch?“, fragte Samuel und schaute nervös zu der Tür, hinter der die Geräusche einer aufgebrachten Menschenmenge zu hören waren.
„Ihr habt keine Ahnung, wo ihr hingehen sollt.“
„Wir gehen zum Pazifik.“
„Das meine ich nicht!“
Carmens laute Worte erschreckten die Brüder ein wenig. Die Wangen des Mädchens hatten sich vor Wut gerötet und die Hände waren zu kleinen Fäusten verkrampft.
„Die Eisenbahn führt nicht weit entfernt von hier an der Kirche vorbei, ihr solltet mir zuhören, wenn ihr nicht wollt, dass der Mob euch für ein paar Münzen Belohnung an den nächsten Baum knüpft.“
„Sie hat Recht.“, sprach Claude nach einer Weile und sah seinem Bruder ernst ins Gesicht. Der Ältere schien mit sich zu zweifeln, aber schließlich schulterte er seine verrottende Fracht wieder und drehte Carmen den Rücken zu.
„Danke.“, meinte er leise, und das Mädchen konnte sich vorstellen, wie viel Überwindung ihn dieses einzige Wort kosten musste. Die ungleichen Brüder hatten gerade die Friedhofsmauer erreicht, als eine andere Stimme die Stille des Gottesackers durchbrach.
„Samuel!“
Der Junge erstarrte sogleich und drehte sich langsam wieder um.
„Viel los heute, möchte man meinen.“, grinste er, aber der Schweiß auf seinem Gesicht deutete an, dass ihm die Geschehnisse in eine gehörige Angst versetzten. Hank stand in der offenen Kirchentür und hatte seinen Revolver auf den Jungen gerichtet.
„Endlich habe ich euch gefunden.“
„Hank.“
„Stell meinen Bruder auf den Boden und leg die Waffe weg.“
Carmen spürte die Anspannung in der Stimme des Sheriffs, und sie hörte das Kreuz, welches der Pistolero immer wieder leise gegen seine Kanone schlagen ließ.
„Ein Kreuz, Hank? Du meintest einmal, du würdest nicht an Gott glauben.“
„Das tue ich auch nicht.“
Die finstere Miene blieb unverändert.
„Aber er hilft mir, wie er auch meinem Bruder geholfen hat, als er noch am Leben war. Bevor du ihn seiner letzten Ruhe beraubt hast.“
Ein bösartiges Lächeln legte sich auf Samuels Gesicht.
„Wen habe ich beraubt? Joe? Oder Gott? Oder sogar beide?“
Harry McMillmans Mundwinkel verzerrte sich bedrohlich und er zog den Hammer der Waffe zurück.
„Ich sage es dir noch einmal. Leg die verdammte Kanone bei Seite.“
Die goldenen Augen des Jungen funkelten undurchsichtig.
„Du weißt, dass ich das nicht tun kann. Ich muss deinem Bruder noch einen letzten Wunsch erfüllen.“
Langsam hob er seine eigene Pistole an. Der Pistolero wusste, dass er diesmal nicht zweifeln durfte, sonst wären die letzten drei Jahren umsonst gewesen. Gerade, als der passende Moment zum Abdrücken näher kam, trafen ihn plötzlich einige Körperteile im Rücken. Die Meute hatte die Hintertür entdeckt und strömte nun mit Mistgabeln und Sicheln über die Türschwelle. Der kurze Moment, in dem Hank irritiert war, hatte den Brüdern gereicht. Als er sich fluchend umwandte und wieder panisch die Waffe nach oben zerrte, sah er nur noch die Schemen der Jungen, die gerade hinter der Friedhofsmauer verschwanden, der große Umriss des Sarges mit ihnen. Die Bewohner des Dorfes drängelten sich noch immer wie die Krähen auf den Friedhof, und als Hank sie abgeschüttelt hatte, war von Samuel und Claude nichts mehr zu sehen.



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Carmen rannte wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Die Blicke, die sich Hank und der goldäugige Junge zugeworfen hatten, waren von soviel Bitterkeit durchdrungen gewesen, dass selbst das Mädchen begann, an der ewigen Gnade Gottes zu zweifeln. Sie wusste nicht, warum, aber irgendwie musste sie verhindern, dass einer der beiden noch mehr Schuld auf sich lud, keine Beichte der Welt würde dieses Gewicht jemals von den Schultern der Männer nehmen können.
Vorn kam die Bahnstation in Sicht. Der Schornstein des Führerwagens qualmte bereits bedrohlich, und die letzten Gäste hievten ihre Taschen und Körper in die überfüllten Waggons. Weiter hinten hatte man zwei Plattformen für Tiere und Fracht angehängt. Die Gestalten, die sich gerade unauffällig zu jenen Wagen schlichen, ließen der Schwarzhaarigen einen Stein vom Herzen fallen, offenbar hatten es die Brüder vor dem Lynchmob geschafft. Sie rannte auf die Beiden zu, als plötzlich ein lauter Knall ertönte. Samuel starrte zu einen kleinen Durchgang der Bahnstation, aus dem Hank heraustrat, der Lauf seines Revolvers zog eine dünne Qualmschwade hinter sich her. Das Projektil hatte sich wirkungslos in den Sarg gebohrt.
„Du schießt auf deinen eigenen Bruder?“, schrie ihm der Junge zu. Die anderen Gäste hatten sich schnell in die Wagen verzogen oder waren gänzlich geflohen, das Pfeifen des Waggons zeigte zudem überdeutlich, dass auch der Zugführer es eilig hatte, diesen Ort zu verlassen.
„Mein Bruder ist tot. Du lebst. Und ich will nicht auf dich schießen. Ich sage es dir ein letztes Mal - steig aus dem verdammten Zug!“
Samuel grinste ihn an und zog dann seine beiden Waffen. Die Räder der Maschine setzten sich in Bewegung, und als Carmen von weiter weg die unmissverständlichen Rufe des Mobs hörte, sprang sie kurz entschlossen auf das Geländer an der Rückseite des letzten Waggons. Claude kreischte, als Harry McMillman das Feuer eröffnete. Die Kugeln schlugen präzise an den Stellen ein, wo Samuel zuvor noch gestanden hatte, nur die schnellen Reflexe und das instinktive Umherschnellen des Jungen verhinderten, dass er getroffen wurde. Seine Erwiderung folgte auf dem Fuße, und Hank hatte gewaltige Probleme damit, nicht im Kugelhagel der beiden Schusseisen unterzugehen. Während er auf den anfahrenden Zug zurannte, luden die geübten Finger den Revolver nach. Leere Patronen säumten den Boden, und die Handschuhe des Pistoleros umklammerten schließlich eine Eisenstange am letzten Wagen. Er drückte sich an die Rückseite, sein Gegner tat es ihm ein Abteil weiter vorn gleich, und so war das Pfeifen und Donnern des Zuges für einen Moment das einzige Geräusch.
„Hört auf!“, rief Claude, „Hört auf damit!“
Dicke Tränen rannen die Wangen des Bruders entlang, aber Samuel schenkte ihm nicht einen einzigen Blick. Der Atem des Bastards ging stockend, als er seinerseits neue Munition einlegte. Carmen presste sich vor Angst an die Tür der Dampfmaschine.
„Samuel!“, drang der Schrei des Pistoleros durch die lautstarke Geräuschkulisse des Zuges, „Gib auf! Du hast Menschen umgebracht, nur, um einen Toten in den Pazifik zu werfen! Hör auf, dein Leben kaputt zu machen!“
„Und was ist mit Joe?!“, erwiderte der Goldäugige, „Gott hat selbst ihn bestraft, seinen treusten Diener! Er hat ihn mit sich gerissen, als er jämmerlich verreckt ist! Warum sollte es uns besser gehen?!“
„Wir entscheiden selbst, Junge!“
Ein Pfeifen des Führerwagens unterbrach den Sheriff kurz, aber er ließ sich nicht unterkriegen. Der Fahrtwind riss seinen Schlapphut mit sich.
„Gott kann helfen! Aber leben müssen wir selbst! Hör endlich auf mit dem Dreck! Merkst du nicht, dass dein Bruder nur bei dir ist, weil er hofft, dass du endlich kapierst, dass das Leben immer weitergeht?!“
Samuel schaute zu Claude herab, aber der Junge hatte sich verkrampft und schluchzte nur leise in sich hinein. Ihm fiel auf, dass er ihn lächelnd viel lieber mochte.
„Wahrscheinlich hast du sogar Recht, alter Mann.“, sprach der Goldäugige schließlich, „Aber jetzt ist es zu spät.“
Hank verstand nicht, was Samuel gesagt hatte, denn seine Stimme war plötzlich sehr leise geworden. Der Pistolero riskierte einen Blick um die Ecke, aber kaum, dass er sich bewegt hatte, donnerten einige Schüsse gegen die metallene Verkleidung des Zuges, knapp an seinem Gesicht vorbei. Er konnte sich gerade rechtzeitig wieder in Sicherheit bringen, um das Lachen seines Gegners zu hören.
Carmen nickte sich selbst entschlossen zu. Auf diese Art und Weise würde einer der beiden die Fahrt nicht überleben, und das war das Letzte, was sie wollte. Gerade, als Hank vorsichtig den Lauf seines eigenen Revolvers zu der Kante schob, trat ihm das Mädchen mit ihrem Stiefel in die Kniekehlen. Verwirrt und überrumpelt fiel der ältere Mann vom Zug und überschlug sich einige Male. Es schmerzte die junge Frau zwar, ihn verletzten zu müssen, aber es war immer noch besser, als dass es Tote zu beklagen geben würde. Dann jedoch schnappte sie plötzlich nach Luft, denn Hank rollte sich ab und war kurz darauf wieder in der Hocke. Er zielte noch einmal genau auf den schwarzen Haarschopf, der hinter dem zweiten Waggon hervor lugte und drückte ab.



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Claude sah entsetzt, wie der Kopf seines Bruder zurück geschleudert wurde, die Hände des Jungen ließen locker, seine Waffen entglitten ihm, dann schlug er auf dem Boden des Abteils auf. Eine Blutlache verließ die große Wunde in seinem Hals, und die goldenen Augen des Älteren waren weit aufgerissen. Zu seiner größten Verwunderung sah Claude darin jedoch weder Entsetzen noch Panik. Er sah Ruhe. Eine Ruhe, die er seit drei Jahren nicht mehr im Gesicht seines Bruders hatte finden können, sogar ein sanftes Lächeln. Schnell warf er einen Blick aus dem Waggon. Hank wurde immer kleiner und verschwand schließlich völlig, als der Zug pfeifend eine Kurve nahm. Carmen hangelte sich am Äußeren des Wagens entlang und umarmte den Jungen, Tränen liefen ihr eigenes Gesicht herab.
„Ich… ich darf nicht weinen.“, sagte Claude plötzlich. Das Mädchen schaute ihn nur mit geröteten Augen an und war froh, als er seine Worte selbst erklärte.
„Samuel meinte, er sei schon tot. Deshalb … muss ich nicht weinen.“
Die Schwarzhaarige wussten darauf nichts zu erwidern und drückte den kleineren Bruder stattdessen noch fester an sich. Nun musste auch er schluchzen. Die Dampfmaschine überspielte die Geräusche ihrer Trauer, und der Zug fuhr eine lange Zeit, ehe einer der Beiden wieder ein Wort von sich gab.






Viertes Kapitel


Der Fahrer des Planwagens schüttelte misstrauisch den Kopf. Die Frau und der kleine Junge hievten einen alten Sarg von seinem Gefährt, die Ursache des Gestankes, den sie die ganze Reise über ertragen mussten. Die Beiden schien der exquisite Geruch nicht zu stören. Wie konnte man sich nur an so etwas gewöhnen?
„Keine Fragen, wie zuvor abgemacht. Gute Heimfahrt.“, meinte die junge Frau und drückte ihm ein Bündel Scheine in die Hand. Das schmierige Grinsen auf dem Gesicht des Mannes bewies, dass er nur allzu einverstanden war. Bald war von seiner Anwesenheit nicht viel mehr als eine Staubwolke am Horizont zu vernehmen. Die beiden Gestalten standen lange am Strand und schauten auf das ewige Blau des Ozeans hinaus.
„Es ist wunderschön.“, meinte Carmen, und Claude pflichtete ihr mit einem zurückhaltenden Lächeln bei.
„Wie die Unendlichkeit.“, ergänzte er.
Gerade, als sich die beiden daran machen wollten, den Sarg ins Meer zu schieben, erklang aus der Entfernung das Getrappel von Hufen. Einige Minuten später stand Harry McMillman vor ihnen, den rechten Arm in einen dicken Verband gewickelt. In einer anderen Situation hätte Carmen darüber gelacht.
„Lasst sie nicht länger warten.“, meinte der Pistolero und stieg von seinem Pferd ab.
Claude nickte und schob den Leichenkasten vorsichtig über den Sand.
„Warum hältst du mich nicht auf?“, fragte er leise, ohne den Ankömmling ins Gesicht zu schauen.
„Warum sollte ich? Unsere Brüder sind tot.“
Claude hielt ein.
„Samuel hat gelächelt. Er hat gelächelt.“, flüsterte er.
Eine einzelne Träne lief über das Gesicht des jüngeren Bruders.
„Wieso hat er gelächelt, Hank? Sag schon.“
„Das ist leicht, Kleiner. Er hat verstanden, dass wir unser Schicksal nicht in die Hände eines Gottes legen dürfen, und ebenso hat er auch verstanden, dass es ihm nicht zusteht, über dein Schicksal zu entscheiden.“
Der Pistolero starrte lange auf den Ozean hinaus.
„Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht ist er bereits in dem Moment gestorben, als die Sioux Joe umgebracht haben. Ob es einen Gott gibt oder nicht, oder ob es ihn jemals gab, spielt keine Rolle. Er ist tot. Und er hat sich damit abgefunden.“
„Was bleibt ihm anderes übrig?“, fragte Claude in die Einsamkeit des Meeres.
Dieser Kommentar brachte Hank zum Schmunzeln, denn er hätte ebenso gut von einem alten Mann stammen können. Der Pistolero ging zum Strand und gab dem Sarg einen kräftigen Tritt. Das Holzgefängnis glitt ins Wasser und wog ein wenig auf und ab, bevor es langsam, aber sicher von den Wellen davon getragen wurde.
„Joes Traum hat sich erfüllt. Und Samuels Seele sollte nun auch zufrieden sein, sofern es denn eine Seele gibt.“
„Ich glaube“, fiel ihm Claude ins Wort, „er war bereits in dem Moment zufrieden, in dem er auf dem Zug in die Knie gegangen ist. Sonst hätte er nicht gelächelt.“
Carmen nickte und legte Hank die Hand auf die Schulter, bevor sie sich zum Gehen wandte. Claude mochte es nicht sehen, aber sie erkannte den unermesslich tiefen Gram des Mannes.
„Was nun?“, fragte er, um seine Trauer zu verstecken.
„Ich kehre nach Hause zurück“, antwortete das Mädchen schnell. Ein letzter Blick auf den Sarg ließ sie abermals überlegen, warum sie all das getan hatte, aber auch Samuels Bild vor Augen gab ihr keine Antwort, die irgendwie geholfen hätte. Claude wandte den Blick ab.
„Ich werde sehen, was ich mache.“
„Ich hätte da einen Vorschlag.“
„Hm?“
Ein Lächeln hatte sich auf Hanks Gesicht gelegt und er spielte mit dem bleiernen Kruzifix herum, das an seiner Kette hing.
„Ich kenne da eine Kirche, in der früher ein großer Mann gepredigt hat. Leider ist er von uns gegangen, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass auch du nicht schlecht darin wärst, den Menschen Hoffnung zu schenken. Glücklicherweise wurde diese Kirche an mich vererbt. Und mit einigen Jahren Unterricht an der Pfarrschule…“
Claude strahlte vor Glück.
„Ich darf Joes Nachfolge antreten?“
„Wenn du willst und ein Bisschen älter bist, gerne.“, lachte Hank.
Der Junge stieß einen Freudenschrei aus.
Kurz drauf verließen jene Reisende die Küste des Pazifik. Der Sarg war zu einem winzigen schwarzen Punkt am Horizont geworden, aber Claude wusste tief in seinem Herzen, dass Samuel ihn an diesem Tag anlächelte.






Wie gesagt, Meinungen wäre dufte. : A

deserted-monkey
31.05.2007, 13:45
Sehr fraglich, warum hier noch keiner geantwortet hat... Die Länge deiner Geschichte scheint abzuschrecken, obwohl, ich habe für die gesammte Story ungefähr eine Dreiviertelstunde gebraucht, was nicht sooo lange ist.

Nun, ich bin sicherlich nicht der beste Geschichtenbewerter, aber ich schreibe jetzt einfach mal auf, was mir gefallen hat und was nicht:

1. Die Story an sich find ich echt klasse :A War genau mein Ding, allerdings für meinen Geschmack ein bisschen zu wenig mit spritzenden Gehirnteilen und verrotteten Gedärmen gewürzt :rolleyes:

2. Schreibstil find ich gut, manchmal hast du aus meiner Sicht gesehen ein wenig komische Wörter gebraucht. "Die Geier erhoben sich zum Fliegen" (oder so ähnlich) ist so ein Beispiel, klingt in meinen Ohren irgendwie strange.


3. Das Samuel am Schluss stirbt, hätte ich nicht erwartet. War überraschend.

4. Zwischendurch flaute die Story etwas ab, aber der Spannungsbogen zieht sich eigentlich durch den ganzen Text. Hat Spass gemacht, ihn zu lesen.

5. Hatte etwas zu viel mit Gott zu tun, wie ich finde, was die Geschichte aber eigentlich nicht schlechter macht.

Mehr kann ich dazu nicht sagen...

Ausser: Ride on, Cowboy! :D