Scarecrow
25.02.2007, 17:02
Ich brauche Deine Hilfe ...
Manchmal genügen vier Wörter, die einem mehr sagen als Stunden leeren Geredes, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein schlichter Brief, der eigentlich ein Aufschrei ist. Lediglich eine Zeile. Diese zittrige Handschrift. Einige würden mich für verrückt halten, aber ich weiß, dass es um Joseph ernst ist. Ich kann nicht erklären, warum ich die Reise angetreten habe. Ich wollte es immer hinter mir lassen. Meine Narben hätten alleine heilen sollen. Weit weg von den Menschen, die bei ihrer Entstehung dabei waren.
Aber das Leben hält einem nicht immer den Ausweg frei, den man sich wünscht.
Die Nacht ist nicht finster. Nicht kalt.
Über den Silhouetten der Bäumen leuchten die Sterne. Die Straße schimmert im schwachen Licht der Gestirne. Der Wald ist unnatürlich still. Meine Schritte sind das einzige Geräusch, die diese fast unheimliche Stille durchbrechen. Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon dem Asphalt folge. Der Armeerucksack auf meinem Rücken ist längst zu einem unbedeutenden Gewicht geworden. Fast alles ist bedeutungslos geworden in letzter Zeit. So vieles hat sich verändert. Einiges wird sich noch ändern. Das ist der Lauf der Dinge. Man muss sich anpassen, sich auf die nächste Situation einstellen. Aber wenn man das Vertrauen verloren hat, wofür dann noch kämpfen?
Noch oft erinnere ich mich an Gespräche mit Joseph. Aus alten Zeiten, in einer anderen Ära. Es hat immer gut getan zu wissen, dass es jemanden gibt, der einen versteht.
Er hat mir oft geholfen. Immer dann, wenn ich am Boden war … kurz vor dem Sprung. Erst vor kurzem habe ich gelesen, dass die Selbstmordrate bei im Untergrund operierenden Sondereinheiten stark angestiegen ist. Gerade das hat mir bei Josephs Brief am meisten Angst gemacht.
Sie nennen es Golfkriegssyndrom, Gefechtsneurose. Und heute?
Niemand kann nachvollziehen, wie es ist, hinter jedem Menschen einen Feind sehen zu müssen. Nur wer selbst in der Situation war, wer sich ihrer erwehren konnte.
Oder es zumindest glaubt, geschafft zu haben.
Trotz allem wende ich mich öfters um. Die Nacht ist still, die Straße leer.
Feindesland, flüstert das Gefühl. Idiot, der Verstand.
Im Dunst der frühen Morgenstunde erreiche ich das Dorf. Ich sehe die Häuser und ihre Zäune. Wie Schützengräben ziehen sie sich durch die Landschaft. Der Wald grenzt die Äcker ein.
Hier also hat er sich zurückgezogen, nach all den Jahren des Töten. Nach der Zeit des Suchens in weiter Fremde, all dem Blut und Rauch aus der Vergangenheit hat er endlich einen Platz gefunden. Die Frage ist nur, ob er zum Leben hierher gekommen ist.
Oder zum Sterben.
Wenige Schritte später sehe ich das Ortsschild. Kaum noch zu entziffernde Buchstaben auf morschem Holz: ‚Willkommen in Fane Hill’. Ich gehe weiter, die Sonne erhebt sich langsam über den Wipfeln der Bäume und noch bevor ich den Ort vollends erreiche, höre ich rechts neben mir ein Geräusch und fahre kurz zusammen.
Mitten im Feld steht ein Mann. Der Kleidung nach zu urteilen ist es ein Bauer. Er mustert mich mit einem Blick, der keine Freundlichkeit vorauswirft. Zuerst überrascht, scheint er mir nun fast feindlich. Sein Oberkörper schiebt sich vor, während er sein rechtes Bein langsam nach hinten schiebt. Unscheinbar begibt er sich in eine Art Schutzstellung. All diese kleinen Details nehme ich mit unglaublicher Schärfe wahr und frage mich, was den Mann wohl zu dieser Haltung nötigt.
„Guten Morgen“, sage ich freundlich und halte meine Handflächen nach außen, um dem Bauern zu zeigen, dass ich nichts Böses will.
„Ob er wirklich gut wird, zeigt sich noch“, antwortet er unfreundlich. „Wer bist du und was willst du hier in Fane Hill?“
Er versucht seine Aggressivität oder seine Wut über mich nicht einmal zu verbergen, oder zu überspielen. Dieser Mann ist auf Konfrontation aus. Kurz keimen wahnsinnige Gedanken in mir auf, die ich unterdrücke, fast schon herunterwürge. Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Entschuldigen Sie, Mister …“, beginne ich und will ihn vollenden lassen, aber er setzt nicht ein.
„Mein Name ist Daniel Seerer und ich suche meinen Freund Joseph Frost. Kennen Sie ihn vielleicht?“
Es entsteht eine äußerst unangenehme Pause.
Wenn man zum Kämpfen ausgebildet wird, ist einem schnell etwas unangenehm. Ich bin eine Konversation einfach nicht gewohnt.
„Soso, ein Freund von Mister Frost“, raunt der Bauer in seinen Bart und seine Augen verengen sich noch mehr. „Kommen noch mehr von euch?“
„Wie meinen Sie?“
„Soldaten. Kommen noch mehr von euch Soldaten?“
Im ersten Moment will ich ihm widersprechen. Es ist zu offensichtlich, darum lasse ich davon ab.
„Nein.“
„Ihr macht nur Probleme.“
„Sagt wer?“
Der Bauer bellt kurz, was vielleicht auch ein kurzer Lacher gewesen sein könnte. „Ich sage das, Soldat. Aber wir werden euch das schon austreiben.“
Er wartet kurz und grinst; sein Gesicht wird zur Fratze, dann: „Du suchst deinen Freund? Geh den Weg entlang und nimm die erste Abzweigung nach rechts. Folge der Straße bis zu ihrem Ende. Dann bist du bei deinem Freund.“
Noch bevor ich mich bedanken kann dreht er sich um und verschwindet im Feld.
Ich bleibe ratlos zurück.
Die Kunst, Konversationen zu führen, wird zur unwichtigen Nebensache, wenn der Schatten dein einziger Freund und die Stille Mittel zum Zweck ist. Zum Reden erzogen, dann zum Schweigen gebracht – und schließlich zum Töten ausgebildet. Der Tod ist dein ständiger Begleiter, manchmal ist er derart plastisch, so präsent, als würde er neben dir stehen, seine Hand auf deine Schulter legen und dich angrinsen.
Bosnien … Afghanistan … Irak.
Dutzende weitere verdeckte Einsätze in Ländern, die man als Verbündete kennt.
Joseph kannte das Risiko. Ich kannte das Risiko.
Überleben ist ungleich überleben. Es gibt Narben, die nicht körperlicher Natur sind, die sich einätzen, in deinen Verstand, in die Seele. Narben, die nie wieder verschwinden werden. Die dich begleiten.
Ein Leben lang.
Die Sonne ist immer noch nicht mehr als ein blutroter, kleiner flirrender Kreis, der sich von Osten her in den Himmel schiebt. Ich stehe vor einem großen schwarzen Tor, am Ende der Straße. Aus Eisen gegossene Buchstaben erheben sich aus den Verstrebungen der Gitter, formen sich zu einem Satz.
Hier endet unser Weg.
Das Risiko zu kennen bedeutet nie, auch darauf vorbereitet zu sein. Die Erkenntnis trifft mich mit der Wucht eines Geschosses, das mein Herz zerreißt und mein Inneres zerstört zurücklässt.
Hier endet unser Weg.
Joseph hat mich einmal gefragt, wann das alles aufhören würde, die Stimmen und die Bilder. Ich konnte ihm die Antwort nicht geben. Vielleicht wollte ich es auch nur nicht.
Die Angeln protestieren quietschend, als ich den Flügel aufdrücke und den Friedhof betrete.
Nie gleicht eine Stille der anderen. Während bei einem Einsatz die Stille lediglich die Ruhe vor dem Sturm ist, so ist sie hier friedvoll, beruhigend, doch auch lähmend. Sie hat etwas Endgültiges an sich. Eine Endgültigkeit, die mir schwer auf die Brust drückt und mir das Atmen zur Qual macht. Es ist wie eine zentnerschwere Last auf mir, das Gewicht von toten Kameraden. Mir ist, als ob mich die Trauer zerquetschen will. Schritt für Schritt schleiche ich vorwärts. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Ich habe Angst in einer Art, wie sich sie noch nie verspürt habe. Sie macht mich wütend. Die Gewissheit traurig. Beides zusammen ist eine gefährliche Mischung. Ein Molotow-Cocktail, der auf die Flamme wartet, um zu explodieren.
Ich muss viele Reihen von Grabsteinen hinter mir lassen, um ihn zu finden.
Nur ein schlichtes Holzkreuz steckt im aufgelockerten Erdreich und markiert die Stelle, an der mein bester Freund zur Ruhe gebettet wurde. Wo er nun liegt, wo Bilder und Stimmen keine Bedeutung mehr haben. Für immer.
Meine Beine tragen mich nicht mehr. Ich bin plötzlich nichts mehr und die Sinnlosigkeit presst mich zu Boden. Ich fühle das vom Tau noch feuchte Gras, die Erde. Die Tränen entweichen meiner Beherrschung. Ich bin zu spät. Ich … Gedanken laufen Amok, brechen sich selbst. Sie verwirren mich.
Was das wohl für ein Anblick sein muss. Ein heulender Mann, am Boden, Armeerucksack auf dem Rücken … und wenn man denkt, was er schon alles getan hat …
Ich denke in verschiedene Richtungen, entzweie mich. Hier hat Reaktion, Gewalt und Drill keinen Sinn mehr. Sie haben ihre Bedeutung verloren. Habe ich meine dadurch auch verloren?
Ich beruhige mich allmählich, zwinge mich, die kleine Inschrift zu lesen.
Joseph Frost, 1976 – 2006
Keine Verse, keine Flagge. Keine Dudelsäcke, kein Salut. Nur ein Holzkreuz, für jemanden, der starb, obwohl er den Granaten entkam. Die härtesten und brutalsten Einsätze überlebt hat. Nur, um hier zu sterben. Fernab von Ruhm und Medaillen.
Bilder überfüllen meine Gedanken. Von ihm und mir. Mir und ihm. Uns.
Ich höre Schritte auf dem Kies. Sie verstummen knapp hinter mir. Doch ich wage es nicht, meine tränenerfüllten Augen dem Neuankömmling zu zeigen. Irgendwo pfeift ein Vogel ein einsames Lied.
„Möge Gott seiner armen Seele gnädig sein“, flüstert eine tiefe Stimme.
Es ist wie eine Art Krampf, der alles in mir zusammenzieht und nicht mehr loslässt und immer, wenn ich glaube, nicht mehr zu können, lockert sich der Griff gerade so weit, dass ich wieder Luft kriege.
„Komm mit, lass uns in die Kirche gehen und für deinen Freund beten.“
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich wende mich langsam um. Der Geistliche ist in eine schwarze Sutane gekleidet, ein Rosenkranz hängt um seinen Hals. Beinahe ein kitschiger Anblick.
Ich nicke und wische mir Tränen aus den Augen, derer ich mich ohne Grund schäme. Dann nimmt er mich in den Arm, führt mich wie ein kleines Kind zur Kirche. Und ich zittere und bebe und kann nicht damit aufhören.
Ich habe für ihn gebetet. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Mich dafür entschuldigt, dass ich ihm nicht helfen konnte. Nicht rechtzeitig da war.
Auch für seine gequälte Seele, die jetzt hoffentlich den Frieden hat, die sie sich zu Lebzeiten immer gewünscht hat. Die Zivilisten lehnen die Hunde des Krieges ab, auch wenn diese für sie gekämpft haben. Weit weg und fern ab der Heimat. Undankbarkeit ist der Welten Lohn und Unverständnis die Reaktion auf Soldaten, die töten.
Ob sie müssen, hat mich der Geistliche in der Kirche gefragt. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Um einen Krieg zu gewinnen, muss man selbst zum Krieg werden.
Aber auch wir haben Herz und Seele. Wir sind nicht nur Maschinen, auch wenn es oft so aussieht, für Menschen, die nichts vom Kriegshandwerk verstehen. Für einfache Bauern.
All das habe ich ihm gesagt und er hat mir einen Platz für die Nacht angeboten. Ich habe abgelehnt, weil ich weiß, dass hier kein Platz für mich ist.
Joseph hat eine Zuflucht gesucht und gehofft, sie hier gefunden zu haben. Einen Ort, an dem er vergessen kann. Aber die Gesellschaft, die nicht versteht hat ihn angefeindet, ihn zerstört.
Er ist tot und mit ihm ist auch etwas in mir gestorben.
Die Hoffnung, dass ich Ruhe finden werde. Dass jene verstehen, die nicht das gesehen haben, was ich gesehen habe.
Ich werde das Wort Vaterland im Herzen behalten und den Kampfschrei auf den Lippen. Es ist besser so, denn Frieden ist nichts für mich. Ich würde verenden, wie Joseph.
Ich bin ein getriebener Wolf inmitten von Moralisten und Bauern.
Da gehe ich wieder dieselbe sternenerfüllte Straße entlang. Weg von der letzten Erinnerung an die Hoffnung auf ein friedliches Leben. Mein Blick ist geradeaus gerichtet. Die Hände öffnen und schließen sich immer wieder. Unruhe treibt mich vorwärts. Ich will hinter mir lassen, was mir ohnehin nie hätte helfen können. Es ist eine Flucht nach vorn, aber ich gehe zurück.
Zurück zum Rudel.
Manchmal genügen vier Wörter, die einem mehr sagen als Stunden leeren Geredes, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein schlichter Brief, der eigentlich ein Aufschrei ist. Lediglich eine Zeile. Diese zittrige Handschrift. Einige würden mich für verrückt halten, aber ich weiß, dass es um Joseph ernst ist. Ich kann nicht erklären, warum ich die Reise angetreten habe. Ich wollte es immer hinter mir lassen. Meine Narben hätten alleine heilen sollen. Weit weg von den Menschen, die bei ihrer Entstehung dabei waren.
Aber das Leben hält einem nicht immer den Ausweg frei, den man sich wünscht.
Die Nacht ist nicht finster. Nicht kalt.
Über den Silhouetten der Bäumen leuchten die Sterne. Die Straße schimmert im schwachen Licht der Gestirne. Der Wald ist unnatürlich still. Meine Schritte sind das einzige Geräusch, die diese fast unheimliche Stille durchbrechen. Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon dem Asphalt folge. Der Armeerucksack auf meinem Rücken ist längst zu einem unbedeutenden Gewicht geworden. Fast alles ist bedeutungslos geworden in letzter Zeit. So vieles hat sich verändert. Einiges wird sich noch ändern. Das ist der Lauf der Dinge. Man muss sich anpassen, sich auf die nächste Situation einstellen. Aber wenn man das Vertrauen verloren hat, wofür dann noch kämpfen?
Noch oft erinnere ich mich an Gespräche mit Joseph. Aus alten Zeiten, in einer anderen Ära. Es hat immer gut getan zu wissen, dass es jemanden gibt, der einen versteht.
Er hat mir oft geholfen. Immer dann, wenn ich am Boden war … kurz vor dem Sprung. Erst vor kurzem habe ich gelesen, dass die Selbstmordrate bei im Untergrund operierenden Sondereinheiten stark angestiegen ist. Gerade das hat mir bei Josephs Brief am meisten Angst gemacht.
Sie nennen es Golfkriegssyndrom, Gefechtsneurose. Und heute?
Niemand kann nachvollziehen, wie es ist, hinter jedem Menschen einen Feind sehen zu müssen. Nur wer selbst in der Situation war, wer sich ihrer erwehren konnte.
Oder es zumindest glaubt, geschafft zu haben.
Trotz allem wende ich mich öfters um. Die Nacht ist still, die Straße leer.
Feindesland, flüstert das Gefühl. Idiot, der Verstand.
Im Dunst der frühen Morgenstunde erreiche ich das Dorf. Ich sehe die Häuser und ihre Zäune. Wie Schützengräben ziehen sie sich durch die Landschaft. Der Wald grenzt die Äcker ein.
Hier also hat er sich zurückgezogen, nach all den Jahren des Töten. Nach der Zeit des Suchens in weiter Fremde, all dem Blut und Rauch aus der Vergangenheit hat er endlich einen Platz gefunden. Die Frage ist nur, ob er zum Leben hierher gekommen ist.
Oder zum Sterben.
Wenige Schritte später sehe ich das Ortsschild. Kaum noch zu entziffernde Buchstaben auf morschem Holz: ‚Willkommen in Fane Hill’. Ich gehe weiter, die Sonne erhebt sich langsam über den Wipfeln der Bäume und noch bevor ich den Ort vollends erreiche, höre ich rechts neben mir ein Geräusch und fahre kurz zusammen.
Mitten im Feld steht ein Mann. Der Kleidung nach zu urteilen ist es ein Bauer. Er mustert mich mit einem Blick, der keine Freundlichkeit vorauswirft. Zuerst überrascht, scheint er mir nun fast feindlich. Sein Oberkörper schiebt sich vor, während er sein rechtes Bein langsam nach hinten schiebt. Unscheinbar begibt er sich in eine Art Schutzstellung. All diese kleinen Details nehme ich mit unglaublicher Schärfe wahr und frage mich, was den Mann wohl zu dieser Haltung nötigt.
„Guten Morgen“, sage ich freundlich und halte meine Handflächen nach außen, um dem Bauern zu zeigen, dass ich nichts Böses will.
„Ob er wirklich gut wird, zeigt sich noch“, antwortet er unfreundlich. „Wer bist du und was willst du hier in Fane Hill?“
Er versucht seine Aggressivität oder seine Wut über mich nicht einmal zu verbergen, oder zu überspielen. Dieser Mann ist auf Konfrontation aus. Kurz keimen wahnsinnige Gedanken in mir auf, die ich unterdrücke, fast schon herunterwürge. Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.
„Entschuldigen Sie, Mister …“, beginne ich und will ihn vollenden lassen, aber er setzt nicht ein.
„Mein Name ist Daniel Seerer und ich suche meinen Freund Joseph Frost. Kennen Sie ihn vielleicht?“
Es entsteht eine äußerst unangenehme Pause.
Wenn man zum Kämpfen ausgebildet wird, ist einem schnell etwas unangenehm. Ich bin eine Konversation einfach nicht gewohnt.
„Soso, ein Freund von Mister Frost“, raunt der Bauer in seinen Bart und seine Augen verengen sich noch mehr. „Kommen noch mehr von euch?“
„Wie meinen Sie?“
„Soldaten. Kommen noch mehr von euch Soldaten?“
Im ersten Moment will ich ihm widersprechen. Es ist zu offensichtlich, darum lasse ich davon ab.
„Nein.“
„Ihr macht nur Probleme.“
„Sagt wer?“
Der Bauer bellt kurz, was vielleicht auch ein kurzer Lacher gewesen sein könnte. „Ich sage das, Soldat. Aber wir werden euch das schon austreiben.“
Er wartet kurz und grinst; sein Gesicht wird zur Fratze, dann: „Du suchst deinen Freund? Geh den Weg entlang und nimm die erste Abzweigung nach rechts. Folge der Straße bis zu ihrem Ende. Dann bist du bei deinem Freund.“
Noch bevor ich mich bedanken kann dreht er sich um und verschwindet im Feld.
Ich bleibe ratlos zurück.
Die Kunst, Konversationen zu führen, wird zur unwichtigen Nebensache, wenn der Schatten dein einziger Freund und die Stille Mittel zum Zweck ist. Zum Reden erzogen, dann zum Schweigen gebracht – und schließlich zum Töten ausgebildet. Der Tod ist dein ständiger Begleiter, manchmal ist er derart plastisch, so präsent, als würde er neben dir stehen, seine Hand auf deine Schulter legen und dich angrinsen.
Bosnien … Afghanistan … Irak.
Dutzende weitere verdeckte Einsätze in Ländern, die man als Verbündete kennt.
Joseph kannte das Risiko. Ich kannte das Risiko.
Überleben ist ungleich überleben. Es gibt Narben, die nicht körperlicher Natur sind, die sich einätzen, in deinen Verstand, in die Seele. Narben, die nie wieder verschwinden werden. Die dich begleiten.
Ein Leben lang.
Die Sonne ist immer noch nicht mehr als ein blutroter, kleiner flirrender Kreis, der sich von Osten her in den Himmel schiebt. Ich stehe vor einem großen schwarzen Tor, am Ende der Straße. Aus Eisen gegossene Buchstaben erheben sich aus den Verstrebungen der Gitter, formen sich zu einem Satz.
Hier endet unser Weg.
Das Risiko zu kennen bedeutet nie, auch darauf vorbereitet zu sein. Die Erkenntnis trifft mich mit der Wucht eines Geschosses, das mein Herz zerreißt und mein Inneres zerstört zurücklässt.
Hier endet unser Weg.
Joseph hat mich einmal gefragt, wann das alles aufhören würde, die Stimmen und die Bilder. Ich konnte ihm die Antwort nicht geben. Vielleicht wollte ich es auch nur nicht.
Die Angeln protestieren quietschend, als ich den Flügel aufdrücke und den Friedhof betrete.
Nie gleicht eine Stille der anderen. Während bei einem Einsatz die Stille lediglich die Ruhe vor dem Sturm ist, so ist sie hier friedvoll, beruhigend, doch auch lähmend. Sie hat etwas Endgültiges an sich. Eine Endgültigkeit, die mir schwer auf die Brust drückt und mir das Atmen zur Qual macht. Es ist wie eine zentnerschwere Last auf mir, das Gewicht von toten Kameraden. Mir ist, als ob mich die Trauer zerquetschen will. Schritt für Schritt schleiche ich vorwärts. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Ich habe Angst in einer Art, wie sich sie noch nie verspürt habe. Sie macht mich wütend. Die Gewissheit traurig. Beides zusammen ist eine gefährliche Mischung. Ein Molotow-Cocktail, der auf die Flamme wartet, um zu explodieren.
Ich muss viele Reihen von Grabsteinen hinter mir lassen, um ihn zu finden.
Nur ein schlichtes Holzkreuz steckt im aufgelockerten Erdreich und markiert die Stelle, an der mein bester Freund zur Ruhe gebettet wurde. Wo er nun liegt, wo Bilder und Stimmen keine Bedeutung mehr haben. Für immer.
Meine Beine tragen mich nicht mehr. Ich bin plötzlich nichts mehr und die Sinnlosigkeit presst mich zu Boden. Ich fühle das vom Tau noch feuchte Gras, die Erde. Die Tränen entweichen meiner Beherrschung. Ich bin zu spät. Ich … Gedanken laufen Amok, brechen sich selbst. Sie verwirren mich.
Was das wohl für ein Anblick sein muss. Ein heulender Mann, am Boden, Armeerucksack auf dem Rücken … und wenn man denkt, was er schon alles getan hat …
Ich denke in verschiedene Richtungen, entzweie mich. Hier hat Reaktion, Gewalt und Drill keinen Sinn mehr. Sie haben ihre Bedeutung verloren. Habe ich meine dadurch auch verloren?
Ich beruhige mich allmählich, zwinge mich, die kleine Inschrift zu lesen.
Joseph Frost, 1976 – 2006
Keine Verse, keine Flagge. Keine Dudelsäcke, kein Salut. Nur ein Holzkreuz, für jemanden, der starb, obwohl er den Granaten entkam. Die härtesten und brutalsten Einsätze überlebt hat. Nur, um hier zu sterben. Fernab von Ruhm und Medaillen.
Bilder überfüllen meine Gedanken. Von ihm und mir. Mir und ihm. Uns.
Ich höre Schritte auf dem Kies. Sie verstummen knapp hinter mir. Doch ich wage es nicht, meine tränenerfüllten Augen dem Neuankömmling zu zeigen. Irgendwo pfeift ein Vogel ein einsames Lied.
„Möge Gott seiner armen Seele gnädig sein“, flüstert eine tiefe Stimme.
Es ist wie eine Art Krampf, der alles in mir zusammenzieht und nicht mehr loslässt und immer, wenn ich glaube, nicht mehr zu können, lockert sich der Griff gerade so weit, dass ich wieder Luft kriege.
„Komm mit, lass uns in die Kirche gehen und für deinen Freund beten.“
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich wende mich langsam um. Der Geistliche ist in eine schwarze Sutane gekleidet, ein Rosenkranz hängt um seinen Hals. Beinahe ein kitschiger Anblick.
Ich nicke und wische mir Tränen aus den Augen, derer ich mich ohne Grund schäme. Dann nimmt er mich in den Arm, führt mich wie ein kleines Kind zur Kirche. Und ich zittere und bebe und kann nicht damit aufhören.
Ich habe für ihn gebetet. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Mich dafür entschuldigt, dass ich ihm nicht helfen konnte. Nicht rechtzeitig da war.
Auch für seine gequälte Seele, die jetzt hoffentlich den Frieden hat, die sie sich zu Lebzeiten immer gewünscht hat. Die Zivilisten lehnen die Hunde des Krieges ab, auch wenn diese für sie gekämpft haben. Weit weg und fern ab der Heimat. Undankbarkeit ist der Welten Lohn und Unverständnis die Reaktion auf Soldaten, die töten.
Ob sie müssen, hat mich der Geistliche in der Kirche gefragt. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Um einen Krieg zu gewinnen, muss man selbst zum Krieg werden.
Aber auch wir haben Herz und Seele. Wir sind nicht nur Maschinen, auch wenn es oft so aussieht, für Menschen, die nichts vom Kriegshandwerk verstehen. Für einfache Bauern.
All das habe ich ihm gesagt und er hat mir einen Platz für die Nacht angeboten. Ich habe abgelehnt, weil ich weiß, dass hier kein Platz für mich ist.
Joseph hat eine Zuflucht gesucht und gehofft, sie hier gefunden zu haben. Einen Ort, an dem er vergessen kann. Aber die Gesellschaft, die nicht versteht hat ihn angefeindet, ihn zerstört.
Er ist tot und mit ihm ist auch etwas in mir gestorben.
Die Hoffnung, dass ich Ruhe finden werde. Dass jene verstehen, die nicht das gesehen haben, was ich gesehen habe.
Ich werde das Wort Vaterland im Herzen behalten und den Kampfschrei auf den Lippen. Es ist besser so, denn Frieden ist nichts für mich. Ich würde verenden, wie Joseph.
Ich bin ein getriebener Wolf inmitten von Moralisten und Bauern.
Da gehe ich wieder dieselbe sternenerfüllte Straße entlang. Weg von der letzten Erinnerung an die Hoffnung auf ein friedliches Leben. Mein Blick ist geradeaus gerichtet. Die Hände öffnen und schließen sich immer wieder. Unruhe treibt mich vorwärts. Ich will hinter mir lassen, was mir ohnehin nie hätte helfen können. Es ist eine Flucht nach vorn, aber ich gehe zurück.
Zurück zum Rudel.