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NeoInferno
27.09.2006, 16:44
Hier mal eine ganz normale Kurzgeschichte von mir, garantiert leicht verständlich ;)
Quasi als Kontrapunkt zu Kritiken (die ich mir wirklich zu Herzen nehme), meine Geschichten wären *zu* Verschnörkelt oder...Neoesk (geiles Wort btw).
Aber trotz allem muss ich sagen, dass mir imho solche Geschichten nicht ganz liegen...naja, macht euch ein eigenes Bild.
Übrigens war die Geschichte ursprünglich länger gedacht, aber habs zugunsten der Lesbarkeit so kurz gehalten wie die Geschichte es zuließ.

Eden

Damals erzählte mir mein Großvater von Pferden. Große Geschöpfe waren das, meinte er und deutet auf ein Bild eines Tieres in einem seiner vergilbten Magazine. Ich fand, dass sie wie seltsame Hunde aussahen, und konnte mir eigentlich kein Tier vorstellen, dass größer als ein Mensch sein sollte. Und ich frage ihn, warum es sie nicht mehr gibt.
„Es waren freie und stolze Tiere“, sagte er.
„Sie mussten einfach außerhalb Leben, in der Natur“, ergänzte er und vollführte eine andächtige Handgeste, als deutete er in ein fernes, unsichtbares Land.
„Als sie das nicht mehr konnten, trafen sie ihre letzte freie Entscheidung. Sie blieben, und starben.“

Auf dem Heimweg ging ich zur Mauer eines der äußeren Bezirke. Zu meinem Tagebuch, gut versteckt hinter verfallenen Gebäuen, alten Schrottbergen und toten Bäumen. Es ist wie ein Speicher, für die Dinge, die überdauern sollen, auch wenn sie schon lange nicht mehr existieren. Vielleicht wird eines Tages alles anders, und die Menschen wollen sich erinnern, wie es war, vor Eden. Dann werden sie alles lesen können, über jene Dinge, die mir mein Großvater anvertraute. Die Dinge, die nicht in Vergessenheit geraten sollten.

Ich führte meine Hand über die raue, metallene Oberfläche der Mauer, fühlte die eingeritzten Worte. Mit geschlossenen Augen versuchte ich sie mir in Erinnerung zu rufen, die Dinge, über die er mir so viel erzählt hatte. Es war fast, als könnte ich seine Stimme wieder hören. Die Stimme eines alten Erzählers, am Ende seiner letzten Geschichte.
„Über uns war der Himmel, wie die Unendlichkeit in blau, manchmal in orange, mal heller, mal dunkler. Keine riesige Platte, nur Raum, so viel Raum, so viel Freiheit.“
Meine Hand glitt über Vertiefungen im kalten Metall, in meinen Gedanken stand Großvater neben mir und setzte seine Geschichte fort. Unsere Geschichte.
„Nachts erschienen am Himmel weißblaue Punkte. Ich kann mich leider nicht mehr erinnern, wie sie genannt wurden, aber sie schienen so weit weg zu sein, und so zahlreich, dass man sich wünschte, dort zu sein. Irgendwo da oben, weil wir alle fühlten, dass wir sie nie wieder sehen würden.“
Als er schlief, blätterte ich seine alten Zeitschriften durch, ganz vorsichtig, aus Angst, sie könnten zu Staub zerfallen. Auf einem Bild war alles schwarz, nur viele kleine, blaue Punkte leuchteten auf. Ich sah hoch, zu den vielen gedimmten Lichtern, die wie schlafende Gespenster wirkten und einen unwirklichen, kalten Schein auf die riesige obere Platte legten. Konnte es dort oben tatsächlich mal so ausgesehen haben?
Bei der Mauer angekommen, nahm ich mein Taschenmesser, und ergänze meine Enzyklopädie der vergessen Dinge um ein Wort. Ich schrieb es ganz sorgfältig, Kerbe für Kerbe, um es für die Ewigkeit zu konservieren.
Sterne…

*

Drei, vier, fünf. Das Geräusch brauchte bestimmt noch mal ein, zwei Sekunden, um von dort unten zu uns hoch zu gelangen. Sehr oft saßen wir hier, auf einer Brücke zwischen den Bezirken und warfen alten Schrauben und andere Dinge in die Straßentunnel unter uns.
Die Fahrzeuge sahen von hier wie kleine, emsige Insekten aus, die von den dunklen, unterirdischen Tunneln eingesaugt und ausgespuckt wurden. Obwohl uns in der Schule gesagt wurde, dass sie verschiedene Städte verbinden, konnten wir das nie richtig glauben. Keiner von uns war jemals außerhalb von Eden. Und keiner konnte sich auch nur vorstellen, wie es woanders sein könnte.

Meine Beine baumelten so hoch über den Straßen. Wenn ich fallen würde, bräuchte ich dann auch fünf oder sechs Sekunden bis unten?
„An was denkst du gerade?“
Ich vergaß ganz, dass wir zu zweit waren. Sie hieß…Laura…oder Lara. Es ist zu lange her, und ich schäme mich, ihren Namen vergessen zu haben. Ich werde sie Laura nennen, denn trotz allem nimmt sie in meiner Geschichte einen wichtigen Platz ein.
„Ans Fallen…“, antwortete ich.
„Red’ nicht so einen Quatsch. Du hast mir immer erzählt, dass du etwas Großes machen willst. Und Fallen, das kann ja wohl jeder“, sagte sie mit ihrem verschmitzten Lächeln, und ich war mir nicht sicher, ob sie sich wirklich Sorgen um mich machte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt um irgendetwas kümmerte.
Hätte ihr jemand angeboten, ein Wettspringen von hier oben zu veranstalten, hätte sie zugestimmt und noch so etwas gesagt wie: „Verlierst ja eh.“
Laura wirkte, als wäre sie nicht von hier. So oft kam sie in Konflikt mit den Regeln von Eden, doch ließ sie jede Strafe über sich ergehen. Im Innern hatte sie etwas für mich Unvorstellbares, das sie stark machte. Ich habe sie nie danach gefragt. Auch heute nicht.
„Hast du dich schon mal gefragt, wie es woanders ist. Irgendwo anders als hier?“, fragte ich sie.
„So ziemlich jeden Tag. Jeden verdammten Tag in diesem scheiß Gefängnis.“
Trotz ihrer unheimlichen Stärke, litt sie innerlich wahrscheinlich mehr als andere unter ihrem bloßen Dasein in Eden. Ich erinnerte mich kurz an die Pferde, jene mystischen und stolzen Wesen, die lieber starben, als sich die Freiheit nehmen zu lassen. Während ich das dachte, schaute ich zu ihr rüber, und sah, wie sie hinunter schaute, zu den gierigen Tunneln, die aus der Erde krochen, und in ihrem Gesicht war genau dieser Ausdruck. So eine tiefe und verborgene Trauer, dass ich mich jedes Mal fragte, wie sie äußerlich so stark sein konnte, was ihr diese Kraft gab.
Hinter uns fuhren ein paar Motorräder vorbei und wirbelten ihre Haare vor ihr Gesicht. Es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah, als sie von einem kleinen Luftstoß wieder zurückgeweht wurden.
Was zu sagen war wusste ich nicht, aber irgendetwas musste gesagt werden, das fühlte ich.
„Laura…“, fing ich an, so unsicher wie ein kleiner Schuljunge.
Sie schaute mich an und ich wusste, sie würde normalerweise nie zulassen, dass jemand sie so sieht. Ihre Tränen plumpsten von der Brücke. Eins, zwei…ich fragte mich, ob sie genau so schnell fliegen wie Schrauben.
„Kein beschissenes Mitleid, ok? Das ist alles was ich von dir verlange, sonst nichts.“
Ich drehte mich wieder in Richtung der wirren, nebeligen Labyrinthe unter uns, in denen andauernd Lichter erstarben und neu geboren wurden, und war froh, dass sie nichts weiter von mir erwartete.
Und doch fand Lauras Kopf irgendwie den Weg auf meine Schulter, und ich spürte, wie warm und nass ihr Gesicht war.
Eine weitere Schraube machte sich auf ihren Weg nach unten. Doch ich zählte keine Sekunden, sondern Lauras Atemzüge, eins, zwei, drei, so langsam und behutsam geatmet, als müsste sie sie sich einteilen.

*

Obwohl wir in der Schule die Geografie Edens behandelten, schien es vollkommen sinnlos zu sein. Diese Stadt war so riesig, dass man für das Durchschreiten Tage bräuchte. Selbst diesen hohen Turm in der Mitte des Kreises aus metallenen Barrieren haben die wenigsten von uns aus der Nähe gesehen. Der Turm, wenn man hoch genug klettert, auf ein Haus oder eine Brücke, kann man ihn sehen, umhüllt von einem grau grünen Nebel thront er über allem und jedem, er berührt sogar die obere Platte, so riesig und erhaben ist er. Manchmal frage ich mich, ob er auch den Himmel und die Sterne berührt hätte, wenn man sie sehen könnte.

Deswegen fiel es mir schwer, an diese unsichtbaren, phantastischen Sachen zu glauben, von denen mein Großvater immer erzählte.
„Größer als Eden“, hat er immer gesagt.
„Früher war alles viel größer als Eden, es gab mehr von allem. So viel Schönes und Seltsames. Wie viel mussten wir aufgeben, durch unsere Kriege, durch unsere Dummheit.“
Unsere Lehrer erzählten uns, es wären die letzten großen Kriege zwischen Menschen gewesen, die die Erde verändert hätten, sie unbewohnbar machten.
Für jemanden der hier geboren wurde ist es nicht leicht, das alles zu glaube, nie Fragen zu stellen, weil sie eh nie beantwortet werden. Wie sollen wir glauben, es gibt außerhalb Edens eine riesige Welt, die aber unbewohnbar ist? Wie sollen wir glauben, es gibt etwas außer diesem Land? Oder andere Städte, zu denen täglich tausende Menschen fahren, von denen aber nie jemand etwas erzählt?

Als mein Großvater starb, war ich dabei, stand neben seinem Bett, hielt seine Hand und habe fürchterlich geweint. Nicht, weil ein guter Mensch stirbt, sondern weil mit ihm so viel in Vergessenheit gerät, so viele Schätze auf immer verloren gehen. Schätze, von denen ich gerade mal einen Bruchteil retten konnte.
Seine letzten Worte waren an mich gerichtet, und waren nicht mehr als ein leises Hauchen. Ich beugte mich über ihn, um ihn besser zu verstehen.
„Du musst…
den Himmel sehen…
den Wind spüren…
und… sie… finden…“
„Was denn finden?“, fragte ich.
„Die Wahrheit“, hauchte er und starb.

Regen, Fische, Sonne, Vögel…
Ich schrieb Wahrheit an meine Wand, obwohl das nicht so recht zu den anderen Dingen passen wollte. Trotzdem: Dieses Wort mit der richtigen Bedeutung zu füllen, das war ich meinem Großvater schuldig.

*

Und dann verschwand Laura. Ich zählte Tage. Bald zählte ich Wochen. Sie war einfach weg. Ich malte mir verschiedene Szenarien aus.
Schlechte, wie: Sie versuchte Eden zu verlassen und wurde auf den Schnellstraßen unterhalb der Stadt überfahren.
Gute, wie: Sie braucht nur etwas Abstand, etwas bescheidene Freiheit, und lebt bei einem fernen Onkel oder einer Tante, und kommt schon wieder, wenn sie sich besser fühlt.
Nichts von dem geschah. Ich warf noch immer alten Schrauben und Steine von unserer Brücke, zählte die Sekunden bis zum Aufschlag. Ich schaute ab und zu nach links und rechts, in der Hoffnung, dass sie sich einfach zu mir setzt, als wäre nichts gewesen.
Verdammt viele Steinwürfe später wurde es dunkel. Und diesmal irgendwie dunkler als sonst.

Am nächsten Tag stand an meiner Mauer etwas, das ich nie geschrieben hatte. Unter dem Wort Wahrheit stand: Willst du sie wirklich wissen? Darunter waren eine Zeit und ein Ort angegeben. Ich beeilte mich, hastete über verlassene Plätze und Schrottberge in Richtung des großen Turmes. Auf halbem Weg stand das große, verfallene Theater, das als Treffpunkt angegeben war. Und auf einer kaputten Holzbank direkt davor saß…Laura.

Als ich mich zu ihr setzte, schien sie mich gar nicht zu bemerken. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich, wie eine Maske aus Beton.
„Laura, wo warst du die ganze Zeit? Ich hab mir irgendwie…Sorgen gemacht, dir könnte etwas…“
„Willst du’s wirklich wissen?“, unterbrach sie mich.
„Willst du wirklich wissen, was hier abgeht?“
„Was meinst du?“
Diesmal brach sie fast zusammen, obwohl sie bereits saß. Die Tränen zu zählen war sinnlos, und sie zurückzuhalten anscheinend auch. Sie war nicht mehr dieselbe Person. Irgendetwas in ihr war…kaputt gegangen. Ihre Stärke war gebrochen. Dann fing sie an zu erzählen.
„Es war alles von Anfang an eine Lüge, nichts weiter als ne scheiß verdammte Lüge. Es gibt nichts außerhalb von Eden, keine anderen Städte, gar nichts“, erzählte sie mir heiserer Stimme ohne mich auch nur einmal anzusehen.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie wusste, was sie da sagte.
„Ich bin eine der Straßen gefolgt, die aus der Stadt führen sollen. War ab und zu ganz schön knapp, mit den schnellen Autos und so, aber ich hab’s überlebt. Und weißt du, wo ich rauskam? Hier in Eden, nur ein paar Meilen weiter weg.“
Sie weinte nun etwas weniger heftig, dafür fühlte ich mich wie ausgehöhlt. Ich hatte nicht einmal die Kraft, ihr etwas zu entgegnen.
„Ich dachte, Mensch, das kann gar nicht sein, also probierte ich weitere Straßen aus. Immer und immer wieder. Und andauernd kam ich hier an, mal im Osten, mal im Westen, aber jedes Mal in dieser gottverdammten Stadt.“
„Es sind“, fuhr sie fort, „keine Straßen anderswo hin, es sind einfach nur Abkürzungen. Wir werden nie etwas anderes sehen, als diesen riesigen Müllberg aus Metall und Stein. Unsere Kinder auch nicht…niemand.“

Gemeinsames Schweigen war nie angenehmer. Der leiseste Ton hätte mein wackeliges Kartenhaus aus wirren Gedanken sofort zerstören können. Ich erinnerte mich an meine Wand, voll mit Erinnerungen und kleinen Geschichten. Das alles wurde sinnlos, es wird nie etwas anderes geben. Und wahrscheinlich werden sogar noch mehr Dinge aussterben, bis der letzte Mensch letzten Endes von einem riesigen Nichts verschlungen wird und jegliche Existenz zu Ende geht.
Doch etwas ließ mir keine Ruhe. Ich überlegte, was an der Geschichte nicht stimmte, und da viel es mir ein.
„Vielleicht führen alle Straßen wieder zurück hier her. Aber außerhalb von Eden könnte es etwas geben. Wenn sie auch damit gelogen haben, dass das Land außerhalb der Stadt unbewohnbar ist…dann haben wir Grund zu hoffen.“
Lauras glitzernde Augen fixierten meine. Ich wusste was sie dachte, denn ich dachte es auch. Der Turm, wir müssen auf diesen Turm hinauf, irgendwie. Koste es was es wolle.

*

Die Rucksäcke voller Lebensmittel und Wasser gepackt, dauerte bereits der Hinweg zwei Tage. Zum ersten Mal sahen wir ihn aus der Nähe. Sein Durchmesser war gigantisch und schwer in Zahlen zu benennen. Seine metallene Oberfläche rostete an vielen Stellen, nur viele rote Lampen schmückten den Turm und beobachteten stetig wachsam die Umgebung, wie die eines lauernden Ungetüms. Drum herum waren lediglich Kameras angebracht, und ansonsten die in Eden übliche Einöde aus zusammen gestürzten Gebäuden und alten Schrotthaufen.
Niemand, und wirklich niemand konnte so dumm sein, und sich absichtlich so einer Gefahr aussetzten. Die Regierung Edens, so erzählte man sich, war sehr streng, wenn es darum ging, Leuten klar zu machen, dass die äußere Hülle der Stadt eine absolute Sperrzone war.
Das fiel mir ein, als wir bereits eine Stunde an einer dünnen Leiter hinauf geklettert waren, und eine kurze Pause auf einer kleinen Metallplattform einlegten. Zig Kameras hatten uns gefilmt, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Sicherheitstrupps uns in die Finger bekamen.
„Denkst du wir kommen damit durch?“, fragte ich zu Laura, die gerade ein Sandwich aß.
„Nie und nimmer“, sagte sie und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Ich werde dieses eine Lächeln nie vergessen, weil es für etwas stand, das so stark sein kann, wenn es in einem Menschen aufblüht. Es stand für aufrichtige Hoffnung.

In meinen Gedanken malte ich mir während des Aufstiegs aus, was wir dort oben sehen würden. Vor meinem geistigen Auge nahm ich alle Bilder aus den Zeitschriften zusammen, und erstellte eine bunte Collage, mit einem blauen Himmel, einer riesigen, roten Sonne, dem weiten Meer, in dem Fische schwammen, und stolzen Pferden, wie sie zusammen über die Wiesen galoppierten. Wie Großvater es geschildert hatte, muss die Natur sehr stark gewesen sein. Warum nicht so stark, dass sie sich ihr Land wieder erobert hatte, während wir Menschen in einem riesigen Grab gefangen waren?

Es mag fast ein Tag vergangen sein, als wir oben auf einer weiteren Plattform ankamen. Eine kleine, rostige Tür führte ins Innere des Turmes, wo eine schmale Wendeltreppe weiter nach oben führte – bis in das Gefüge der oberen Platte und darüber hinaus. Am Ende unseres Weges befanden wir uns in einer großen Glaskugel, die tatsächlich den Blick nach außen zuließ. Außerhalb von Eden, außerhalb des Metalls, immer noch erfüllen mich diese Worte mit elektrisierender Spannung.
Wir standen Hand in Hand in der Kugel, wie zwei Plastikfiguren in einem Schneegestöber, und schauten nach…draußen…und es dauerte einige Zeit, ehe wir begreifen konnten, was wir sahen.

*

„Was machen wir jetzt“, fragte ich Laura, als wir auf der obersten Plattform standen, die um den Turm herum führte. Der Anblick der Stadt unter uns war beeindruckend, die Nebelschwaden, die Millionen von kleinen Lichtern, die ganzen Gebäude. Ein riesiger, metallener Ameisenstaat.
Nur leider hätten wir jeden Anblick, und sei er noch so beeindruckend gewesen, nicht genießen können. Nicht jetzt, wo wir die Wahrheit kannten.
„Ich gehe weg“, meinte Laura beiläufig, und ihr Gesicht war von Haaren verdeckt.
„Wohin willst du denn gehen? Sie hatten die ganze Zeit Recht, alle…es gibt nichts außer Eden. Das da unten sind die einzigen Menschen, denen du je begegnen wirst.“
„Ich gehe an den einzigen Ort, der mir noch Zuflucht bieten kann. Machs gut.“

Manchmal wird die Zeit so zähflüssig, dass sich zwischen jeder Sekunde eine kleine Ewigkeit verbirgt. Laura gab mir einen Kuss. Er schmeckte nass, salzig und warm und dauerte an…so unendlich lange. Sie setzte sich auf das Geländer. Ein Engel, der sich dazu bereit macht, dorthin zurückzukehren, wo er hingehört. Bevor sie sich fallen ließ, schenkte sie mir ein Lächeln, ein aller letztes, und wusste gar nicht, wie viel sie mir bereits gegeben hatte.
Eins, zwei, drei…ich war nur am Anfang traurig, als sie immer kleiner wurde und irgendwann im grünlichen Nebel unter mir verschwand.
Vier, fünf, sechs…Pferde…Laura war wie sie.
Als was ich sie in Erinnerung behielt, war ein stolzes Wesen, das seine letzte freie Entscheidung traf. Eden konnte sie nie gefangen halten. Nun war sie endgültig frei.

*

Dies ist nun meine Geschichte, und wenn ich mir die Mauer ansehe, ist sie ziemlich lang geworden. Eines Tages, so hoffe ich, werden Menschen kommen, dies lesen, und es besser machen als wir. Damit wir später, viel später irgendwann in einer Welt leben, die sich mein Großvater und Laura gewünscht hätten.
Ich bin Laura noch etwas schuldig, etwas Großes. Und ich bin mir sicher, dass sie mir zuschaut, aus jenem unvorstellbaren Paradies, so weit entfernt, dass selbst Gedanken es nie richtig erreichen können…

La Cipolla
28.09.2006, 19:47
Schön. ;_; Im ernst, ich finds verdammt toll zu lesen, ist zwar weiß Gott nichts neues, aber trotzdem schön umgesetzt. Ich glaub, ich hätt den Namen der Stadt komplett weggelassen, klingt mehr pseudo als alles andere. Davon abgesehen aber wirklich klasse.
Spontan erinnert hat mich das Ganze an Battle Angel Alita und Hugos Versuche, nach Zalem zu kommen, falls dir das was sagt.


„Nie und nimmer“, sagte sie und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Ich werde dieses eine Lächeln nie vergessen, weil es für etwas stand, das so stark sein kann, wenn es in einem Menschen aufblüht. Es stand für aufrichtige Hoffnung.
Die Stelle mag schön sien, aber sie macht das Ganze schrecklich berechenbar und nimmt damit ein wenig von der wohligen, offenen Atmo.

kate@net
29.09.2006, 09:42
Also ich finds auch super. Aber ich stime Cippo nicht zu, die Stelle ist einfach nur schön. Aber ok.... Wir sind ja eh nicht immer einer Meinung. Ansonsten gibts da nicht viel zu sagen. Am stil kann man nicht mekern.

kate

qed
29.09.2006, 14:51
Aber trotz allem muss ich sagen, dass mir imho solche Geschichten nicht ganz liegen...naja, macht euch ein eigenes Bild.


Also ich weiss nicht warum dir diese Geschichten nicht liegen, jedenfalls merkt man in der Geschichte nichts davon. Sowohl stilistisch wie inhaltlich Top, und etwas vom besten was ich hier je gelesen haben. Schreib ruhig weiter solche Sachen. War wirklich vom ersten bis zum letzten Moment gefesselt. Auch das Thema war ein Interessantes, welches du hier verwendet hast und wie schon oben erwähnt gut umgesetzt.



Übrigens war die Geschichte ursprünglich länger gedacht, aber habs zugunsten der Lesbarkeit so kurz gehalten wie die Geschichte es zuließ.

Imo hättest du sie Gut und gerne noch länger machen können, bei dir hab ich sowieso nicht die Sorge, dass sie damit künstlich in die Länge gezogen wird.

NeoInferno
30.09.2006, 16:48
Hui, hätte wirklich nicht gedacht, dass die Geschichte so gut ankommt. Ich find sie für meine Verhältnisse irgendwie nur durchschnittlich, hab mir sogar überlegt sie gar nicht zu posten...aber glücklicherweise sind Geschmäcker verschieden. ;)

Schön, dass sie euch gefallen hat. Jetzt weiß ich, dass ich wirklich ab und zu solche ganz normalen Geschichte schreiben sollte.

"Ich glaub, ich hätt den Namen der Stadt komplett weggelassen"
- Die Stadt spielt schon ne ziehmlich zentrale Rolle, als solche sollte sie auch benannt werden. Es gibt ja in dieser Geschichte nix anderes mehr außer Eden. Und zudem is das noch ein schöner Kontrast, von wegen Garten Eden, Paradies und so ;)

"Die Stelle mag schön sien, aber sie macht das Ganze schrecklich berechenbar und nimmt damit ein wenig von der wohligen, offenen Atmo."
- Meinst du damit, dass das Ende vorhersehbar wird? Finde ich nämlich überhaupt nicht. Die beiden Charaktere sind auf ner aussichtslosen Mission, und der Satz ist einfach nur Sarkasmus oder Galgenhumor, wie mal will, und typisch für Laura. Sie hätte auf die Frage des Prots gar nicht anders antworten können. Und dass sie am Ende stirbt wird in der Antwort eben in keinster Weise ausgesagt.

"Spontan erinnert hat mich das Ganze an Battle Angel Alita und Hugos Versuche, nach Zalem zu kommen, falls dir das was sagt."
- Kenn ich nicht :confused: Mal googeln ^^

"Schreib ruhig weiter solche Sachen"
- Werd ich tun wenn mir was schreibenswertes einfällt.

"Imo hättest du sie Gut und gerne noch länger machen können"
- Hätte ich zu gern, das Szenario in meinem Kopf ist viel größer als in der Geschichte beschrieben, hätte gerne Eden noch hintergründiger beschrieben. Aber, und das ist ja oftmals ein Problem, längere Geschichten werden seltener gelesen. Da musste ich einen Mittelweg finden. Und mit dem Kompromiss zwischen Inhalt und Länge bin ich recht zufrieden.

Also Danke noch mal an alle, fühl mich motiviert mehr zu schreiben. Irgendwo muss ich doch noch ne Inspiration rumliegen haben...:D

La Cipolla
30.09.2006, 17:50
- Die Stadt spielt schon ne ziehmlich zentrale Rolle, als solche sollte sie auch benannt werden. Es gibt ja in dieser Geschichte nix anderes mehr außer Eden. Und zudem is das noch ein schöner Kontrast, von wegen Garten Eden, Paradies und so
Klar doch, da gibts aber schon in tausendhafter Ausführungen, da kriegt man nur unnötige Deja Vus, und irgendwie soll die Stadt ja allumfassend sein. Ist aber Ansichtssache.


Meinst du damit, dass das Ende vorhersehbar wird? Finde ich nämlich überhaupt nicht.
Ich sags mal so. Mir war eigentlich von "Sie hat eine wichtige Rolle" an, rein emotional klar, dass sie die Geschichte nicht überlebt, aber in diesem Punkt waren die Zweifel dann letztendlich weg. ;)

Cyberwoolf
01.10.2006, 16:49
Schöne Geschichte, inhaltlich nichts weltbewegendes und schon gar nichts neues, aber insgesamt doch positiv zu sehen. Überhaupt finde ich derartige Geschichten weit besser, als hochstilisierte komplizierte Geschichten, bei denen oftmals der Hintergedanke verloren geht. Wenn man etwas mitteilen will, dann sollte man in einer Sprache sprechen, die von den meisten verstanden wird.


Meinst du damit, dass das Ende vorhersehbar wird? Finde ich nämlich überhaupt nicht.


Ich erinnerte mich kurz an die Pferde, jene mystischen und stolzen Wesen, die lieber starben, als sich die Freiheit nehmen zu lassen. Während ich das dachte, schaute ich zu ihr rüber, und sah, wie sie hinunter schaute, zu den gierigen Tunneln, die aus der Erde krochen, und in ihrem Gesicht war genau dieser Ausdruck.

Offensichtlicher kann's ja wohl nicht sein, oder?

NeoInferno
01.10.2006, 17:41
Ok, stimmt...nächstes mal muss ich in MS Word die Subtilitäts-Kontrolle aktivieren ^^