PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Xenogears Romanfassung (von Shirou)



pute703
05.02.2003, 05:42
Da ich nicht weiß ob die Mods die XG RF noch hier ins Forum bringen. Mach ich es jetzt einfach mal. Schlieslich kann man IMO so eine Perle nicht verloren gehen lassen.

Ach ja ich kopiere hier jetzt nur die Story rein und nicht die Sachen die sonst im Thread geschrieben wurden sind da ichs von einer Word Datei aus mache.


Xenogears Romanfassung von Shirou


Ich bin das Alpha und Omega,
Der Anfang und das Ende,
Der Erste und der Letzte...

Kapitel I:

Lahan:

Wie ein schwarzer samtener Schleier lag die Nacht über Ignas, dem größten Kontinent der nördlichen Hemisphäre. Der Himmel war übersät von Sternen, die hell und klar über dem Land funkelten; friedliche Stille lag über den nächtlichen Ebenen, unterbrochen nur vom wehmütigen Seufzen des Windes, über den kleinen Siedlungen ebenso wie über den großen Metropolen der beiden Länder Aveh und Kislev.
Nichts wies auf den tobenden Krieg hin, der den Kontinent seit Jahrhunderten zerrissen hatte, auf den Krieg, dessen Ursprung bereits so weit zurücklag, dass sich niemand mehr seines eigentlichen Grundes entsinnen konnte. Was den Konflikt weiter und weiter antrieb, war nunmehr nur noch der tief verwurzelte Hass auf den Feind, die Angst, dass der Gegner die Oberhand gewinnen könnte, in jenem ständigen Wettrüsten um die Ausgrabungen einer uralten, längst untergegangenen Zivilisation, die eine Waffe in sich bargen, die den Verlauf des Krieges ändern könnte – die Gears, gewaltige humanoide Kampfroboter.
Während der vergangenen Jahrzehnte war der herkömmliche Kampf zwischen den schier unerschöpflichen Armeen allmählich durch diese neue Technologie ersetzt worden und der Krieg hatte einen Höhepunkt und eine Verbissenheit erreicht, wie es sie seit fünfhundert Jahren nicht mehr gegeben hatte...

Der Donner schwerer Geschütze zerschnitt die Stille der Nacht wie eine messerscharfe Klinge. Eine riesenhafte nachtschwarze Gestalt jagte lautlos über die Gebirge im Nordosten Ignas' und versuchte verzweifelt, dem Sperrfeuer seiner Verfolger zu entkommen, ein Schatten, der den sternübersäten Himmel verdunkelte.
Sie geben einfach nicht auf, dachte die junge Frau, die das schwarze Gear steuerte. Sie warf einen Blick zurück durch die Fenster des Cockpits, sodass ihr langes oranges Haar in der Bewegung hell aufflammte. Entschlossenheit trat in ihre tiefblauen Augen, als sie die Verfolger stetig aufholen sah. Sie würde jetzt nicht aufgeben, nicht nach all den Gefahren, denen sie sich ausgesetzt hatte, um dieses Gear aus den Forschungseinrichtungen Kislevs zu entwenden. Es war zu wichtig, als dass sie sich jetzt aufhalten ließe. Darüber hinaus hatten sie bereits die Grenze zu Aveh überschritten und näherten sich somit ihrem Ziel. Sie konnte nur hoffen, dass Aveh ihnen Verstärkung schickte, um Kislevs Truppen abzufangen.
Die junge Frau wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als ein gleißender Lichtblitz das Cockpit taghell erleuchtete und zu ihrer Linken das Gear eines ihrer drei Begleiter flammend niederging. Ein Regen von brennenden Trümmern ging auf das schwarze Gear nieder und Sekunden später fühlte sie eine Erschütterung durch die stählerne Hülle laufen, als sich ein Splitter des explodierenden Kolosses wie ein Pfeil ins Rückgrat ihrer Maschine bohrte und im selben Augenblick die Leistung der Thruster praktisch auf Null sank.
Jetzt war die Lage tatsächlich hoffnungslos; sie war nicht einmal mehr in der Lage, die Flughöhe aufrecht zu erhalten, ganz zu schweigen, den Verfolgern zu entkommen. Es gab keinen anderen Ausweg mehr, sie waren gezwungen, Not zu landen.
Mit den letzten Reserven der Antriebe bereitete sie sich auf die Landung vor. Die dunkle Masse des Waldes wuchs zu einer Flut einzelner mächtiger Bäume an, als das Gear funkenstiebend über der Oberfläche niederging. Und dann teilte sich plötzlich das Dickicht der Bäume und gab die Sicht auf eine kleine Siedlung frei...
Nein, nicht hier!, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn es hier zu einem Gefecht kommt...
Doch sie konnte nichts mehr tun, sie hatte keine Kontrolle mehr über die Maschine und so steuerte sie unweigerlich auf das kleine Dorf nahe der Grenze zwischen Aveh und Kislev zu...

* * *

Fei legte den Pinsel zur Seite und betrachtete prüfend sein Werk. Er war recht zufrieden damit, wie es sich entwickelt hatte, zwar wusste er selbst nicht ganz, was das Bild darstellte, doch es war eine wundervolle Harmonie von Formen und Farben und bildete ein passendes Geschenk für Alice und Timothy.
Jetzt wo er daran dachte, konnte er selbst noch nicht ganz glauben, dass seine beiden besten Freunde Timothy und Alice tatsächlich morgen heiraten sollten, am dritten Jahrestag seiner Ankunft in Lahan.
Drei Jahre... Es schien ihm wie eine Ewigkeit, seit er in das kleine verschlafene Dorf gekommen war, ihm war, als hätte er bereits sein ganzes Leben hier verbracht. Und in gewisser Weise war dies für ihn auch der Fall.
Fei verwarf den Gedanken; er hatte beschlossen, sich nicht weiter darüber den Kopf zu zerbrechen. Er schüttelte den Kopf, strich sich eine widerspenstige Strähne seines langen pechschwarzen Haares aus dem Gesicht und warf einen letzten Blick auf das Gemälde. Ein leichter Schauer durchfuhr ihn bei dem Anblick, als läge etwas Endgültiges und Absolutes in den Farben, als spräche eine ihm nicht zugängliche Botschaft aus den Tiefen des Bildes.
Er wandte dem Chaos in der Werkstatt den Rücken zu und begab sich nach oben ins Haus.
Der Wohnraum war freundlich und hell, die Sonne blinzelte golden durch das Blattwerk der Bäume zu den Fenstern herein und warf grünschillernde Schatten auf die weißen Wände. Das Feuer im Kamin war beinahe heruntergebrannt und nur noch ein schwaches Flackern huschte hier und da über das verkohlte Holz.
Fei ließ sich mit einem Seufzer auf die Bank gegenüber des Feuers fallen und breitete zufrieden die Arme über der Lehne aus. Es war ruhig im Haus; Lee und seine Frau waren unterwegs, um noch die letzten Vorbereitungen für den großen Tag morgen zu treffen. Er lehnte sich behaglich zurück und schloss einen Moment die Augen. Der helle Gesang der Vögel drang von draußen in sein Bewusstsein, er ließ die Gedanken treiben, bis ihn die dunkle Geborgenheit des Schlafes umfing...



Es regnete in Strömen, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet, um die Welt von jeglichem Schmerz und Leid reinzuwaschen. Der kühle Wind zerrte am tiefblauen Umhang des Wanderers, der langsam und bedächtig den Dorfpfad entlang schritt; Blitz und Donner zerrissen ohrenbetäubend den grauen wolkenverhangenen Himmel, wie ein gewaltiges Schwert aus Licht, das die Wolkendecke spaltete und auf die Erde hernieder fuhr.
Der Wanderer ließ sich von den entfesselten Naturgewalten nicht beirren und zog seinen vom Regen schweren Mantel fester um den Jungen in seinen Armen, während der Regen auf ihn einhämmerte, um ihn vor der Nässe und Kälte zu schützen. Seine Wunden waren auch so bereits schwer genug und dem Wanderer blieb nicht viel Zeit, ihn der Sicherheit des Dorfes anzuvertrauen.
Er blickte hinab auf das bleiche leblose Gesicht des Jungen und fragte sich, nicht zum ersten Mal, ob er das Richtige tat. Doch er hatte keine Wahl. Lahan war ein kleines, von der Außenwelt isoliertes Dorf, für dessen Mehrheit der Einwohner Gears und der Krieg nicht mehr waren, als wundersame Gerüchte von der Welt draußen; für die selbst seine Ankunft mehr als ungewöhnlich und aufsehenerregend war. Das Dorf hatte keinen Anteil an den großen Ereignissen, die die Welt draußen in Atem hielten.
Er konnte nur darauf vertrauen, dass es das Beste war, ihn einer Zukunft unter gewöhnlichen Menschen anzuvertrauen, so weit vom Rest der Welt entfernt, wie nur möglich.
Der Blaue Wanderer hielt inne. Sein Blick wanderte die Häuser entlang, die, kalt und abweisend im Regen, sich zu beiden Seiten des Weges reihten. Er versuchte, sich vorzustellen, wie das Dorf wohl an einem sonnigen Tag ausgesehen hätte, erfüllt vom Gesang der Vögel und dem Lachen von Kindern.
Es spielte keine Rolle, er konnte nun nicht mehr zurück, er musste ein Zuhause für den Jungen finden, ehe 'er' zurückkehrte. Behutsam trat er die letzten Schritte auf eines der Häuser zu und klopfte mit einem dringenden Pochen an die Tür.
Er vernahm Schritte von innen, ein Riegel wurde knarrend beiseite geschoben und gleich darauf schwang die Tür einen Spalt weit auf und goldenes Licht floss hinaus in die Dunkelheit. Der Sturm peitschte den Regen in einem Schwall in die Behaglichkeit des Hauses und ein hagerer älterer Mann mit grauem Haar blickte mit scharfen dunklen Adleraugen hinaus in den grauen Vorhang des Regens. Ein weiterer Blitz durchzuckte das Firmament und erleuchtete die gegen das flackernde Licht des Kaminfeuers dunkel aufragende Silhouette des Wanderers.
Der Dorfbewohner trat erschrocken einen Schritt zurück, als er den blutüberströmten Jungen in den Armen des Wanderers erblickte und bedeutete dem Fremden, hineinzukommen. Der Wanderer warf ihm einen forschenden Blick durch die kunstvoll geschnitzte Maske, die sein Antlitz verbarg, zu und legte den Jungen auf die Bank, die der Dorfbewohner ihm wies.
Er wirkte seltsam zerbrechlich für sein Alter und zitterte im Fieber. Eine Flut pechschwarzen Haares entspross seinem kraftlos zur Seite geneigten Kopf und fiel über seine Schultern und verdeckte sein Gesicht; sein Atem ging flach, so dass nur schwer ein Lebenszeichen auszumachen war. Der grauhaarige Mann konnte sich nicht vorstellen, wer oder was diese Verletzungen verursacht haben könnte; die lang gezogenen Schnitte, die quer über Brust und Arme verliefen, wirkten weder wie die Spuren der Klauen eines wilden Tieres, noch konnte eine einfache Klinge solche Wunden reißen.
"Sein Name ist Fei Fong Wong," sagte der Blaue Wanderer leise. Seine Stimme war von einer seltsamen Ruhe erfüllt und hallte hohl in den Ohren des Dorfbewohners wider. "Gib gut auf ihn acht."
Der grauhaarige Mann nickte nur, den zweiten Teil der einzigen Worte, die der Fremde hinterließ nicht sofort registrierend, eilte ins Nebenzimmer und wechselte einige Worte mit seiner Frau, um den Arzt zu rufen.
Als er sich wieder umwandte, hörte er gerade noch die Tür ins Schloss fallen. Der maskierte Wanderer war verschwunden. Er öffnete die Tür und blickte hinaus in die Dunkelheit, doch draußen war nichts mehr von der hochgewachsenen Silhouette des Fremden zu sehen...

Verwirrt öffnete Fei die Augen. Lee hatte ihm von den mysteriösen Umständen seiner Ankunft in Lahan erzählt, auch wenn er sich nur ungern daran erinnerte, doch dieser Traum war von einer solch vertrauter Wirklichkeit gewesen, als hätte er selbst noch einmal die Ereignisse jener dunklen Nacht erlebt.
Fei war damals fünfzehn gewesen. Es hatte Tage gedauert, bis er wieder zu Bewusstsein gekommen war; und es kam einem Wunder gleich, dass er sich so schnell von seinen Verletzungen erholt hatte, doch sie hatten ihre Spuren hinterlassen und schnitten tiefer, als man zunächst angenommen hatte.
Denn noch Wochen nachdem er wieder bei Bewusstsein war konnte er sich an nichts erinnern, was vor seiner Ankunft in Lahan geschehen war; jeder Versuch, sich an die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens zu erinnern, stieß gegen eine dunkle undurchdringliche Mauer des Vergessens. Anfangs hatte man angenommen, es handele sich nur um eine temporäre Nachwirkung des Deliriums, in dem er gelegen hatte, doch auch nach längerer Zeit, vermochte er nicht, die Leere in seinem Leben auszufüllen. Schließlich gab er den vergeblichen Versuch auf, nach seiner Vergangenheit zu forschen, und begann ein neues Leben in Lahan.
Bürgermeister Lee und seine Frau, die ihn damals aufgenommen hatten, hatten ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt und die Menschen im Dorf hatten ihn freundlich aufgenommen. Auch wenn Lahan nur eine kleine Siedlung war, so hatte er hier dennoch eine Heimat gefunden und er fühlte sich, als wäre er tatsächlich hier aufgewachsen. Um nichts in der Welt hätte er das Dorf verlassen wollen.
Tief in Gedanken versunken starrte er in die Flammen des ersterbenden Feuers. Der Anblick hatte eine beruhigende, beinahe hypnotisierende Wirkung und eine Zeitlang verfolgte er die unstete schlängelnde Bewegung der Flammen, bis sich sein Selbst ganz in ihrem Tanz zu verlieren schien. Und plötzlich wurde Fei schlagartig bewusst, was das Gemälde in der Werkstatt darstellte.
Feuer. Feuer in all seiner faszinierenden Schönheit und Bewegung. Er wusste selbst nicht, wie es dazu gekommen war, ihm war mit einem Mal, als wäre das Bild einfach aus den Tiefen seines Herzens entsprungen und hätte seine Hand von selbst geführt, als hätte er dabei keine Kontrolle über sich selbst gehabt.
Eine vertraute Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. Immer noch voller Verwirrung wandte er sich um.
Draußen stand Timothy ans Fensterbrett gelehnt und lugte in den Raum, gut gelaunt wie er es eigentlich immer war.
"Hey, Fei," begrüßte er ihn. Fei seufzte innerlich; Timothy liebte solche Wortspiele.
"Hallo, Timothy," antwortete er und ging ans Fenster, "was gibt's?."
"Ist Lee da? Ich hab noch etwas mit ihm zu besprechen wegen morgen," erklärte Timothy, als er den Raum betrat.
"Ach ja, morgen, deine Heirat mit Alice. Wie läuft's mit den Vorbereitungen?"
Timothy lachte, dass seine friedlichen grauen Augen blitzten. "Erinnere mich bloß nicht daran," meinte er mit einer abwehrenden Bewegung, "Wenn ich daran denke, dass morgen bereits der große Tag ist... Es wirkt direkt unwirklich."
"Was, bekommst du plötzlich Zweifel?" entgegnete Fei scherzhaft.
Timothy zog in gespieltem Ärger eine Augenbraue hoch. "Hey, was denkst du von mir? Du weißt, ich liebe Alice und nichts würde mich glücklicher machen, als den Rest meines Lebens mit ihr zu verbringen," rief er.
"Den Rest deines Lebens? Hoffentlich bereust du das nicht eines Tages... Nein im Ernst," lenkte Fei ein, "ich wünsche mir wirklich für euch, dass ihr glücklich werdet. Ich freue mich auf die Feier morgen.
Übrigens, was Lee betrifft, ich glaube, er erledigt noch irgendwelche Besorgungen für morgen."
"Hm, ja, das ist ja wohl auch nötig," entgegnete Timothy. Fei warf ihm einen fragenden Blick zu.
"Du denkst doch wohl nicht daran, so morgen auf der Hochzeit zu erscheinen?" fügte er neckisch hinzu.
Fei blickte an sich herab. Er trug eine bequeme dunkelgrüne Kampfhose und ein kurzärmeliges weißes T-Shirt mit einem blauen Streifen an Kragen und Ärmeln. Wirklich nicht der passende Aufzug für einen derart festlichen Anlass.
"Wofür hältst du mich? Ich habe an alles gedacht," erwiderte er.
"Wenn du das sagst...". Timothy fuhr sich verlegen durch das kurze schwarze Haar, als er sich an etwas erinnerte.
"Ach ja...," begann er, "ich hätte beinahe darauf vergessen. Könntest du vielleicht kurz bei Alice vorbei sehen? Wie gesagt, ich habe noch einiges zu erledigen und ich bin sicher, das sie sich über ein wenig Gesellschaft freuen würde."
"Klar doch," antwortete Fei.
"Gut, ich seh' dich dann morgen." Timothy schickte sich an, zu gehen, als Fei ihn zurückrief.
"Timothy...!"
Er blickte zurück. "Ja?"
"Ich... Ich möchte mich bedanken, bei euch beiden. Vor drei Jahren bin ich hier aufgewacht ohne irgend eine Erinnerung an mich selbst oder mein bisheriges Leben; ich wusste nicht wer ich war, woher ich kam oder was ich bisher getan hatte, trotzdem habt ihr mich sofort akzeptiert und Freundschaft mit mir geschlossen. Wenn du und Alice nicht gewesen wärt und mich ermutigt hättet, weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre. Wirklich, ich muss mich aus tiefstem Herzen bei euch bedanken."
Timothy sah ihn an, als hätte er gerade sein Testament verlesen.
"Kein Grund, sentimental zu werden. Für mich ist es, als wären wir Freunde seit unserer Kindheit. Und so wird es auch immer bleiben, nicht wahr?," fragte er, als er wieder zurücktrat.
"Natürlich," erwiderte Fei.
Er wollte noch etwas hinzufügen, als die Tür mit einem Krachen aufflog; Fei fuhr herum und sah, wie ein kleiner rothaariger Junge von etwa zwölf Jahren hereinstürmte.
"Hier bist du also, Fei. Ich muss mit dir reden," verlangte er.
"Dan, was ist los? Was soll der Lärm?" ließ sich Timothy vermelden, der sich nun wieder durch das Fenster lehnte.
"Oh, verdammt, Timothy ist auch hier. Hau ab, Tim," versetzte Dan, "Bis du meine Schwester geheiratet hast, hab ich überhaupt nichts mit dir zu tun. Ich hab hier nur etwas mit Fei zu besprechen.
Also," wandte er sich an Fei, "ich muss mit dir wegen später reden."
"Was ist? Hört sich an, als wär' es was ernstes."
"Yep, eben deshalb kann ich hier nicht darüber sprechen. Eine bestimmte Person in diesem Raum," erklärte er mit einem Seitenblick auf Timothy, "könnte uns Probleme bereiten. Es ist wirklich wichtig. Wir müssen reden, unter vier Augen, von Mann zu Mann." Er warf einen resignierten Blick auf Timothy, der keine Anstalten machte, zu gehen.
"Also, ich warte irgendwo draußen auf dich. Ich seh' dich dann. Bis später Timothy!" Damit rannte er wieder hinaus und war verschwunden, ehe Fei oder Timothy etwas erwidern konnten.
"Was ist nur los mit ihm?," fragte Fei, mehr zu sich selbst gerichtet.
"Ab morgen bin ich also der Schwager von diesem Kind. Das können ja schöne Flitterwochen werden...," sinnierte Tim.
"Tja, ich schau dann mal, dass ich hier weg komm, damit Dan sein Gespräch 'unter vier Augen' mit dir führen kann. Bis dann!"
Er lachte und schlenderte gemächlich über den Dorfweg davon.
Fei seufzte; seine Pause war damit wohl beendet. Er wandte sich zur Tür und trat ins Freie hinaus.

pute703
05.02.2003, 05:44
Es war ein strahlender Tag im Spätfrühling, wie man ihn sich schöner nicht wünschen konnte; die Sonne schien golden vom klaren blauen Himmel und blinzelte durch das dichte Blattwerk der stattlichen Bäume vor dem Haus; Vögel priesen den Tag aus vollem Halse und die Luft war erfüllt von ihrem Gesang.
Fei blieb einen Moment im Schatten der Bäume stehen und blickte den staubigen Pflastersteinweg entlang. Das typische idyllische Bild Lahans bot sich ihm, mit seinen einfachen aber ordentlichen Häusern, die sich den Weg entlang reihten, jedes eingerahmt von einem kleinen, sauber gepflegten Garten. Die alten Dorfbewohner saßen in Liegestühlen vor den Häusern und genossen die Wärme der Sonne; aus der Ferne schallte das fröhliche Lachen spielender Kinder herüber.
Fei liebte die Ruhe des Dorfes; es stimmte schon, an manchen Tagen schien es fast schon zu ruhig und verschlafen, aber auf seltsame Art und Weise vermochte das gemächliche Leben in Lahan die Leere in seinem Herzen auszufüllen.
Langsam trottete er den Weg entlang, in Richtung von Alice' Haus; irgendwo würde er unterwegs schon auf Dan treffen; wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, so konnte man sicher sein, dass er es so lange verfolgen würde, bis er sein Ziel erreicht hatte. Alice' kleiner Bruder konnte mitunter recht anstrengend sein, doch irgendwie hatte Fei den lebhaften Kerl mit seinem unerschütterlichen Enthusiasmus über die Jahre ins Herz geschlossen.
Dan stand an die Mauer der Windmühle gelehnt und sah ihm ungeduldig entgegen. Die mächtigen Flügel der Mühle knarrten leise in der leichten Brise, als Fei sich näherte.
"Hier bist du ja endlich," ließ sich Dan vermelden. "Können wir reden?"
"Schieß los," entgegnete Fei. Er war wirklich interessiert, was so wichtig für Dan war.
"Also, wie du weißt ist morgen der Tag an dem meine Schwester heiratet," begann der Junge, "Deshalb wollte ich genau darüber mit dir reden." Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
"Fei, um vollkommen ehrlich zu sein... Ich habe mir immer einen großen Bruder wie dich gewünscht. Noch ist es nicht zu spät. Du könntest Alice einfach entführen und mit ihr abhauen. Ich weiß, dass du ein besserer Ehemann für sie wärst als Timothy." Er fuhr sich nervös durch sein wirres rotes Haar. "Wenn ich dir irgendwie dabei helfen kann, werde ich alles mir Mögliche tun. Komm schon, ich weiß, es klingt seltsam, aber wir können das durchziehen!"
Fei sah ihn entgeistert an. Das war tatsächlich die verrückteste Idee, die Dan jemals gehabt hatte. Aber wollte ihn nicht enttäuschen, er sah an seinen hoffnungsvollen leuchtenden Augen, das es ihm ernst war.
"In Ordnung, Dan," entgegnete er, "ich schätze, ich werde einfach loslaufen, sie mir schnappen und dann zusehen, dass wir von hier verschwinden."
Dan warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. "Wirklich? Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Fei. Ich weiß, dass es nicht so einfach ist, immerhin können wir nicht ihre Gefühle füreinander ändern, aber... Ich werde dir nie vergessen, dass du so weit gehen würdest, um mir zu helfen. Danke, Fei!"
Damit machte er schon wieder kehrt und war auf und davon. Fei tat es bereits wieder leid, dass er Dan falsche Hoffnungen gemacht hatte. Selbst wenn er es tatsächlich wollte, er konnte es einfach nicht tun; er wünschte den Alice und Timothy von ganzem Herzen, dass sie glücklich würden, und er wollte ihnen diese Freude nicht zerstören.

Alice' Haus lag nur wenige Meter von der Mühle entfernt, dort wo der Weg zu einer sanften Linksbiegung ansetzte. Es unterschied sich nicht besonders von den anderen Gebäuden in Lahan, doch für ihn war es immer das schönste von allen gewesen. Es lag nicht so sehr an den in den prächtigsten Farben blühenden Blumen im Garten oder irgendwelchen architektonischen Merkmalen, es war vielmehr die Atmosphäre, die er nicht ganz zuordnen konnte, die das Haus ausstrahlte.
Fei ging über den schmalen Weg durch den Garten auf die hölzerne Tür zu und klopfte vorsichtig an. Fast im selben Moment wurde die Tür geöffnet und eine Frau mittleren Alters öffnete und lächelte ihm freundlich entgegen.
"Hallo, Fei", begrüßte sie ihn. "Ich nehme an du bist hier um Alice zu sehen?"
"Ja, ist sie hier?"
"Eigentlich ist es ja Brauch, dass niemand sie vor dem großen Tag sehen darf, aber ich schätze, bei dir kann ich eine Ausnahme machen." Ein wehmütiger Blick trat in ihre Augen.
"Kaum zu glauben, dass es schon zehn Jahre sind, seit mein Bruder und seine Frau von uns gegangen sind. Ich habe seither alles daran gesetzt, Dan und Alice großzuziehen und zumindest im Fall von Alice kann ich glücklich behaupten, dass ich meine Pflicht erfüllt habe. Ich bin sicher, Timothy wird von nun an gut für sie sorgen.
Jetzt bleibt mir nur noch Dan... Es könnte sich als schwierig erweisen, den kleinen Bengel zu einem Erwachsenen zu erziehen." Sie lachte leise. Ihr kastanienbraunes Haar wies bereits einen leichten Anflug von grau auf und der Blick ihrer Augen verriet, dass sie viel Sorge über sich ergehen lassen musste, doch trotz allem schien sie mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Wahrscheinlich dachte sie, dass sie es besser hatte, als die Menschen die in einem der umkämpften Gebiete Avehs im Landesinneren lebten.
"Nun ja, für Alice ist es wahrscheinlich das Beste so. Ich will dich nicht länger aufhalten, Fei. Sie ist oben und trifft noch die letzten Vorbereitungen für morgen."

Alice saß in ihrem Zimmer und war über eine Flut von schneeweißer Seide gebeugt, umgeben von fließenden Schleifen und silbernen Bändern. Helles Sonnenlicht flutete zum Fenster und tauchte den Raum in goldenes Licht. Auf einem kleinen Tischchen in der Ecke war Nähzeug jeder erdenklichen Art aufgehäuft.
Sie blickte von Nadel und Faden auf, als sie Fei hereinkommen hörte.
"Hallo Alice. Ist das hier dein Hochzeitskleid?"
"Oh, Fei, du bist es. Ja, ich bin gerade fertig geworden," erklärte sie mit einem Blick auf die schimmernde Seide. "Es hat mehr Arbeit benötigt, als ich dachte."
"Du hast wirklich großartige Arbeit geleistet. Du wirst wundervoll darin aussehen."
"Danke..." Sie senkte den Blick, so dass ihr schulterlanges schwarzes Haar über ihr schmales Gesicht fiel.
"Fei...?"
"Ja, Alice? Was hast du?"
"Ach, es ist nichts..." Sie riss sich zusammen und blickte ihm fest in die Augen. "Ach ja, hast du Dan gesehen?"
"Ja, er rennt draußen herum, wie immer."
"Oh dieser Junge! Das sieht ihm wieder einmal ähnlich. Ich habe ihn doch gebeten, noch um eine letzte Besorgung zu laufen."
"Worum ging es denn?," erkundigte Fei sich.
"Es ist wegen der Hochzeit... Ich hatte gehofft, er könnte auf den Berg zu Doktor Uzuki gehen und einen Fotoapparat ausborgen."
"Wenn es nur das ist, ich würde gern für dich gehen."
"Wirklich?," Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, "Aber ich könnte nicht vielleicht...?"
"Mach dir keine Sorgen, es ist überhaupt kein Problem," warf er ein, "Ich bin mir ohnehin nicht sicher, ob es mir behagen würde, wenn Dan so ein empfindliches Gerät in die Hände bekommt."
"Danke, Fei," strahlte sie, "Ich wüsste wirklich nicht, wie ich ohne dich zurecht kommen sollte."
"Also, ich gehe dann mal hinauf auf den Berg und sehe zu, was ich bekommen kann," sagte er und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
"Fei, warte," rief sie ihm nach.
"Hm...? Gibt es noch etwas, was ich von Citan besorgen soll?"
Alice sah ihn an. Sie hatte ihn noch nie auf diese Weise betrachtet, wie er sie ein wenig unsicher anlächelte; der Ausdruck der Bewunderung in seinen braunen Augen; die widerspenstige Strähne, die ihm immer aus den armlangen zurückgebundenen Haaren sprang.
"Es ist nicht das," brachte sie schließlich hervor, "Hast du... hast du jemals darüber nachgedacht? Was gewesen wäre, wenn du nur hier geboren wärst... Wenn wir uns nur länger gekannt hätten..."
Fei sah sie schweigend an. Er wusste nicht, was er antworten sollte, wusste nicht, worauf sie hinaus wollte. Er konnte das Gefühl nicht beschreiben, das plötzlich Besitz von ihm ergriff.
"Mach dir keine Gedanken darüber," brach Alice schließlich die Stille, "Es tut mir leid."
"Nun, ich denke, ich mache mich dann besser mal auf den Weg."
"In Ordnung... Gib auf dich acht."
Er winkte zum Abschied und ging die Treppe hinunter.
Alice sah aus dem Fenster in den strahlenden Tag hinaus. "Ist das Schicksal...?," sagte sie leise zu sich selbst. "Ich fühle mich so seltsam... Wem versuche ich etwas vorzumachen?"


Der Berg, wie ihn die Einwohner Lahans liebevoll nannten, war eher ein Hügel, ein niedriger Ausläufer des nördlichen Gebirges, der sich an den Grenzen des Dorfes erhob, wie eine Insel im Meer des westlichen Waldes. Von der Spitze des Berges konnte man das umliegende Tal überblicken; Lahan, das sich an den Osthang des Hügels schmiegte, umgeben von sorgfältig bestellten Feldern und Obstgärten; die dunklen Wipfel der Bäume des Neumondwaldes im Westen; im Norden die in der Ferne bläulich im Dunst verschwimmende Kette des Gebirges. An klaren Tagen konnte man von oben bis zur Wüste Avehs im Landesinneren sehen.
Oben auf dem Berg wohnte Doktor Citan Uzuki allein mit seiner Frau Yui und seiner Tochter Midori. Niemand wusste so recht, warum er ausgerechnet einen so abgelegenen Wohnsitz gewählt hatte, weswegen er von den meisten Dorfbewohnern als Exzentriker angesehen wurde. Dennoch war er gerne im Dorf gesehen und die Leute begegneten ihm mit Respekt.
Die meisten Gerüchte und Neuigkeiten über die Welt außerhalb des Tales, die nicht von passierenden Händlern stammten, kamen von ihm, auch wenn sich niemand erklären konnte, woher er sein Wissen bezog.
Wenn sich tatsächlich einmal ein echter Notfall ereignete, was zwar selten vorkam, so konnte man außerdem sicher sein, dass er nahezu jede Verletzung oder Krankheit kurieren konnte. Er war es vor allem, dem Fei sein Leben verdankte, nachdem der Blaue Wanderer ihn damals vor drei Jahren in Lees Haus gebracht hatte.
Es war ein Weg von etwa einer halben Stunde hinauf auf die Spitze des Berges, ein Pfad, der sich zwischen blühenden Wiesen und vereinzelten Baumgruppen seinen Weg bahnte. Schmetterlinge tanzten vereinzelt zwischen den leuchtenden Blüten umher und die Luft war erfüllt vom Summen der Insekten und dem Gesang umherschwirrender Vögel.
Fei atmete tief durch, als er den Bergpfad beschritt. Er ging oft diesen Weg, wenn er Citan in seinem Haus besuchte. Für Fei war Citan so etwas wie ein Mentor, all sein Wissen hatte er durch ihn erhalten. Oft verbrachte er ganze Nachmittage und Abende auf dem Berg, während er den ausschweifenden Berichten des Doktors über die Ereignisse draußen in Aveh oder einfach das Wesen der Welt lauschte; er sog jede Neuigkeit mit Faszination in sich auf, als könnte es ihm helfen, die Leere in seinem Gedächtnis zu füllen.
Von Citan hatte er auch die grundlegenden Techniken des waffenlosen Kampfes erlernt, obgleich ihm der Doktor nicht viel hatte beibringen müssen; Fei besaß ein erstaunliches Talent und führte jede Bewegung mit überwältigender Behändigkeit und Präzision aus. Es war, als hätte er sein Leben lang die Kunst des Kampfes praktiziert, ein weiterer Grund, weshalb er besser nicht weiter über seine Vergangenheit nachdenken wollte; die Tatsache, dass er es wahrscheinlich mit einer ganzen Gruppe der Bewohner Lahans hätte aufnehmen können war ihm nicht gerade behaglich.
Während der letzten hundert Meter führte der Pfad über einen munter dahinschnellenden Bach, der im Lauf der Jahre seinen Weg durch das Gestein gegraben hatte. Das sanfte Rauschen des Wassers tönte schon von weitem herüber, wie es über die rundgeschliffenen weißen Kiesel sprang und dem Lauf des Flussbetts folgte. Zur Linken, weit oberhalb von Citans Haus, stürzte sich ein Wasserfall donnernd in die Tiefe, ein schäumendes weißes Band in der grauen Felswand des Nordgebirges.
Eine einfache hölzerne Brücke schwang sich über den Einschnitt in der Flanke des Berges; das Holz knarrte unter Feis Füßen, als er hinüberschritt und die letzte Strecke zum Haus des Doktors zurücklegte.
Das aus grauem Stein gemauerte Haus thronte einsam und für sich auf der abgeflachten Spitze des Berges; mit seinen beiden Türmchen und dem überdimensionalen Teleskop auf einem der Türme wirkte es beinahe unwirklich, wie ein Gebäude aus einem Traum. Efeu rankte sich wie grünes Geflecht die Wände hoch, der Garten war sauber gepflegt; Yui hatte die kleine Fläche durch harte Arbeit in ein kleines farbenfrohes Paradies verwandelt.
Fei passierte eine kleine Baumgruppe, aus der fröhliches Vogelgezwitscher erklang, als er sich dem Haus näherte und die drei Stufen, die zur hölzernen Tür führten, hochstieg.
Er klopfte an und einen Moment später öffnete Yui die Tür.
"Fei," begrüßte sie ihn, "Was führt dich hierher?"
Yui war eine hübsche achtundzwanzigjährige Frau mit glattem hellbraunem Haar und immer einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
"Hallo, Yui," antwortete Fei, "Hast du Doc hier irgendwo gesehen?"
"Ich glaube, er schraubt wieder an seinem Schrott in der Werkstatt herum," seufzte sie, "Ich frage mich manchmal wirklich, wie er es schafft, andauernd dieses Zeug anzuschleppen," fügte sie mit einem resignierten Kopfschütteln hinzu.
Citan sammelte mit Leidenschaft Maschinenteile, die er irgendwo fand, und verbrachte eine Menge Zeit damit, sie zu analysieren und zu reparieren, eine Angewohnheit, die Yui mitunter in die Verzweiflung trieb.
"Lass ihm doch die Freude, Yui," entgegnete Fei aufmunternd.
"Warte nur, bis du gesehen hast, was er diesmal aufgestöbert hat, dann verstehst du, was ich meine."
"Na ja, ich denke ich werde mal sehen, was Doc diesmal wieder angestellt hat," erwiderte Fei lächelnd. "Danke, Yui."
Damit hob er die Hand zum Gruß und schlenderte um die Ecke des Hauses. Als er den Hinterhof erblickte, traute er seinen Augen nicht, angesichts des Bildes, dass sich ihm bot.
Über dem kleinen Schuppen, den Citan als seine Werkstatt bezeichnete, thronte ein gewaltiger stählerner Koloss, der auf dem Gebäude wie eine Spinne in ihrem Netz wirkte, auch wenn das Ganze eher einer Krabbe als einer Spinne ähnelte. Sechs mit messerscharfen Klauen versehene Beine ragten aus dem runden abgeflachte Rumpf der Kreatur und hatten ihre Gelenke über die Werkstatt gefaltet, sodass sich die Klauen in das Gras unter ihren Beinen bohrten.
Fei blickte zu der Maschine auf und blickte sich suchend um.
"Doc, wo steckst du?," rief er hinauf.
Anstatt einer Antwort ertönte ein Scheppern und das Krachen einer plötzlichen Explosion von der stählernen Krabbe und ein Zittern lief durch die grotesken Beine der Kreatur. Helle Funken regneten von dem Körper der Maschine herab.
Ein Fluchen ertönte von oben.
"Oh, es ist zwecklos," rief eine vertraute Stimme aufgebracht, "Warum um alles in der Welt verwenden sie so minderwertige Komponenten? Kein Wunder, dass ihre Interventions-strategie..."
"Doc! Hier bist du also!," rief Fei zu der Maschine hinauf.
Citans Kopf erschien über dem Rumpf der Krabbe. Ein erfreuter Ausdruck trat in sein Gesicht.
"Fei! Schön dich zu sehen. Was gibt's?"
"Doc, alles in Ordnung?," fragte Fei besorgt, "Was tust du da oben?"
Der Doktor blickte auf den Koloss herab und von dort zu Fei.
"Ich dachte, ich versuche, diese Landkrabbe zu reparieren," erklärte er mit einer Geste auf die bizarr verwinkelten Beine der Kreatur. "Man kann nie wissen, ob es sich nicht als nützlich erweisen könnte."
Das klang wieder typisch nach Citan; er konnte für alles einen Verwendungszweck finden, auch wenn Fei sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was Doc mit dieser Landkrabbe vorhaben könnte. Der Gedanke war einfach zu absurd, ihn in diesem Ding ins Dorf reiten zu sehen. Er konnte sich bei der Vorstellung ein Lächeln nicht verkneifen.
Citan ließ sich nicht beirren und fuhr fort mit seiner Ausführung.
"Ach ja, und die Explosion gerade war nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Das geht die ganze Zeit so!," lachte er laut.
"Wo hast du dieses... Ding gefunden?," fragte Fei, "Du hast wirklich ein Talent, über die seltsamsten Geräte zu stolpern."
"Hm, um genau zu sein, eben das ist passiert. Ich bin gestern im Wald darauf gestoßen, wo es offensichtlich zurück gelassen wurde, nachdem es einen Modulschaden in der primären Energieversorgung erlitten hat. Ich habe sie gerade so weit in Stand setzen können, um sie hier hinauf zu schaffen." Er wandte sich von der Krabbe ab.
"Könntest du noch einen Moment warten?," sagte er, "Ich bin fast dabei, für heute Schluss zu machen." Er machte eine kurze Pause. "Ah, da fällt mir ein, in der Werkstatt ist etwas Interessantes. Warum siehst du es dir nicht inzwischen an? Die Tür ist offen."
"Okay, Doc, ich seh' dich dann," rief Fei zu Citan hinauf, der bereits wieder im Cockpit der Landkrabbe verschwunden war.

Er wandte sich zur Werkstatt um und überlegte, während er die Tür öffnete, die mit einem lautstarken Quietschen protestierte, was Doc denn sonst noch gefunden haben könnte.
Es war dunkel in der Werkstatt, bis auf einige Sonnenstrahlen, die durch die getrübten Fensterscheiben einfielen, doch Fei bemerkte sofort die goldverzierte Kiste, die im Zentrum des Raumes auf einer Art Podest stand. Er öffnete ein Fenster, um mehr Licht herein zu lassen. Das Metall blitzte im Licht der Sonne und in einer Ecke der Kiste wurde eine kleine gravierte Inschrift sichtbar.

Zum Segen der Geburt meiner Tochter... Mögen all die Liebe, Mut und Träume dieser Welt dein sein.

Er wusste nicht, was diese Botschaft bedeuten sollte; war es etwa das, was Citan ihm hatte zeigen wollen? Doch dann entdeckte er direkt neben der Inschrift einen kleinen goldenen Hebel. Ohne nachzudenken, betätigte er den Schalter.
Ein Knirschen und Rasseln ertönte aus dem Inneren des Kastens und mit einem Ruck schwangen alle vier Seitenwände auf und offenbarten eine schneeweiße Engelsstatue, die sich langsam drehte und dabei begann, dem Objekt leise sanfte Musik zu entlocken.
Fei war wie hypnotisiert von den bezaubernden Klängen einer Melodie, die uralt zu sein schien und doch gerade erst aus seinem Herzen entsprungen; traurig und hoffnungsvoll zugleich. Tief in den hintersten Regionen seines Bewusstseins schien sich etwas lange verloren Geglaubtes zu regen und leise gegen die dunkle Mauer des Vergessens zu pochen, gerade genug, um sich bemerkbar zu machen, ohne jedoch die ersehnte Erinnerung hervorzurufen.
Er war derart gefesselt, dass er nicht bemerkte, wie Citan den Raum betrat.
"Erstaunlich, nicht wahr?," ließ er vermelden. "Tut mir leid, dass ich dich warten gelassen habe."
Fei blickte zurück und sah Citan in der Tür stehen. Er war neunundzwanzig, das schwarze Haar, das lose zusammengebunden über seine rechte Schulter fiel, bereits grau durchzogen. Seine Haut war heller als der bronzene Ton der meisten Einwohner Avehs, als hätte er seine Wurzeln nicht in Feis Heimat. Sein Gesicht war gezeichnet von den Spuren vergangenen Kummers und Leides, die Erinnerung jemandes, der Schreckliches miterlebt hatte, auch wenn dieser Eindruck unter seinem Lächeln und den lebhaft durch die Brille blitzenden Augen schwand.
Gegen das helle Tageslicht von draußen zeichnete sich seine Silhouette scharf ab und erinnerte an die Statur und Pose eines ehemaligen Fechters. Über der hellen Hose trug er, wie eigentlich immer, einen tiefgrünen Mantel, der ein wenig an eine Uniform erinnerte, auch wenn weder Ähnlichkeit zu den Uniformen der Armee Avehs bestand noch zu der Kislevs. Dieser Eindruck wurde noch von der roten Schärpe verstärkt, die den Mantel eng zusammenhielt.
"Ich... habe diese Melodie schon irgendwo einmal gehört...," sagte Fei mit leiser Stimme.
"Musik ist eine rätselhafte Sache," antwortete Citan, "Manchmal ruft sie unerwartete Gefühle hervor... Gedanken, Emotionen, Erinnerungen, die man beinahe vergessen hat... Ganz gleich, ob man sich an diese Dinge zu erinnern wünscht oder nicht..."
Fei starrte weiterhin auf den Engel, ihm war, als hätte er noch nie etwas derart Schönes gesehen. Die Töne, die sanft durch den Raum schwebten schienen ihn eigenartig zu berühren.
"Was ist das, Doc?," fragte er verwundert.
"Es wurde in einer alten Ausgrabungsstätte gefunden. Ich bin immer noch dabei, es zu reparieren. So wie es aussieht, handelt sich um eine Art Audiogerät.
Vor langer Zeit haben Menschen dieser Melodie gelauscht, so wie wir es jetzt gerade tun... Manchmal hat sie sie vielleicht mit Glück erfüllt... oder ein anderes Mal zum Weinen gebracht..."
Fei schwieg. Er wusste nicht, wie er das Gefühl beschreiben sollte, das ihn durchlief; er vermochte einfach nicht, den Blick von diesem strahlenden Engel zu wenden, wie er sich langsam im einfallenden Licht drehte, als wäre er von einem himmlischen Lichtstrahl beschienen.
"Übrigens, was hat dich heute hier her geführt?"
Fei war dankbar, als Citan das Thema wechselte. "Ach ja, ich hätte fast darauf vergessen," wurde ihm schmerzlich bewusst. Es wäre ihm äußerst unangenehm gewesen, Alice zu enttäuschen, indem er vergessen hätte, weswegen er eigentlich gekommen war. "Alice hat mich gebeten, deine Kameraausrüstung auszuborgen," antwortete er.
"Ah, ihre Hochzeit ist ja bereits morgen, nicht wahr?," bemerkte der Doktor, "Nun, dann sollten wir uns besser beeilen." Er überlegte kurz, während er sich die Brille zurecht rückte. "Hm, ich glaube, das Abendessen müsste bald bereit sein. Würde es dir etwas ausmachen, zu bleiben?"
"Ich hatte gehofft, dass du fragen würdest. Du glaubst doch nicht, dass ich mir die Gelegenheit entgehen lassen würde?" Yui war die beste Köchin, die Fei sich vorstellen konnte und so hatte er absolut nichts gegen Citans Vorschlag einzuwenden.
"Ich muss draußen noch ein wenig aufräumen," sagte Citan mit einem schuldbewussten Lächeln, "Die Reparaturen liefen nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Warum gehst du nicht schon einmal voraus und leistest Yui und Midori etwas Gesellschaft?"
"Okay, Doc, lass dir nur Zeit. Ich geh' dann schon mal und fange an, sobald das Essen bereit ist."
"Geh nur," lachte Citan, "aber mach mich nicht verantwortlich, wenn du Magenschmerzen von Yuis Kochkünsten bekommst."
"Hey, ich doch nicht," meinte Fei und wandte sich zum gehen. Vor der Tür drehte er sich noch einmal um. Die Töne, die der weiße Engel aussandte, hingen noch immer wie unsichtbar im Raum. Es widerstrebte ihm, sich von der Melodie zu entfernen.
"Doc... Es ist seltsam dieser Musik zuzuhören. Es erfüllt mich mit solcher Wärme..."
"Das mag vielleicht daran liegen, dass jemand in deinem Inneren lebt... und vielleicht hat er diese Musik auch geliebt, bevor er ein Teil von dir wurde..."
Fei wusste keine Antwort darauf. Er begriff nicht, was Doc ihm damit sagen wollte, aber er fühlte, dass er nicht mehr Auskunft erhalten würde. Schweigend verließ er die Werkstatt und ging zurück zum Haupthaus.
Citan blickte ihm nachdenklich nach.
"Ist Timothys und Alice' Hochzeit wirklich schon morgen...?," überlegte er, "Vielleicht ist es tatsächlich besser für ihn, ein normales Leben zu führen, in seinem Zustand. Als ein Sohn von Menschen..."
Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als plötzlich die Musik, die die ganze Zeit über leise im Hintergrund erklungen war, schlagartig verstummte und von unheimlicher Stille abgelöst wurde. Citan wandte sich zu dem erstarrten Engel um und wurde Zeuge, wie haarfeine Risse durch die Statue liefen und den weißen Marmor erzittern ließen, ehe sie mit einem Klirren, als wäre die Zeit selbst zerbrochen, in tausend Stücke zersplitterte. Er blickte erstarrt auf die Scherben, die durch die gesamte Werkstatt geschleudert worden waren.
"Unmöglich...," flüsterte er, "Ist... ist das... ein Omen...? Was wird jetzt geschehen...?"

"Nun, was gibt es neues in Lahan?," erkundigte sich Yui, "Ich nehme an, die Vorbereitungen für morgen sind in vollem Gang?"
"Es gibt kaum mehr ein anderes Gesprächsthema," antwortete Fei, während er nach einem weiteren Stück Wildbraten langte. Yui hatte sich tatsächlich wieder einmal selbst übertroffen.
"Allerdings mache ich mir ein wenig Sorgen wegen Dan. Er scheint nicht allzu glücklich zu sein, dass seine Schwester ausgerechnet Timothy heiratet."
"Er wird sich schon daran gewöhnen. Du weißt, er braucht immer etwas mehr Zeit, um Veränderungen zu verkraften," entgegnete Yui.
Fei nickte zustimmend; er wusste nicht, was nach dem Tod ihrer Eltern aus Dan geworden wäre, wenn nicht Alice den Unfall überlebt hätte. Er mochte nicht den Eindruck machen, doch im Grunde genommen war Dan ein äußerst sensibler Junge, besonders wenn es um seine ältere Schwester ging.
"Und, werdet ihr morgen auch kommen?," fragte er.
"Was für eine Frage! Natürlich werden wir dabei sein," antwortete Citan, "Wir sind ja praktisch selbst Einwohner von Lahan; außerdem, wir können doch nicht die Hochzeit unserer Freunde verpassen, nicht wahr, Yui?"
Sie stimmte ihm zu. Midori lächelte nur schüchtern. Sie war etwa zehn Jahre alt und Yui wie aus dem Gesicht geschnitten, doch sie hatte nichts von der Redseligkeit ihrer Mutter. Fei konnte sich nicht entsinnen, jemals bewusst ein Wort von ihr gehört zu haben.
"Danke für eure Gastfreundschaft," sagte Fei, als er sich schließlich verabschiedete. "Yui, du schaffst es immer wieder, mich zu beeindrucken."
"Keine Ursache. Du weißt, dass du jederzeit hier willkommen bist."
"Ich werde die Geräte, die ihr braucht, morgen selbst vorbeibringen," meinte Citan. "Ich fürchte, mir ist nicht allzu wohl dabei, dir so empfindliche Geräte anzuvertrauen."
Fei zog überrascht eine Augenbraue hoch. "Wo habe ich diesen Satz bloß schon gehört?," sinnierte er. "Nun, mir soll es recht sein, Doc.
Ich seh' euch dann also morgen. Gute Nacht, Yui, Midori!"
"Gute Nacht, Fei," verabschiedete sich Yui, "Wir freuen uns auf die Hochzeit morgen." Midori blieb stumm und winkte nur kurz.
Fei und Citan traten ins Freie. Die Dämmerung war bereits aufgezogen und eine kühle Brise wehte von den Bergen her. Es war still, bis auf das einsame Zirpen einer Grille und am Firmament funkelten Milliarden von Sternen hell und klar. Der zunehmende Mond stand dicht über der schattenhaften Gebirgskette und tauchte die Umgebung in ein sanftes milchigweißes Licht.
Sie blickten eine Weile über das Land, bis der letzte blasse Schimmer des Tageslichts im Westen verschwunden war. Die hellen Lichter der Häuser, die sich im Schatten des Tals dicht aneinander drängten, erglühten nach und nach, wie ein Schwarm winziger Glühwürmchen.
"Also, gute Nacht, Doc," verabschiedete sich Fei schließlich.
"Gute Nacht," erwiderte Citan, "und... sei vorsichtig. Ich meine, der Pfad ist tückisch, wenn es so dunkel ist," fügte er hinzu.
"Was ist los, Doc?," fragte Fei verwirrt, "Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Also, wir sehen uns!"
Damit kehrte er dem Haus den Rücken zu und machte sich auf den Rückweg.
Als er die Brücke erreicht hatte, hielt er inne. Eine bedrückende Stille war völlig unvermittelt eingetreten, das sanfte Wispern des Windes in den Bäumen mit einem Mal verstummt; Nachtigall und Grillen hatten abrupt ihr Konzert beendet, selbst das Rauschen des Flusses wirkte gedämpft, wie in weite Ferne entrückt. Es war, als hielte die Natur selbst ihren Atem an. Ein anschwellendes Rauschen erklang aus der Ferne, das schließlich in grollenden ohrenbetäubenden Maschinenlärm überging. Er fuhr herum und sah eine Gruppe menschenähnlicher Giganten, nachtschwarz vor dem sternübersäten Firmament, über den Himmel über dem Berg rasen, einen weißglühenden transparenten Feuerschweif hinter sich herziehend. Sie schossen direkt über Feis Kopf hinweg, sodass sich die Bäume im Sturmwind bogen und verschwanden in Richtung der Siedlung.
Er wandte sich um, als er Schritte den Berg hinab stürmen hörte und erblickte Citans Silhouette, der auf ihn zulief.
"Doc! Eine Gruppe fliegender Objekte ist in Richtung Lahan unterwegs!," rief er ihm entgegen.
"Du hast sie also auch gesehen," antwortete Citan, "Nach ihren Umrissen zu urteilen, handelt es sich um Gears von unserem Nachbarland Kislev."
"Das waren... Gears?" Fei hatte mehrmals von den riesenhaften Kampfrobotern gehört, ohne jedoch jemals eines mit eigenen Augen gesehen zu haben.
"Was suchen sie hier?," fragte er.
"Oh mein Gott!," rief Citan entsetzt anstatt einer Antwort aus. Fei folgte seinem Blick.
Über dem Dorf regnete Feuer vom Himmel. Flammen stiegen gen Himmel empor und ließen die schemenhaften kämpfende Schatten dazwischen scharf hervortreten.
"Nein...," flüsterte er ungläubig, ehe er mit einem Schrei den Pfad hinabrannte, ungeachtet der Rufe Citans; auf die Siedlung zu. Verzweiflung stieg in ihm auf, eine Hilflosigkeit, die ihm die Tränen in die Augen trieb. Er wusste nicht, was er glaubte, gegen die wütenden Giganten unternehmen zu können, doch er konnte die Bewohner des Dorfes nicht einfach im Stich lassen, er durfte nicht zu spät kommen.
Fei rannte, dass ihm die Muskeln schmerzten, er lief mit einer Geschwindigkeit, die ihm nur die schiere Verzweiflung ermöglichte, sodass er die halbstündige Strecke in knapp zehn Minuten bewältigt hatte. Der Anblick, der sich ihm bot, als er die kleine Ansammlung von Häusern erreichte, ließ ihm das Herz zusammenkrampfen. Die drei Jahre, alles, was ihm wichtig gewesen war, waren mit einem Schlag zunichte, als er endgültig von seiner unbekannten Vergangenheit eingeholt wurde.
Lahan, die einzige Heimat, die Fei je gehabt hatte, stand lichterloh in Flammen.

pute703
05.02.2003, 05:45
II
Gefallene Schatten

Über Jahrhunderte waren die Schlachten zwischen Aveh und Kislev ohne Entscheidung geblieben, ständige Wechsel in den Machtverhältnissen kennzeichneten die sich endlos dahinziehenden Gefechte.
Bis zur Entdeckung der Ruinen einer uralten Zivilisation durch den Ethos vor wenigen Jahren. Diese religiöse Organisation, deren Aufgabe in der Bewahrung der Kultur der Welt und dem Schutz der Bevölkerung bestand, hatte die Oberaufsicht über sämtliche Maschinen und Waffen, die aus den Ausgrabungsstätten geborgen wurden.
Die Technologien, die auf beiden Seiten der verfeindeten Länder entdeckt wurden, wurden dem Ethos ausgehändigt, der sie für das jeweilige Reich reparierte und in Stand setzte. Ein Wettlauf um die Ruhestätten der untergegangenen Zivilisation begann, jede Seite nur darauf bedacht, mit Hilfe der unter der Erde lagernden Waffen seine eigene militärische Macht zu erhöhen.
Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich erstmals eine dauerhafte Veränderung im Verlauf des Konflikts ab und mit der Zeit errang das nördliche Reich Kislev die Oberhand, bedingt durch den enormen Unterschied in der Menge der Ausgrabungen. Zuerst schien es, als könnte Kislev den Krieg nun endlich für sich entscheiden, doch bald trat eine neue Streitmacht auf den Plan.
Eine mysteriöse militärische Organisation unter dem Namen Gebler erschien praktisch aus dem Nichts und verbündete sich mit Aveh. Mit der Unterstützung der Streitkräfte Geblers wurde Kislev in seinem Vormarsch allmählich aufgehalten und binnen kurzer Zeit erfolgreich zurückgeschlagen. Seine neu errungene Position ausnutzend, begann Aveh ein Gebiet Kislevs nach dem anderen zu erobern, ohne auch nur irgendein Anzeichen von Stillstand in ihrem Invasionsfeldzug zu zeigen...

* * *

Ungläubig starrte Fei auf das Inferno, das in seinem Heimatdorf tobte. Die Gebäude waren in züngelnde Flammen gehüllt; in einiger Entfernung konnte er erkennen, wie die einst stolzen Flügel der Mühle vom Feuer verzehrt wurden und die mächtigen Balken herabstürzten. Eine unheimliche Stille lag über Lahan, einzig das Prasseln des Feuers tönte herüber, Geräusche von berstendem Holz und über all dem das ständige Krachen von Metall auf Metall.
Fei versuchte, den Flammenvorhang mit den Augen zu durchdringen, doch außer dem steten Wogen des Feuers konnte er nichts erkennen. Erst als sein Blick etwas nach rechts wanderte, vermochte er gegen den hellen Schein der Flammen, etwas abseits von den brennenden Häusern, zwei vertraute Gestalten wahrzunehmen.
"Alice! Timothy!," rief er erleichtert, während er auf sie zurannte. "Ihr seid also in Sicherheit. Was ist mit den anderen?"
"Fei!," rief ihm Alice entgegen. "Doktor Uzuki?!"
Fei wandte sich um und bemerkte jetzt erst Citan, der ihm dicht gefolgt war. Jede Spur des gutmütigen, leicht exzentrischen Doktors war aus seinen Zügen verschwunden, stattdessen war sein Blick von tiefem Ernst und Sorge erfüllt – und von etwas, das Fei nicht ganz deuten konnte, wie der Ausdruck von jemandem, der sich einer lange verschwundenen Wirklichkeit gegenüber sah.
"Doktor! Sie sind einfach aus dem Nichts aufgetaucht und geradewegs in unserem Dorf gelandet!," rief Timothy mit einer aufgeregten Geste in Richtung der immer noch kämpfenden Schatten, die Lahan offenbar als Schlachtfeld erkoren hatten.
"Ich weiß," antwortete Citan leise. "Was in aller Welt denken sie sich dabei, hier ein Gefecht zu beginnen...?!" Er warf einen Blick in die Runde. "Sind alle in Ordnung?"
"Ja," berichtete Alice, "Die meisten sind sofort aus dem Dorf geflohen und haben sich in sichere Entfernung zurückgezogen ...Falls es hier irgendwo noch sicher ist," fügte sie mit einem zweifelnden Blick hinzu.
"Warum seid ihr noch hier?," fragte Fei, "Warum seid ihr nicht...?"
"Es ist Dan...," erklärte Alice, "Wir können ihn nicht finden!"
"Ich werde noch einmal nach ihm suchen," sagte Timothy so beruhigend, wie es ihm angesichts der Situation möglich war. "Alice, geh voraus und bring dich in Sicherheit."
"Nein, warte, Timothy," hielt ihn Citan zurück, "Du, Alice und die anderen solltet euch an einen sicheren Ort zurückziehen und..."
"Doc, du weißt, dass ich Dan nicht einfach hier zurücklassen kann!"
"Timothy...," lenkte Alice beschwichtigend ein.
"Ich kann verstehen, wie du dich fühlst," entgegnete Citan, "aber überlass den Rest Fei und mir. Ihr solltet vor allem anderen auf eure eigene Sicherheit bedacht sein... Timothy, es ist jetzt deine Verantwortung, Alice zu beschützen."
"Aber..."
"Doc hat recht," meinte Fei, "Ihr beide solltet zusehen, dass ihr das Dorf verlasst, ehe sich das Feuer weiter ausbreitet. Macht euch keine Sorgen wegen Dan. So wie ich ihn kenne, ist er bereits draußen und wartet auf euch."
"...Ich schätze, du hast recht...," erwiderte Timothy zögernd. "Okay! Alice, lass uns gehen und die anderen von hier weg bringen."
"In Ordnung," stimmte Alice schließlich zu. "Danke, Doktor. Aber... Fei, bitte sieh, ob du Dan finden kannst."
"Ja, mach dir keine Sorgen. Sollte er tatsächlich noch hier sein, werde ich alles tun, um ihn zu retten."
"So, und jetzt beeilt euch besser," sagte Citan mit einer Dringlichkeit in seiner Stimme, die Fei noch nie bei ihm erlebt hatte.
Die beiden nickten, wandten sie sich ab und gingen schweigend davon.
"Ich werde in den Häusern nachsehen, ob jemand zurückgeblieben ist," wandte Citan sich nun an Fei, "Fei, kontrollier du die Wege und evakuiere das Dorf, falls sich noch jemand hier aufhält."
"In Ordnung," antwortete er, "Aber Doc... Sei vorsichtig."
"Ja, du auch," erwiderte Citan und schritt in das Dorf hinein, bis die Flammenhölle seine stolze Silhouette verschlungen hatte.
Fei nahm sich zusammen und betrat den Dorfweg. Flammen leckten gierig an den steinernen Wänden der Häuser, glühende Funken wehten im Wind über den Weg. Der Boden erzitterte unter den stählernen Füßen der kämpfenden Gears und der Donner ihrer Geschütze hallte über das Dorf. Er fuhr zusammen, als hinter ihm ein hölzerner Dachbalken herabstürzte und am Boden in brennende Splitter zerbarst. Die Hitze war beinahe unerträglich und bereits nach wenigen Metern, die er sich durch das flammende Inferno gekämpft hatte, fiel ihm der Atem schwer.
Er sah zurück, den Weg hinauf. Es war zwecklos; wenn tatsächlich noch jemand hier war, so war es unmöglich, ihn in diesem Chaos aufzuspüren.
Warum mussten sie ausgerechnet hier ihre Auseinandersetzung austragen, fragte er sich immer wieder, der Kontinent war so groß, warum konnten sie nicht einfach in Frieden nebeneinander leben? Und wenn ihnen dies schon nicht möglich war, warum mussten sie ein kleines Dorf wie Lahan, das keinen Anteil an ihrem Streit hatte, in ihren Konflikt hineinziehen?
Das Knattern eines Maschinengewehrs riss ihn aus seinen Gedanken. Projektile von der Größe seiner Faust schlugen in die Mauer des Gebäudes hinter ihm und ließen die letzten Reste des Hauses in sich zusammen stürzen. Fei hechtete unter den herabfallenden Trümmern weg, als eine weitere verirrte Salve direkt neben ihm in den Boden schlug und ihn von den Beinen und einige Meter zu Seite fegte.
Als er den Kopf hob und sich langsam aufrappelte, fand er sich am Rand eines der an Lahan anschließenden Felder wieder; Flammen huschten hier und da über die schwelende verbrannte Erde. Fei wich zurück, als er den Schatten erblickte, der keine zehn Meter von ihm entfernt in den Himmel aufragte.
Es war ein Gear, zweifellos, doch es unterschied sich markant von den anderen, die er vom Berg aus gesehen hatte. Es war von majestätischer menschenähnlicher Gestalt und mochte etwa fünfzehn Meter messen, schlank und athletisch gebaut, den Kopf, der das Cockpit in sich barg, mit stolzem Blick auf Fei gerichtet. Wuchtige gefächerte Metallplatten wuchsen wie Flügel aus seinem Rücken, zwischen denen die Thruster lokalisiert waren; die Krallen der beiden Ether-Kanonen schwangen sich wie tödliche Klauen um die Arme des Gears.
Das nachtschwarze Metall schimmerte matt im Feuerschein und ließ den Giganten wie einen zum Leben erwachten Dämonen erscheinen. Er war auf ein Knie herabgesunken, die typische Landestellung eines Gears, die Brustplatte war geöffnet und offenbarte den Zugang zum Cockpit.
Die Zeit schien still zu stehen, als er wie gebannt auf die imposante Gestalt des offensichtlich verlassenen Gears starrte, ihm war, als riefe ihm eine Stimme aus der Maschine zu, der er nur zu folgen brauchte...
Ein hohles metallisches Pochen hallte herüber, als langsam und bedächtig das Verdeck des Cockpits aufschwang und nach und nach den Blick ins Innere frei gab.
Fei zuckte zusammen, als er die Gestalt sah, die ihm aus den schwarzen Tiefen des Schädels des Kampfroboters entgegenblickte. Ein silbernes Kreuz, gekrönt mit einem feurigen blutroten Rubin im Zentrum schwang wie eine Sichel vor seinem inneren Auge vorbei, wie das Pendel einer Uhr, das ihm bedeutete, dass er keine Zeit verlieren durfte.
Dann wurde die Sicht plötzlich erschreckend klar und Fei blickte der Gestalt direkt in die Augen. Das Gesicht wirkte seltsam vertraut, obwohl es großteils vom pechschwarzen, leicht rötlich schimmernden Haar, das wild nach vorne sprang, verdeckt wurde, doch er konnte ohne jeden Zweifel erkennen, das er sehr jung war, nicht älter als sieben oder acht Jahre. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, doch es war kein fröhliches Lächeln. Was Fei in der Miene des Jungen zu erkennen glaubte, war die Freude an der Verwüstung ringsum, an der immer fortschreitenden Zerstörung, gleich ob hier oder an irgend einem anderen Ort auf Ignas oder dem gesamten Planeten, eine stille Befriedigung angesichts des Leidens und Sterbens des Lebens auf der Welt – und dessen, was danach kommen würde.
Fei blinzelte und die Vision verschwand, das Antlitz des Gears rückte wieder zurück in die Ferne und das Innere war in Dunkelheit gehüllt.
Fast ohne dass er es bemerkte, bewegte er sich auf den Giganten zu und hielt erst inne, als er bereits begonnen hatte, die stählerne Kreatur zu erklimmen. Die Berührung der eisernen Griffe unter seinen Händen, die, winzig im Vergleich zu den kolossalen Ausmaßen der Maschine, über die schwarze Oberfläche verliefen, rief ihn wieder in die Realität zurück.
Er blickte zurück auf den Boden, bereits ein gutes Stück unter seinen Füßen und überlegte einen Moment, was er hier eigentlich tat. Er blickte wieder hinauf auf das Gear. Die metallene Oberfläche, die ihm zuvor als vollkommen schwarz erschienen war, zeigte an einigen Stellen Spuren von dunklem Blau. Sein Blick wanderte weiter hinauf und blieb an der dunklen Öffnung der Brustplatte hängen, nur wenige Meter über ihm.
Citan verfolgte Feis Aufstieg mit ungläubigem Entsetzen. Eine düstere Vorahnung stieg in ihm hoch, doch es gab nun nichts mehr, was er tun könnte.
"Fei, warte!," schrie er verzweifelt hinüber, doch seine Stimme ging in dem Toben und Brausen des Feuers ringsum ungehört unter.
Fei reagierte nicht auf Citans Rufen, wahrscheinlich hatte er ihn noch nicht einmal bemerkt. Er durfte diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorüberziehen lassen; dies war die Waffe, mit der er die Dorfbewohner verteidigen konnte, mit der er das Dorf rächen konnte. Er hatte bereits zuviel Zeit verloren und er wusste nicht, wann die übrigen Gears die unbemannte Maschine bemerken würden – und ihn bei dem Versuch, hinauf zu steigen.
Während ihm all diese Gedanken durch den Kopf rasten, erklomm er die letzten Sprossen, schlüpfte durch die schmale Öffnung in der Panzerung des Gears und verschwand im dunkeln Inneren der Maschine.
Er kletterte die kurze Leiter in den Schädel des Giganten hoch und fand sich in einem engen Raum wieder. Das Kontrollpult an der Frontalwand war übersät mit Unmengen sanft glühender Kontrollanzeigen; mächtige, zuvor nicht sichtbar gewesene, gläserne Scheiben gewährten nach vorne und zu den Seiten Ausblick auf die in Finsternis gehüllte Umgebung, die einzige Lichtquelle kam von den Flammen des brennenden Dorfes und den glimmenden Dioden im Cockpit selbst.
Ohne zu Überlegen, ließ sich Fei in den Steuersessel gleiten und begann mit flinken Fingern die Sensorfelder auf dem Kontrollpult zu betätigen. Nach dem zweiten Versuch lief ein sachtes Zittern durch die Gelenke des Gears und mit einem sanften dumpfen Grollen zündete die Energieversorgung. Die beiden Platten der Brustpanzerung schwangen sanft zu und verschlossen die Öffnung, durch die Fei geklettert war. Langsam zunächst, doch schnell kontrollierter werdend, setzte sich die Maschine in Bewegung...


Die Steuerung eines Gears war komplexer, als man angesichts seiner geschmeidigen Bewegungen vermuten mochte. Die gewaltigen Kampfmaschinen waren konstruiert worden, um sämtliche Bewegungen des menschlichen Körpers nachahmen zu können, bis hin zu den waghalsigsten Manövern des waffenlosen Kampfes, weshalb sie im Notfall nicht auf Klingen oder Geschütze angewiesen waren.
Daraus resultierte das Problem, das einige wenige Kontrollen für die Steuerung der schier unbegrenzten möglichen Bewegungsabläufen der Gears ausreichen mussten, sodass ein extrem hohes Feingefühl über Sieg oder Niederlage entschied. Kein gewöhnlicher Zivilist war in der Lage, die Kampfroboter auch nur ansatzweise zu bewegen, selbst die Piloten durchliefen eine oft jahrelange Ausbildung, bis sie ihr persönliches Gear perfekt beherrschten und sich gleichermaßen wie in ihrem eigenen Körper in der stählernen Hülle der Giganten bewegten.
Fei hatte bis zu jenem Tag noch nicht einmal ein Gear zu Gesicht bekommen, doch instinktiv betätigte er die Steuerhebel nach den korrekten Mustern, als hätte er sein Leben nichts anderes getan, als den stählernen Giganten zu steuern.
Erst als er bereits einige Schritte zurück in das Dorf gewagt hatte, wurden die anderen Gears auf ihn aufmerksam und unterbrachen ihre gegenseitigen Kampfhandlungen.
Ehe er reagieren konnte, schnitten ihm zwei feindliche Maschinen den weiteren Weg ab und richteten ihre überdimensionalen Gewehre auf ihn.
Hätte Fei mehr über den Krieg und die in ihm gebrauchten Waffen gewusst, so hätte er in ihnen die Standard-Gears der Kislev-Armee erkannt, von überwiegend weißer Farbe und eher zweckmäßigem klobigem Bau.
Die Mündungen der Geschütze spuckten Feuer und die Projektile zischten haarscharf an der Panzerung des Gears vorbei. Fei hechtete zur Seite, als ein zweiter Schuss fiel. Die Reflexe des schwarzen Gears reagierten, als wären es seine eigenen, doch einer der Schüsse erreichte sein Ziel und schlug in den linken Arm des Giganten.
Fei spürte nur ein geringes Erzittern in der Maschine, die Statusanzeigen schienen den Schaden nicht einmal wahr zu nehmen. Die Panzerung des Gears schien extrem robust, doch selbst auf diese Weise würde er einem Gefecht gegen einen zahlenmäßig überlegenen Feind nicht lange standhalten.
Es war alles so einfach, als er auf die knochenbleichen Maschinen losstürmte; in einer fließenden Bewegung verpasste er dem ersten einen hochangesetzten Tritt gegen den Schädel, der ihm das Gewehr aus den Klauen fegte und ihn rückwärts sandte, und ließ das stählerne Bein seines Gears in den anderen gegnerischen Koloss krachen, dass metallene Splitter in alle Richtungen davonflogen und die weiße Gestalt von der Wucht des Schlages zu Boden geworfen wurde, wo sie reglos liegen blieb.
Noch in der selben Bewegung vollführte er eine beinahe elegante Drehung in Richtung des ersten Gears, das sich bereits wieder erhoben hatte, und versetzte ihm eine Serie von stahlharten Faustschlägen gegen das Cockpit, ließ all seine Wut und seinen Schmerz angesichts der rücksichtslosen Zerstörung seiner Heimat in die Attacke fließen, bis das feindliche Gear knirschend in die Knie sank und im Sturz eine der brennenden Ruinen Lahans mit sich riss.
Fei hielt keuchend inne. Er fühlte sein Herz in der Brust rasen, als der Blutrausch in seinen Adern aufwallte und sein gesamtes Bewusstsein zu füllen schien und es kostete ihn enorme Konzentration, sich unter Kontrolle zu halten.
Nach einer Weile hob er den Kopf, um die Lage zu erfassen – und blickte direkt ins Antlitz eines weiteren knochenweißen Gears. Ein Blick in die Runde verriet ihm, dass er eingekreist war, von mindestens vier weiteren Kampfrobotern, die wie eine Horde bleicher Skelette auf ihn zu marschierten.
Er blickte sich gehetzt um, verzweifelt nach einem Ausweg suchend, doch die anrückenden Angreifer ließen keine Lücken erkennen, drohend ihre Gewehre auf Fei gerichtet, falls er auch nur die geringste Bewegung wagen sollte.
Eine Bewegung hinter den hellen Gestalten der feindlichen Maschinen zog seine Aufmerksamkeit auf sich.
Das Gear, dass sich mit bedächtigen würdevollen Schritten durch die zerstörte Siedlung näherte, hatte ohne jeden Zweifel das Kommando über die restliche Einheit, eine hochgewachsene schlanke Gestalt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Giganten besaß, den Fei steuerte.
Seine Panzerung war schwarz wie eine mond- und sternlose Nacht, nicht wie das sanfte beruhigende Schwarz des Gears, das Fei gekapert hatte, sondern eine radikale alles verschlingende Finsternis, ein Riss im Raum, der einen direkten Blick in die Abgründe der Hölle gewährte. Ein einziger orangeroter Schein leuchtete düster auf der Brust des stählernen Kolosses, ein Hohn auf jedes reale Licht, das die Finsternis nur noch weiter zu verdichten schien. Das dämonische Haupt war gekrönt von einem einzelnen metallenen Horn, die Schultern, die massiven Beine, die wuchtigen Arme waren übersät mit gewaltigen rasiermesserscharfen Klingen an den Gelenken, aus dem Rücken der Kreatur schossen ein Paar mächtiger speerartiger Platten, die in steilem Winkel seitlich abstanden, wie eiserne gefaltete Schwingen.
Der Gigant war unbewaffnet, doch Fei zweifelte nicht daran, dass er im Stande war, sein eigenes Gear mit einem Schlag in Stücke zu schmettern. Eine Welle der Furcht ging von dem diabolischen Koloss aus, er schien all die anderen Maschinen zu überragen und erweckte mit seinen leicht gespreizten flügelartigen Stahlplatten den Eindruck eines gefallenen Engels, eines Gesandten aus der Hölle.
Ein eisiger Schauer durchlief Fei bei dem Anblick, doch er kämpfte das Verlangen nieder, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen. So weit er festgestellt hatte, waren die Thruster des Gears defekt, weshalb ihm der Weg durch die Luft verwehrt blieb und jeder andere Versuch zu entkommen war zwecklos.
"Verstärkung, huh?," sagte er leise zu sich selbst. "Ich schätze... mir bleibt keine andere Wahl... als zu kämpfen..."
Er straffte sich und das Gear vollzog die Bewegung mit und bereitete sich auf die nächste Attacke vor.

"Fei!! Du darfst hier nicht kämpfen!," schrie Citan durch das Chaos von Flammen und splitterndem Metall. Er hatte bisher nur abwartend beobachtet und still gebetet, dass er sich getäuscht hätte, doch so wie sich die Situation entwickelte, deutete alles darauf hin, dass der Zwischenfall zu eskalieren drohte.
Ein knochenweißes Gear segelte funkenstiebend rückwärts durch die Luft und stürzte in eine Gruppe dürrer verkohlter Bäume und Gebäudereste, dass das Feuer bei dem Aufprall hell aufflammte, doch der nächste Gigant ersetzte bereits seinen Platz.
Die Art und Weise wie er kämpft... Oh nein!, schoss es ihm durch den Kopf. Das kann nicht gut gehen. Wenn 'er' hier erwacht...
Er fuhr herum, als er eine vertraute Stimme hinter sich vernahm.
"Doc!" Vom Ende des Weges, aus der Richtung seines ehemaligen Hauses kam Dan angerannt.
"Dan?!," rief der Doktor in einer Mischung aus Freude und Erschrecken aus. "Bist du in Ordnung? Was in aller Welt tust du hier?," fragte er mit leisem Vorwurf, "Weißt du nicht, wie besorgt Alice und Timothy sind?"
"Tut mir Leid, Doktor Uzuki," entgegnete er mit einer entschuldigenden Geste, "Ich hab' das Dorf schon früher verlassen, aber ich bin noch einmal zurückgekehrt..."
Erst jetzt bemerkte Citan das schimmernde Bündel in Dans Armen. "Ich konnte nicht einfach das Hochzeitskleid meiner Schwester hier in den Flammen zurücklassen...," fügte er erklärend hinzu.
Citan war ehrlich überrascht. "Du bist zurückgekommen um das Kleid deiner Schwester zu retten? Ich wusste gar nicht, dass du so ein sentimentaler Junge bist," lachte er.
"Ich... Alice hat so viel Arbeit dafür verwendet," erwiderte Dan. "Ich wollte nicht, dass ihre Mühe umsonst war."
Citan lächelte ihn wieder mit seiner gewohnten gutmütigen Miene durch seine Brille an. "Hauptsache du bist in Sicherheit," meinte er. Sein Lächeln zerfloss und er wurde wieder ernst. "Komm, lass uns von hier verschwinden, solange Fei ihre Aufmerksamkeit hat. Sieht so aus, als sind sie hinter dem Gear her, das er steuert."
Dan blickte erstaunt zu dem wütenden schwarzen Gear hinüber. Ein weiterer weißer Kontrahent lag bewegungslos am Boden und der nächste machte den Eindruck, als würde er nicht mehr lange Feis flinken Angriffen standhalten.
"Fei ist... in diesem Monster?"
"Fei ist gebunden...," antwortete Citan ohne den Blick von dem nur wenige Meter entfernt stattfindenden Kampf abzuwenden, "...vom dunklen grausamen Schicksal Gottes..."
Dan warf ihm einen fragenden Blick zu.
"Komm, Dan, wir sollten besser gehen." Citan wandte sich zum Gehen, als ein freudiger Ruf von der anderen Seite des Schlachtfelds erschallte.
"Dan!," schrie Timothy, als er zu ihnen herüber gerannt kam, "Ich wusste, dass du noch hier bist! Junge, bin ich froh, dass du okay bist..."
Es erschien Citan, als streifte ihn ein Blick aus purem Eis, als das diabolische finstere Gear den Kopf wandte und die eiserne Hand hob.
"Oh nein...,"flüsterte er. "Timothy!!"

Er erschien ihm unendlich klein, als Fei Timothy auf dem verwüsteten Platz erblickte, doch die folgenden Momente liefen mit derartiger Deutlichkeit vor seinen Augen ab, als befände er sich nur wenige Meter daneben. Die beiden verbliebenen weißen Gears hatten plötzlich von ihm abgelassen und richteten den Lauf ihrer Gewehre auf die wehrlose Gestalt unten, die sich langsam mit schreckgeweiteten Augen umblickte.
So schnell es ihm die Mechanik des Gears erlaubte, sprintete er auf die knochenweißen Maschinen zu.
"Wartet!," schrie er ihnen hinterher. "Nicht schießen! Diese Leute haben nichts mit euch zu tun!"
Er wäre beinahe mit den beiden scheinbar aus dem Nichts erschienenen Gears kollidiert, die ihm den Weg zu versperren suchten.
"Aus dem Weg, ihr Hunde!," schrie er unter Verzweiflung, "Aufhören, sag' ich. Aufhören! Timothy!!"
Es schien ihm wie ein unendlich langer Moment, als liefe die Welt um ihn plötzlich in Zeitlupe ab, als er aus dem Augenwinkel bemerkte, wie der dunkle Anführer die Hand mit einem befehlenden Wink senkte. Undeutlich durch einen Schleier von Tränen sah er, wie die Projektile sich schnurgerade ihren Weg auf ihr Ziel zu bahnten, gnadenlos und unaufhaltsam, er konnte nichts tun, als ohnmächtig und tatenlos zuzusehen. Wie aus weiter Ferne und dennoch unerträglich laut in seinem Kopf widerhallend vernahm er den erstickten Schmerzensschrei, als die Kugeln Timothys Brustkorb durchschlugen und ihn rückwärts schleuderten.
Wie um ihr Versäumnis nachzuholen, setzte sich die Zeit rasend schnell wieder in Bewegung. Ihm schien das Herz in der Brust stehen zu bleiben, als er den winzigen reglosen Körper seines besten Freundes erblickte, der Schmerz schien ihm die Kehle zuzuschnüren; er meinte an seiner eigenen Hilflosigkeit zu ersticken.
Die Welt um ihn, die Überreste seines Dorfes, das Innere des Cockpits, alles schien in undurchdringlichem Nebel zu verschwimmen. Wut und Hass wallten aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervor und rissen alle anderen Gedanken mit sich, gleich einer Flutwelle, die sich durch seine Seele ergoss und für einen Moment konnte er jenes Gefühl wahrnehmen, wie eine uralte Erinnerung an die Zeit vor Lahan, das Gefühl des absoluten und ungezügelten Hasses, des unsterblichen Wunsches nach Rache und Zerstörung.
Dann wurde ihm der Boden des Bewusstseins unter den Füßen fortgerissen und er fühlte wie sich der Ether um ihn verzerrte, fühlte nur noch den nicht enden wollenden Fall, den Fall aus seinem eigenen Selbst. Das messerscharfe Bild des schwingenden silbernen Kreuzes vor seinem Inneren Auge war das letzte, was er sah, ehe die alles verschlingende Dunkelheit ihn umfing und die Verbindung zu ihm selbst trennte...

Er lag auf dem Rücken und fühlte die Wärme der Morgensonne auf seiner Haut, als er wieder zu sich kam. Der Wind wisperte verstohlen im Geäst irgendwelcher nahestehenden Bäume und vereinzelt drang der flinke Flügelschlag munterer Vögel zu ihm herüber, begleitet von ihrem lebensfrohen Gesang.
Fei ließ die Augen geschlossen und genoss die friedliche Stille ringsum, das Gefühl des weichen Grases unter seinen Händen. Sein Schädel dröhnte, als hätte eine höhere Macht ihn als Hammer für einen kosmischen Amboss missbraucht und er war unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Über dem Hintergrund des dunklen wogenden Chaos, die einzige Konstante vor den in wahnsinnigem Tempo in flirrenden Farben zerfließenden Erinnerungsfetzen in seinen Kopf, schwebte einzig, scharf und dennoch unerreichbar, wie ein Trugbild eine schattenhafte menschliche Gestalt, doch zu kantig, mit Klauen und Stahlplatten besetzt, und mit durchdringenden weißglühenden Augen.
"Gear," schoss es ihm durch den Kopf, ohne dass er den Begriff zuzuordnen vermochte. Er blinzelte benommen gegen das grelle blendende Tageslicht, um das verstörende Bild aus seinem Bewusstsein zu vertreiben und hob langsam den Kopf.
Als sich der schwarze Schleier vor seinen Augen verzogen hatte, um lediglich einige tanzende Lichtpunkte zu hinterlassen, blickte er in das gutmütige Gesicht Citans, der besorgt, doch die Augen von seltsamem Ernst erfüllt, auf ihn hinabsah.
"Du bist also endlich zu dir gekommen...," bemerkte Citan mit dem leisen Anflug eines Lächelns.
Fei richtete sich behutsam auf und warf einen Blick in die Runde. Er befand sich am grasbewachsenen Fuß des Berges, nicht weit vom Pfad entfernt, der hinauf zum Anwesen des Doktors führte. Ein paar vereinzelte Bäume wuchsen in kleinen Grüppchen verteilt auf dem sanften Hang und reckten trostlos ihre trockenen dünnbelaubten Äste gen Himmel. Fei meinte Brandspuren an dem dürren Holz zu erkennen und überhaupt war von der frühlingshaften Idylle des vergangenen Tages nichts mehr geblieben. Jetzt wo er darauf achtete, schienen selbst die sonst unermüdlich umherschwirrenden Insekten den Atem angehalten zu haben. Die Luft war von Totenstille erfüllt.
In einem Halbkreis um den Doktor herum standen in respektvollem Abstand eine traurige Handvoll Dorfbewohner und verfolgten misstrauisch mit vorwurfsvollen Blicken jede seiner Bewegungen. Und hinter ihnen...
"Was zum...," entfuhr es ihm, als er sich vollends erhoben hatte und auf wackeligen Beinen auf dem weichen Untergrund des hohen Grases Halt zu finden suchte und der schlanke gezackte Umriss zur Gänze in sein Blickfeld trat, "Wie kommt dieses... Ding... hierher? Doc, was ist passiert?"
Erst jetzt wurde er sich der eigentlichen Leere in seiner Erinnerung bewusst; alles, was seit seinem Besuch bei Docs Haus am Vortag geschehen war, lag hinter einer undurchdringlichen dunklen Mauer des Vergessens. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn; es war wie damals, als er nach Lahan gebracht worden war. War er überhaupt am gestrigen Tag auf dem Berg gewesen? Wie lange lag er schon so hier?
Sein Blick blieb an der gewaltigen dunklen Silhouette, die wie ein unheilvoller Turm hinter den Dorfbewohnern aufragte, hängen. Wie kam dieser stählerne Gigant hierher? Es war ein Gear, zweifellos, und abgesehen davon auch noch genau jenes Ungeheuer, das ihm seit seinem Erwachen im Kopf herumgeisterte.
"Weshalb sind wir hier? Wo sind Alice und Timothy, Lee und all die anderen?" Eiserne Stille schlug ihm anstatt einer Antwort entgegen. Aufgebrachtes Wispern lief durch die kleine Gruppe von Menschen und einige warfen ihm hasserfüllte Blicke zu.
Fei konnte sehen, wie Citan nach Worten suchte, und das Gefühl drohenden Unheils, das ihn schon die ganze Zeit über quälte, verstärkte sich. Irgendetwas war passiert, etwas, von dem er nichts wusste, in das er aber zweifellos tiefer verstrickt war, als ihm lieb sein konnte.
"Nun, wie soll ich nur sagen...?" begann der Doktor schließlich nach einer schrecklichen Zeit des Schweigens.
"Sag ihm die Wahrheit!" schrie eine dünne Stimme hinter ihm, "Sag ihm, dass er sie alle umgebracht hat!!"
Citan wandte sich erschrocken um und Fei zuckte zusammen, als hätte man ihm einen Schlag versetzt, doch diese Worte waren verletzender, als jede Waffe es sein konnte.
"Dan!" rief der Doktor bestürzt. Der rothaarige Junge war aus der kleinen Menge hervorgetreten und hatte sich vor Fei aufgebaut. Er bot einen bemitleidenswerten Anblick, man sah ihm deutlich an, dass er großen Schmerz hatte durchmachen müssen, doch seine Augen loderten in zornigem Feuer. Hätte er Fei mit seinen Blicken aufspießen können, so hätte er es ohne zu zögern jetzt getan.
"Dan, wovon redest du?" fragte Fei mit heiserer Stimme. Es schmerzte ihn, den kleinen Kerl so zu sehen, doch noch viel mehr schmerzte ihn, was der Junge behauptete.
"Nur weil... weil du in dieses Monster steigen musstest... Alice und Timothy… die Leute aus dem Dorf sind alle..." Er stockte und Tränen traten in seine Augen. "Du hast sie alle umgebracht mit diesem Monster!!"
Fei schwieg. Wenn es stimmte, was Dan erzählte, so hatte er ihm nichts entgegen zu setzen. Dann war das mindeste was er tun konnte, seine Verwünschungen über sich ergehen zu lassen. Es war unvorstellbar, dass er etwas derart Schreckliches getan haben sollte, doch mit einem Mal erinnerte er sich schlagartig. Er war in dem Gear gewesen, hatte das von Menschenhand geschaffene Ungeheuer gesteuert, auch wenn die Erinnerung daran noch verschwommen war und nur widerwillig in sein Bewusstsein trat. Und warum sollte Dan sich so etwas ausdenken? Außerdem war der Beweis, jene blauschwarze Höllenmaschine, nur wenige Meter entfernt...
"Warum musstest du mitten im Dorf kämpfen...? Woher weißt du überhaupt, wie man so ein Ungeheuer steuert?"
Er wusste es selbst nicht. Jetzt, wo langsam und gnadenlos die Erinnerung wieder zurückkehrte, die Erinnerung an die in Flammen stehenden Häuser, die mit jeder Sekunde fortschreitende Zerstörung seiner Heimat, den Tod seines besten Freundes, der vor seinen Augen ums Leben gekommen war, jetzt, wo ihm die Konsequenzen bewusst wurden, konnte er selbst nicht mehr sagen, was er zu erreichen geglaubt hatte. Er hatte einfach etwas unternehmen müssen. Aber er hatte nur Leid über diejenigen gebracht, die er hatte beschützen wollen...
"Es ist wahr, was er sagt," sagte Citan schließlich bekümmert, "Es kam zu einer Fehlfunktion in den Waffensystemen des Gears und die Maschine geriet außer Kontrolle. Der daraus resultierende Ethersturm hat das Dorf... schlichtweg atomisiert." Er deutete den Hang hinunter, in die Richtung, wo früher einmal Lahan gewesen war.
Bei dem Anblick krampfte sich Fei das Herz zusammen. Citans Beschreibung war keine Übertreibung gewesen. Die Etherenergie hatte das Dorf nicht bloß zerstört – sie hatte es einfach vom Antlitz der Erde gefegt. Der schwelende Krater, der sich in weitem Umkreis hinzog, erweckte den Eindruck, als hätte ein Meteor von der Größe eines Güterwagons eingeschlagen und alles in seinem Radius zu Staub und Asche reduziert. Selbst die Anhöhe, auf der sie sich jetzt befanden, war nicht ganz von der Schockwelle verschont geblieben.
Fei hätte nie auch nur davon geträumt, dass der Ether Zerstörung von solchem Ausmaß hervorrufen könnte. Er hatte den Ether nur als die spirituelle Energie gekannt, die den gesamten Planeten durchfloss und dessen Manipulation demjenigen, der es verstand sie zu nutzen, begrenzte Kontrolle über die Elemente ermöglichte. Er selbst hatte nur ein paar wenige Male jene Kraft hervorgerufen, um geringere Verletzungen zu heilen und hatte nie daran gedacht, das diese Macht darüber hinaus gehen könnte.
"Ich..." begann er, brach jedoch ab. Was konnte er schon sagen? Dass es ihm leid tat? Dass er das nicht gewollt hatte, als er in das Gear gestiegen war? Nein, er hatte den Tod seiner Mitmenschen auf dem Gewissen und dafür konnte es keine Entschuldigung geben, auch keine Fehlfunktion in dem stählernen Giganten. Dan hatte recht. Wenn er nur nicht das Gear gesteuert hätte, wenn er sich nur mit den anderen zurückgezogen hätte...
"Ich habe es euch gesagt," erklang eine Stimme aus der Richtung der Überlebenden. "Jemanden in unser Dorf aufzunehmen, über den wir rein gar nichts wissen, konnte nur in einer Katastrophe enden." Solche und ähnliche Bemerkungen, dünne Kinderstimmen, die nach ihren Eltern riefen, das Jammern von Verletzten, klangen aus der Menge herüber, doch Fei nahm sie kaum wahr. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Er hatte ihnen schließlich ihre Heimat und ihre Angehörigen genommen.
"Dan.." brachte er hervor und trat einen Schritt auf ihn zu. Angsterfülltes Raunen durchlief seine einstigen Mitmenschen und sie wichen entsetzt vor ihm zurück. Nur Dan blieb mit felsenfester Entschlossenheit stehen und blickte ihn voller Abscheu an.
"Du Mörder," flüsterte er mit bebender Stimme, "Meine Schwester... Gib mir meine Schwester zurück!"
"Dan," warf Citan beschwichtigend ein. "Es ändert nichts, wenn du die ganze Schuld allein auf Fei schiebst. Mehr noch, du weißt, dass Fei keine Kontrolle über die Fehlfunktion des Gears hatte."
"Ich... Ich weiß," sagte er mit gesenktem Blick, "Aber... Aber..." Er blickte Fei fest in die Augen, "Das werde ich dir niemals verzeihen!!!"
Damit brach er in Tränen aus und rannte davon, in Richtung des Kraters, der einst ihrer aller Heimat gewesen war...

pute703
05.02.2003, 05:48
Citan sah ihm nachdenklich nach, ehe er sich zu Fei wandte, den Blick immer noch auf die kleine Gestalt gerichtet, die dort mit bebenden Schultern am Kraterrand hockte und in die leere verbrannte Asche starrte.
"Vielleicht ist es besser, ihn eine Weile sich selbst zu überlassen... Er weiß nicht, wohin mit seinem Kummer, seiner Wut...," sagte er schließlich, wie zu sich selbst.
Fei nickte langsam. Es schien ihm unvorstellbar, dass es erst wenige Stunden waren, seit der quirlige kleine Junge an der Mühle auf ihn gewartet hatte, versucht hatte, ihn zu überreden, gemeinsam mit Alice das Dorf zu verlassen. Er erinnerte sich, wie glücklich Dan gewirkt hatte, als er versprochen hatte, ihm zu helfen. Das Dorf, das Vertrauen des Jungen, Alice, Timothy – das alles war nun unwiederbringlich verloren, in der unbarmherzigen Glut vernichtet.
"Und Fei...," fuhr der Doktor fort, "Es wäre eine gute Idee, wenn du diesen Ort verlässt. Es besteht keine Garantie, dass nicht Verstärkungen der Truppen von gestern eintreffen werden.... Und sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit wissen wollen, was mit ihren Kameraden geschehen ist.
Außerdem," fügte er hinzu, "glaube ich nicht, dass die Atmosphäre sehr angenehm sein wird, falls du hier bleibst... wenn du verstehst, was ich meine. Es ist vermutlich das Beste, sowohl für dich als auch für die anderen."
Fei verstand nur zu gut, worauf Citan hinaus wollte. "Ich schätze du hast recht... Diese ganze Katastrophe ist meinetwegen passiert..." Er wusste, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, doch ohne sein Eingreifen wäre der Ausgang bei weitem nicht derart schrecklich gewesen. "Aber... Was soll ich jetzt tun? Wo soll ich hin?"
"Nun...," überlegte Citan, "Die angreifenden Gears waren mit Sicherheit aus Kislev. Es ist also wohl das Klügste, wenn du fürs erste durch den Wald nach Westen gehst. Wenn es dir gelingt, weiter ins Landesinnere Avehs vorzudringen, wird es ungleich schwieriger für sie sein, dich aufzuspüren."
Fei warf einen Blick den Berg hinab auf die nahen Ausläufer des Neumondwaldes, der sich über die gesamte westliche Ebene erstreckte und am Horizont im Dunst verschwand. Er war früher oft am Waldrand unterwegs gewesen, doch jetzt hatte der Anblick etwas erschreckend Unheilvolles an sich. "...Ich verstehe, Doc," antwortete er langsam. "Es ist wohl das Beste so. Wie auch immer, gib acht auf die anderen," fügte er hinzu, "und hab ein Auge auf Dan. Ich möchte nicht, dass ihm etwas zustößt."
"Selbstverständlich. Obwohl, ich glaube Dan kann sehr gut auf sich allein aufpassen." Er machte eine kurze Pause und sah Fei in die Augen. "Nun dann,... sei vorsichtig," sagte er schließlich. Ein ehrliches Lächeln stahl sich in sein Gesicht und Fei erkannte, dass der Doktor es nicht böse meinte, dass er ihn hier nicht vertreiben wollte und er glaubte fast etwas wie Bedauern in seinen Augen zu erkennen.
Er nickte kurz. Es gab keine Abschiedsworte, die er hätte hinterlassen können. Es war nicht etwa so, als ob er hier als Held auszöge.
Mit einem letzten Blick auf die Dorfbewohner wandte Fei sich ab und begann den sanften Hang des Berges hinabzusteigen. Obwohl sie ihn und Citan die ganze Zeit über beobachtet hatten, hatten sie vermutlich nichts von ihrer leisen Unterhaltung mitbekommen, und er war ganz froh darüber. Es war besser, wenn sie nicht wussten, wohin er ging, wenn er einfach still aus ihren Leben verschwand.
Kurz bevor er seinem Blickfeld entschwand betrachtete er noch einmal den stählernen Giganten, der sich jetzt majestätisch und im strahlenden Sonnenschein matt schillernd über der Bergkuppe erhob und seinen Schatten auf die Überlebenden des Desasters warf.
Du hast sie alle umgebracht mit diesem Monster!, hallten ihm Dans Worte durch den Kopf. Du Mörder! Meine Schwester... Gib mir meine Schwester zurück!
Er ballte die Fäuste, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann wandte er der grausamen Höllenmaschine entschlossen den Rücken zu und verabschiedete sich endgültig stumm von seiner einstigen Heimat. Als er außer Sichtweite war stieß er einen lautlosen Schrei aus und begann zu rennen, so schnell ihn seine Beine trugen, rannte fort von seiner Vergangenheit, fort von jenem verfluchten Ort, der ihn stets an seine unverzeihliche Tat erinnern würde.
Er fegte die letzten Meter des Berges hinunter und über die ausgedehnten Wiesen im Westen Lahans – oder dessen, was einst Lahan gewesen war. Schmerzhafte Erinnerungen stiegen in ihm hoch, als er diesen vertrauten Teil seines bisherigen Lebens hinter sich ließ und die dunkle Mauer des Waldes näher rückte. Heiße Tränen liefen über sein Gesicht, doch er achtete nicht darauf, er nahm kaum wahr, wie sich vor ihm die Front der mächtigen Bäume teilte und ihn in sich aufnahm wie der Schlund einer gefräßigen Bestie, aus dem es kein Entrinnen gab. Tiefhängende Zweige schlugen ihm entgegen und suchten ihm den Weg zu versperren, krallten sich mit geradezu beseelter Beharrlichkeit in seine Kleidung, doch er fühlte nichts von alledem. Alles, was er spürte, war der weiche federnde Boden unter seinen Füßen; er versuchte, nichts anderes in sein Bewusstsein zu lassen, als den Rhythmus seiner Schritte, aus Angst, sonst vollends seiner Verzweiflung zu erliegen, seiner Hilflosigkeit gegenüber dem unbarmherzigen Schicksal, das seinen Schatten über ihn und diejenigen, die für ihn sein ganzes bekanntes Leben bedeutet hatten, gelegt hatte.
Er konnte nicht sagen, wie lange er so durch das Dämmerlicht lief, ob es Stunden oder gar Tage waren, doch schließlich verlangsamte er sein Tempo, ehe er stehen blieb und sich keuchend vor körperlicher und geistiger Erschöpfung gegen den mächtigen dunklen Stamm einer stolzen Eiche sinken ließ. Seine Gedanken schwammen ziellos in dumpfer Leere umher, als er hinauf in das dichte Blätterdach hoch über seinem Kopf starrte und nur gedämpft drangen die Laute des Waldes an sein Ohr.
Der Neumondwald hatte seinen Namen nicht ohne Grund erhalten. Fei konnte noch nicht sonderlich weit in das schattige Reich der Bäume vorgedrungen sein, doch bereits jetzt drang kein Lichtstrahl durch das dichte Blattwerk des alten Forstes bis zum Boden. Dort, wo der schmale Pfad, dem er bisher gefolgt war, sich in der Düsternis verlor, schienen die massiven hoch aufragenden Stämme noch dichter zusammenzurücken und der Hohlweg dahinter war dunkel wie eine mond- und sternlose Nacht.
Langsam verklang das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und Fei wurde aufmerksam auf die mannigfaltige Geräuschkulisse des lichtlosen Waldes. Obwohl der Forst auf den ersten Blick finster und abweisend, geradezu leblos wirkte, herrschte dennoch nicht völlige Stille. Hoch droben rauschte der Wind im Geäst, von Zeit zu Zeit konnte man, wenn man angestrengt beobachtete, kleine Schatten durch das Unterholz huschen und dabei das trockene Laub des Vorjahres aufwirbeln sehen, hie und da ließ sich selbst entfernter Vogelgesang vernehmen.
Es war jene verborgene Schönheit des Neumondwaldes, die Fei seit seiner ersten Monate in Lahan immer wieder bewogen hatte, gelegentliche Streifzüge ins Reich der Tiere und Pflanzen zu unternehmen, doch nie zuvor war er derart blindlings in dieses lebendige Labyrinth gelaufen.
Jetzt erst wurde ihm der Ernst seiner Lage bewusst. Dies war keine seiner früheren Wanderungen, er konnte nicht hinterher wieder in die Geborgenheit des Dorfes zurückkehren, er konnte noch nicht einmal darauf hoffen, dass Lee, Citan oder einer der anderen aus dem Dorf nach ihm suchen würden, sollte er nicht zurückkehren. Es gab keine Rückkehr mehr, dies war endgültig; er hatte sein eigenes Heimatdorf vernichtet und jetzt hatte er auch noch seine Heimat verloren, einen Ort, an den er gehörte.
Und als wäre dies noch nicht genug, hatte er sich auch noch im Neumondwald verirrt. Alles, was er wusste, war, dass er sich nach Westen halten musste, wollte er das Landesinnere Avehs erreichen, doch er hatte kaum darauf geachtet, wohin er gelaufen war, als er, von Schmerz und Verzweiflung betäubt, in den Wald gelaufen war und hier, wo er den Stand der Sonne nicht einmal erahnen konnte, war es schier unmöglich, die Richtung zu bestimmen.
Er konnte nicht weit vom Weg abgekommen sein, doch er wusste nicht, welche Hindernisse der Wald ihm in den Weg stellen mochte. Hätte er gekonnt, so hätte er ihn umrundet, auch wenn es einen Umweg von mindestens einer Woche bedeutet hätte, der Pass südlich des Forstes war ein häufig benutzter Handelsweg, doch selbst wenn er wieder zurückgefunden hätte, er durfte es nicht wagen, offen auf den bekannten Wegen zu gehen. Doc hatte recht, die Angreifer aus Kislev würden den Vorfall nicht auf sich beruhen lassen, immerhin hatte er eine ganze Einheit von ihnen ausgelöscht und alleine die Tatsache, dass er aus Aveh stammte, konnte ihn in Schwierigkeiten bringen. Auch wenn er in Lahan nicht allzu viel davon mitbekommen hatte, er wusste nur zu gut, dass draußen Krieg herrschte.
Mit einem resignierenden Seufzer erhob er sich und setzte sich wieder in Bewegung, tiefer ins Herz des Waldes hinein.

* * *

Es hatte so kommen müssen, dachte sie bei sich, während sie praktisch ziellos über den unebenen Boden stolperte. Sie hatte es bereits vor knapp einer Stunde aufgegeben, einen Weg aus dem fremden Wald zu suchen und beschlossen, einfach weiter dem schmalen Pfad zu folgen, der sich kaum erkennbar vor ihr zwischen den Bäumen dahinwand. Sie konnte genauso gut diesen Weg nehmen und darauf hoffen, dass er irgendwohin führte.
So schwer es ihr fiel, sie musste sich eingestehen, dass sie in dem riesenhaften Forst die Orientierung verloren hatte; sie befand sich hier auf gänzlich unbekanntem Terrain. Anfangs war es ihr als die einzige Möglichkeit erschienen, sich zu Fuß durch den Wald nach Aveh durchzuschlagen und wohl oder übel vom Scheitern der Operation zu berichten, doch mittlerweile erschien ihr ihre Situation nicht weniger aussichtslos, als hätte sie versucht, sich bis zum bitteren Ende ihren Verfolgern zu stellen. Wenn sie nicht bald auf einen Hinweis stieß, der ihr Klarheit über den Weg verschaffte, so hatte sie wenig Hoffnung, jemals wieder heimatlichen Boden zu betreten und die allgegenwärtige Düsternis unter dem dicht verwobenen Blätterdach erleichterte ihren Marsch nicht gerade. Sie war in einer ihr vollkommen unvertrauten Welt gestrandet.
Es hätte erst gar nicht so weit kommen dürfen, sinnierte sie, sie hatte sich geschworen, nicht aufzugeben, das Gear nicht wieder in die Hände Kislevs fallen zu lassen, doch genaugenommen hatte sie eben das getan. Es spielte keine Rolle, dass sie kaum eine andere Wahl gehabt hatte, sie hatte die Operation kurz vor dem Ziel abgebrochen. Doch andererseits, was hätte sie schon ausrichten können? Die Handhabung des entwendeten Gears war komplexer gewesen, als alles, was sie je gesehen hatte; sie hatte die Steuerung gerade ausreichend in den Griff bekommen, um die grundlegendsten Manöver durchführen zu können, einen Kampf hätte sie auf diese Weise nicht einmal ansatzweise durchgestanden. Und selbst wenn sie die Kontrollen perfekt beherrscht hätte, der Großteil ihrer Mitstreiter war bereits außer Gefecht gesetzt gewesen und alleine gegen eine ganze Einheit, alles Elitesoldaten wie sie selbst...
Nein, sie wusste, wann ein Kampf aussichtslos war, wann es besser war, die Niederlage einzugestehen. Ramsus würde nicht erfreut sein, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrte, doch es wäre Selbstmord gewesen, sich in einen Kampf gegen eine derartige Übermacht einzulassen, und der Commander wusste das. Es wäre sinnlos gewesen, sich einem solchen Gefecht zu stellen, er hätte auf diese Weise nicht nur das Gear verloren sondern auch einen seiner fähigsten Offiziere.
Das nahe Knacken eines Zweiges riss sie aus ihren Gedanken. In einer Mischung aus Furcht und leiser Hoffnung fuhr sie herum. Durch die dunklen Silhouetten der Bäume hindurch konnte sie eine vergleichsweise helle Gestalt erkennen, die sich ihren Weg durch das Gehölz bahnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen der ihren handelte, oder auch nur jemanden, der ihr freundlich gesinnt war, war verschwindend gering, doch sie war jetzt auf jede Hilfe angewiesen. Wenn es ihr helfen konnte, den Wald zu verlassen, musste sie es zumindest versuchen.
Mit pochendem Herzen verließ sie den Pfad und schlich lautlos im Schutz der massiven Eichen und Buchen auf den nicht weit entfernten menschlichen Schemen zu, die Hand an den Griff des Revolvers gelegt, der an ihrem Gürtel hing. Sie wusste, wenn dies ein Fehler war, so war sie in dem undurchdringlichen Wald verloren, jetzt wo sie die zumindest illusorische Sicherheit des Pfades verlassen hatte.
Nach wenigen, qualvollen Minuten, die sie durch das eintönige Dämmerlicht tappte, fasste sie sich schließlich ein Herz, hielt den Revolver schussbereit vor sich und trat entschlossen und unvermittelt zwischen den Bäumen hervor auf den etwas breiteren Pfad hinaus, über den die Gestalt müden Schrittes zog.
Sie versuchte ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen, während sie auf den Kopf des Fremden zielte und ihn befehlerisch anrief. Ihr Herz setzte für einen Moment aus, als er sich zögernd umwandte und ihr direkt in die Augen blickte und war sie bereits regungslos dagestanden, so erstarrte sie jetzt vollends. Es bedurfte nicht seines verwirrten Blickes, um zu erkennen, dass er nicht ihre Sprache sprach.
Es war seine gesamte Erscheinung, in der er sich von einem der ihren abhob, seine Haltung, aufrecht und selbstbewusst, doch nicht von der stolzen Erhabenheit ihrer Leute. Seine Kleidung war einfacher als die Uniformen und Anzüge der Menschen in Solaris, seine Haut von einem bronzeneren Ton und die schmalen, in tiefschwarzes zurückgebundenes Haar eingerahmten Gesichtszüge deutlich unterschiedlich vom hellen kantigen Profil eines Vollbluts. Es bestand kein Zweifel, es war ein Surface Dweller.
Doch etwas irritierte sie an der Art, wie der junge Mann sie forschend mit wachem Blick betrachtete. Es war das erste Mal, dass sie einem Surface Dweller Auge in Auge gegenüberstand, doch sie hatte während ihrer Zeit bei "Jugend" genug über die Lambs gehört, um zu wissen, dass sie unerheblich höher entwickelt waren, als gewöhnliche Tiere, es war kaum vorstellbar, dass sie ebenfalls Menschen waren, so sehr sie ihnen äußerlich auch ähnelten. Doch beim Anblick dieses Exemplars war sie sich nicht mehr völlig sicher. Seine Augen sprühten geradezu vor Intelligenz und in seinen Augen flackerte ein Feuer, dass sie nicht einmal bei Ihresgleichen gesehen hatte.
Nach einem kurzen Augenblick fasste sie sich wieder und wechselte in die Sprache von Aveh. "Stehen bleiben!," herrschte sie ihn an, ohne den Lauf des Revolvers auch nur einen Millimeter von seinem Kopf abweichen zu lassen. "Lass die Waffen fallen! Eine falsche Bewegung und ich werde deiner jämmerlichen Existenz ein Ende setzen."



Sie war sich der Absurdität ihrer Aufforderung durchaus bewusst, doch obwohl sie keinerlei Waffen an ihm erkennen konnte, wusste sie doch, dass die Lambs trotz ihrer Primitivität außerordentlich einfallsreich sein konnten, was die Anwendung von Gewalt anging.
"Dreh dich um," fuhr sie fort. Sie war davon überzeugt, dass er sie verstanden hatte, doch er zeigte keinerlei Anstalten, ihrem Befehl zu folgen, verharrte in der selben, ihr zur Hälfte zugewandten, Position und fixierte sie mit seinen braunen Augen. Nach einigen Sekunden angespannten Schweigens festigte sie den Griff um den Revolver.
"Ich sagte, du sollst dich umdrehen!," fuhr sie etwas lauter fort, "So, dass ich dich sehen kann."
Ohne den Blick von ihr zu wenden trat der Surface Dweller endlich einen Schritt auf sie zu. "Du zitterst..." bemerkte er mit sanfter ruhiger Stimme.
"Halt den Mund!" entfuhr es ihr, lauter als sie beabsichtigt hatte. Ihr war nicht wohl dabei, dass selbst ein Surface Dweller sehen konnte, wie unsicher sie sich fühlte. "...Du siehst nicht aus wie einer der Kislev Soldaten, die hinter mir her sind," fuhr sie etwas leiser fort, mehr zu sich selbst gewandt.
Sie glaubte eine Reaktion in seinen Augen zu erkennen, doch sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, als er vorsichtig ansetzte, einen weiteren Schritt vorzutreten.
"Keine Bewegung!" Sie versuchte, das Beben in ihrer Stimme unter Kontrolle zu bringen und erklärte, "Ich habe den Befehl, jeden Land Dweller, Lamb, mit dem ich in Kontakt trete, zu töten. Es ist Teil meines Auftrags, nichts Persönliches, oder so, aber..."
Sie erinnerte sich wieder, weshalb sie sich überhaupt hier befand. Nein, sie hatte im Moment wirklich andere Sorgen, als einen Land Dweller zu erschießen, der ihr zufällig über den Weg gelaufen war, der vielleicht ihre einzige Rettung darstellte. Sie sollte dankbar sein, dass sie überhaupt diese Chance erhalten hatte. Außerdem sah sie nicht den geringsten Anlass, ihrem Auftrag gemäß zu handeln. Wer würde schon je davon erfahren?
"Wie auch immer, ich habe eine Frage an dich..." Mit einem Mal widerstrebte es ihr, ihre Lage zuzugeben, erst recht vor einem Surface Dweller, andererseits sah sie jetzt keinen Grund mehr, ihren Vorsatz nicht zu Ende zu bringen. "Wie komme ich aus diesem Wald heraus?" brachte sie schließlich hervor.
"Hast du den Weg verloren?" entgegnete er anstatt einer Antwort.
"Beantworte einfach meine Frage," seufzte sie. "Wie komme ich hier raus?" Obwohl keine Bosheit in seiner Bemerkung lag, wurde ihr die Situation doch zunehmend unangenehmer.
Der Surface Dweller schüttelte langsam den Kopf. "Tut mir leid, aber ich bin selbst auf der Suche nach dem Weg nach draußen."
"Oh..." war alles was ihr einfiel. Na toll, dachte sie bei sich, jetzt stehe ich hier und frage einen Surface Dweller nach dem Weg, mache mich selbst lächerlich, und alles nur um zu erfahren, dass er selbst nicht besser dran ist, als ich. Oder vielleicht doch, immerhin war es höchst unwahrscheinlich, dass er zudem noch von feindlichen Soldaten verfolgt wurde. Dennoch, dies war heute scheinbar absolut nicht ihr Tag. Wäre ihre Lage nicht so verdammt verzweifelt gewesen, hätte sie vielleicht sogar gelacht.
Sie wurde sich bewusst, dass sie den Revolver immer noch zwischen die Augen des Lambs gerichtet hielt. Ihre Finger entkrampften sich, sie sah keinen Anlass mehr, ihn zu bedrohen, sie würde den Vorfall einfach auf sich beruhen lassen und sich weiterhin auf eigene Faust durch den verwilderten Forst schlagen.
Doch gerade als sie im Begriff war, den Lauf der Kanone zu senken, kam ihr der Surface Dweller zuvor, doch seine Worte fielen anders aus, als alles, womit sie gerechnet hätte.
"Wie lange willst du noch einfach hier rumstehen?" fragte er plötzlich seelenruhig. "Wenn du mich erschießen willst, dann beeil dich und tu es."
Sie blickte ihn fassungslos an. Das seltsame Flackern in seinen Augen war Beweis genug, dass es ihm ernst war, dass er nicht bloß versuchte, Zeit zu gewinnen.
"Das ist eine verdammt seltsame Bemerkung. Begreifst du nicht, in welcher Lage du dich befindest?"
Er blickte niedergeschlagen zu Boden. "Es ist mir egal, in welcher Lage ich mich befinde... Ich bin nichts weiter, als ein Mensch, dessen Leben seinen Wert verloren hat... Es besteht kein Grund, weshalb ich überhaupt am Leben bleiben sollte..."
Jetzt erst wurde sie ganz der Hoffnungslosigkeit gewahr, die wie ein schwerer, er-drückender Schatten über ihm hing. Es war eine reine Reflexbewegung, als er auf sie zutrat, nicht mehr als eine Warnung. Sie hatte gehört, wie gefährlich Lambs werden konnten, wenn sie in die Ecke getrieben waren, wenn sie keinen Ausweg mehr sahen.
Dennoch fuhr sie innerlich zusammen, als hätte der Schuss ihr selbst gegolten. Das Echo hallte ohrenbetäubend durch die samtene Stille des Waldes, wurde von unsichtbaren Wänden aus lebendigem Dickicht wieder und wieder zurückgeworfen. Erschrocken starrte sie auf das helle zersplitterte Holz, dort wo das Projektil in eine majestätisch aufragende Buche geschlagen hatte; noch immer durchlief ein knarrendes Zittern den stolzen Stamm bis in die Fingerspitzen der dünnsten Äste, der Baum ächzte am ganzen Leibe, als wollte er sich über die Wunde beklagen, die man ihm geschlagen hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, für ihr Befinden war der Wald einfach zu lebendig, andererseits war es genauso gut möglich, dass lediglich ihre überreizten Sinne ihr einen Streich spielten.
"Wohin zielst du?" brach der Surface Dweller das Schweigen. Nach den Sekunden der erstarrten Stille wirkte seine sanfte Stimme beinahe unmenschlich laut. "Hier!" Er deutete sich auf die Brust. "Schieß hier her! Komm schon..."
Langsam machte ihr sein Verhalten Angst, doch am betroffensten machte sie der flehentliche Unterton in seinen Worten. Dieser Land Dweller musste jeglichen Lebenswillen verloren haben...
"Du bist verrückt," antwortete sie, "Irgendetwas ist mit dir ganz und gar nicht in Ordnung! Du solltest zumindest in irgend einer Form Widerstand leisten!"
Sie begann endgültig, an seinem Geisteszustand zu zweifeln, als sie sah, wie sich seine Augen vor Schreck weiteten. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, das dieser Blick nicht ihr galt. Alarmiert fuhr sie herum, als sie aus dem Augenwinkel einen verschwommenen saphirblauen Schatten heranschnellen sah. Ehe sie reagieren konnte verspürte sie einen dumpfen betäubenden Schmerz an ihrem Schädel, bevor die lang ersehnte Dunkelheit hereinbrach...

Vielleicht war es das gewesen, was ihn wachgerüttelt hatte, vielleicht hatte es ihm an nichts weiter gemangelt, als daran, einen neuen Sinn zu finden, einen Grund, weiter zu machen. Und dieser Sinn erschien Fei jetzt offensichtlich, als er die junge Frau unter dem Hieb des meerblauen Wesens zusammenbrechen sah, ihr flammend oranges Haar hinter ihr her wehend wie der Schweif eines vom Himmel stürzenden Kometen. Zuerst war es ihm als die einzige Möglichkeit erschienen, sich seinem Schicksal zu fügen und seinem Leben hier und jetzt ein Ende zu setzen, doch nun hatte er wieder ein Ziel. Er konnte nicht zulassen, dass diese unbekannte Frau seinetwegen von wilden Waldtieren zerrissen wurde; im Gegensatz zu ihm hatte sie noch ihr Leben, hatte Freunde und Familie – und in gewisser Weise war sie für ihn selbst etwas wie ein Hoffnungsschimmer, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, weshalb.
Mit einem gellenden Schrei stürzte er sich auf den über sein Opfer gebeugten Angreifer, ohne auf die Worte zu achten, die seine Kehle verließen.
"Lass deine verdammten Finger von Elly!!" Er holte zu einem knochenzerschmetternden Schlag gegen die schuppengepanzerte Brust der Bestie aus, legte all seine Kraft in die Attacke und hätte auf dem tückischen Waldboden beinahe das Gleichgewicht verloren, als das Waldgeschöpf behände seinem Abgriff auswich und ein Gebiss voll blitzender Raubtierzähne entblößte.
Fei stöhnte schmerzerfüllt auf, als er spürte, wie sich die nadelspitzen Zähne in seinen Arm gruben. Blut quoll zwischen den Kiefern des Wesens hervor, als er versuchte, die in sein Fleisch verbissene Kreatur abzuschütteln. Und dann war plötzlich ein weiteres Exemplar hinter ihm. Jetzt war es an der Zeit, diesen Kampf zu beenden, wollte er vermeiden, dass sie ihn zu Boden rangen.
Während er noch zu dem zweiten Angreifer herumwirbelte und ihm einen Schlag verpasste, der ihm knirschend das Genick brach, schleuderte er das andere Biest endlich energisch von sich, sodass es mit dem Kopf an einen Baum schlug und regungslos liegen blieb.
Er atmete erleichtert auf und warf einen kurzen Blick auf die beiden saphirblauen Wesen. Obgleich verzerrt, mit langen dünnen Gliedern, waren sie von eindeutig humanoider Gestalt, die Haut bestückt mit Milliarden winziger Reptilschuppen, die das spärliche Licht in sämtlichen Blautönen brachen und selbst hier unten, unter dem Schatten der Baumkronen, glitzerten sie wie geschliffenes Glas.
Doch so sehr ihr Verhalten auch dem eines wilden Tieres entsprochen hatte, in ihren pupillenlosen schwarzen Augen hatte ein Feuer gebrannt, wie er es nie bei einem Tier gesehen hatte. Der Gedanke beunruhigte ihn, doch er hatte jetzt nicht die Zeit, sich näher damit zu befassen.
Er trat auf die junge Frau zu und betrachtete sie besorgt. Sie schien keine schweren Verletzungen davongetragen zu haben, doch sie war nicht bei Bewusstsein und er versuchte dennoch, ihre Wunden zu versorgen, so gut es angesichts ihrer Situation ging.
Sie konnte kaum älter sein, als Fei selbst, doch sie wirkte anders als die Menschen, die er in Aveh gekannt hatte, ihre Haut war von heller, fast durchscheinender Blässe, ihre Gesichtzüge fein geschnitten und ihr langes oranges Haar, das zum Teil über ihr Gesicht gefallen war, schien wie gebanntes Feuer.
Eines war sicher, er konnte sie nicht einfach hier liegen lassen und sie ihrem Schicksal überlassen, und er wollte es auch gar nicht; auf eine schwer zu definierende Art faszinierte sie ihn, erweckte in ihm ein Gefühl das er noch nie zuvor empfunden hatte und nicht ganz zuordnen konnte.
Während ihrer Begegnung und dem anschließenden Kampf war die Dämmerung hereingebrochen und die Schatten hatten sich mittlerweile noch mehr verdichtet, schienen geradezu greifbar zu sein. Er warf einen Blick in die von Finsternis durchwobene Runde. An Feuerholz mangelte es hier mit Sicherheit nicht und trotz der Jahreszeit konnten die Nächte hier im Wald noch recht klamm werden, außerdem wusste er nicht, was für Geschöpfe hier des Nachts auf Jagd gehen mochten. Es war auf jeden Fall besser, für ein Feuer zu sorgen, bis sie aufwachte.
Bereits nach kurzer Zeit hatte er ein helles Feuer in Gang gesetzt und die Flammen prasselten in einem ständigen Tanz empor. Dunkle Erinnerungen an die vergangene Nacht stiegen bei dem Anblick in ihm auf.
Er seufzte und lehnte sich gegen einen Baumstamm, während er versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben und wartete, dass die Zeit verging.


Gedankenverloren warf er einen dürren Ast in die schwach züngelnden Flammen und sah zu, wie helle Funken davon stoben und die Glut ihn knisternd verzehrte, wie das trockene Holz sich vor seinen Augen schwarz färbte und allmählich zu Asche zerfiel. Das Feuer tanzte vor seinen Augen wie ein unwirklicher orangeroter Schleier, der die Umgebung verzerrte und ihr eine eigentümliche Lebendigkeit verlieh; das unstet flackernde Licht, gepaart mit der bleiernen Müdigkeit, die sich über ihn gelegt hatte, ließ die Bäume ringsum zum Leben erwachen und erweckte den Eindruck, als reckten sie ihre teils noch dünn belaubten Äste sehnsüchtig dem Feuer entgegen, um sich an seinem willkommenen Schein zu wärmen.
Aus der Ferne drang der einsame, trostlose Ruf einer Eule herüber, begleitet von einem flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Flügelschlag. Es mochte jetzt knapp vor Mitternacht sein und die junge Frau lag immer noch reglos neben ihm, doch Fei wusste, dass er nicht ewig wach bleiben konnte und warten, dass sie zu sich kam. Er merkte, wie die nächtlichen Geräusche des Waldes und der ständige Reigen der Flammen ihn einschläferten, er konnte nicht verhindern, dass er langsam hinwegdämmerte und so leistete er schließlich keinen Widerstand, als ihm letztlich doch der Kopf auf die Brust sank und ihn der lange verdrängte Schlaf übermannte.
Er schreckte aus einem unruhigen Dämmerzustand hoch, als er ein leises Stöhnen neben sich vernahm. Er setzte sich benommen auf und blickte zu der geheimnisvollen Fremden hinüber. Ihre Lider flatterten kurz, ehe sie die Augen öffnete und einen Moment desorientiert umherblickte. Sie richtete sich langsam auf die Ellbogen auf und blickte ihn verwundert an, bevor sie sich in eine halbwegs bequeme sitzende Position brachte. Es dauerte einen Augenblick, ehe ein Ausdruck der Erinnerung in ihr Gesicht trat.
"Du bist also endlich zu dir gekommen," bemerkte Fei, "Du hast dich so lange nicht gerührt, das ich anfing, mir Sorgen zu machen..."
Sie senkte betreten den Blick, blieb ihm aber eine Antwort schuldig.
"Wie fühlst du dich?" fragte Fei, der ihr Schweigen nur für natürlich hielt, wenn man bedachte, dass sie ihm nicht all zu lange zuvor mit der Waffe in der Hand gegenüber-gestanden hatte. Wieder blickte sie nur still zu Boden.
"Hast du immer noch vor, mich umzubringen?" fuhr er fort, "Dann geh und erschieß mich. Aber vielleicht solltest du es nicht tun, solange wir uns hier im Wald befinden. Die meisten Geschöpfe des Waldes können laute Geräusche nicht ausstehen, wenn du verstehst, worauf ich hinaus will."
Er wartete einen Moment, doch sie blieb weiterhin stumm.
"In Ordnung," seufzte er resigniert, "Du brauchst nicht mit mir zu sprechen, wenn du nicht willst. Aber es wird dich nicht umbringen, mir zu danken, dass ich deine Wunden versorgt habe."
Sie blickte ihn an und strich sich das flammenfarbene Haar aus dem Gesicht. "D... Danke...," brachte sie schließlich hervor, "Aber du hättest mir nicht helfen sollen. Glaub nicht, dass es dir das Leben rettet. Es ändert wirklich überhaupt nichts...."
"Wovor hast du solche Angst?" entgegnete Fei.
"Ich habe keine Angst, ich bin bloß vorsichtig," erwiderte sie. Sie schien langsam ihre Fassung wiederzugewinnen. "Es ist nur natürlich, vorsichtig zu sein, wenn man bedenkt, dass ich auf so einen verdächtigen Surface Dweller Lamb gestoßen bin."
"Hm, mach dir keine Sorgen, ich werde dir nichts tun. Davon abgesehen bist du wesentlich verdächtiger als ich." Er ignorierte den überraschten Blick, den sie ihm bei der Bemerkung zuwarf und fuhr fort, "Nun, wie ist dein Name?"
"Ich werde meinen Namen nicht einfach an einen Surface Dweller Lamb weitergeben."
"Was soll die ganze Sache mit diesem 'Lamb'-Unsinn?" lenkte er ein, "Das ist doch absurd, wir sitzen hier beide in diesem Wald fest, umzingelt von wilden Tieren, ohne zu wissen, wie wir hier wieder rauskommen und du hältst an irgendwelchen merkwürdigen Prinzipien fest, als ob dein Leben davon abhinge... Sollten wir nicht wenigstens so lange zusammenarbeiten, bis wir einen Weg hinaus gefunden haben?"
Darauf widersprach sie nicht. "Gut," fuhr er fort, "Also wie lautet dein Name? Es wird schwierig für uns sein, zu kooperieren, wenn wir noch nicht einmal den Namen des anderen wissen. Wie auch immer, mein Name ist Fei Fong Wong. Du kannst mich Fei nennen."
"Ich bin... Elhaym," sagte sie zögernd, "Aber meine Eltern nennen mich Elly."
"Elly, huh?" wiederholte er mehr zu sich selbst gewandt, "Irgendwie habe ich das Gefühl, als wusste ich das bereits..."
Er bemerkte den verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht und sprach weiter, "Nun, wie dem auch sei, es ist zu gefährlich, bei Nacht weiterzugehen, es wäre also besser, bis Tagesanbruch zu warten, ehe wir weiter nach einem Weg hier raus suchen... Wenn es dir nichts ausmacht."
"Ich schätze, uns bleibt keine andere Wahl..." entgegnete sie.
"Okay dann, Elly. Wir sollten besser zusehen, dass wir noch etwas Schlaf bekommen, bis wir aufbrechen." Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie lange der vergangene Tag gewesen war und wie viel Kummer und Leid er mit sich gebracht hatte. Die Erschöpfung lastete schwer auf seinem Herzen und als er sich an der Wurzel des Baumes, an dessen Stamm gelehnt er die ganze Zeit über gesessen hatte, zusammengerollt hatte, so gut es auf dem unebenen Waldboden ging, fiel er fast augenblicklich in tiefen Schlaf...

Die Wüste war endlos. Bis in die Unendlichkeit erstreckte sich ein lebensfeindliches Meer aus glühendheißem Sand. Schon seit Stunden schien er durch die trostlose kahle Landschaft zu stolpern, hatte einen Dünenkamm nach dem anderen erklommen, bloß um festzustellen, dass sich die Sandhügel dahinter weiter in die Ewigkeit erstreckten, ehe sie in der flirrenden Hitze verschwommen und mit dem fahlblauen Himmel verschmolzen.
Die heiße trockene Luft brannte in seinen Lungen und der beschwerliche Marsch, ohne Hoffnung und Ziel vor Augen war mehr gewesen, als man einem siebenjährigen Jungen abverlangen konnte. Langsam begann sich die Welt um ihn herum zu drehen und er wusste, dass er dieser Hölle nicht mehr lange würde standhalten können. Erschöpft und am Ende seiner Kräfte ließ er sich zu Boden fallen und blickte sich nach einem Zeichen um, das ihm neue Hoffnung geben könnte. Es erschien ihm zunächst wie eine Illusion, eine Luftspiegelung, die seine strapazierten Sinne ihm vortäuschten, als sich ihm in geringer Entfernung das lange ersehnte Bild bot.
Es waren zwölf aufrechte gesichtslose, doch zweifellos reale, Gestalten, deren Silhouetten sich scharf und dunkel gegen den erbarmungslosen gleißenden Sand abzeichneten. In nur kurzer Distanz schritten sie schweigend über einen benachbarten Dünenkamm, einer hinter dem anderen. Ohne lange zu überlegen sprang er auf und lief in ihre Richtung, so schnell es ihm die Erschöpfung erlaubte. Doch so sehr er sich auch bemühte, sie zu erreichen, er schien kaum von der Stelle zu kommen, qualvoll langsam nur gehorchten ihm seine Beine, als hielte eine unüberwindbare Kraft sie zurück und während ihn jeder Schritt mehr Anstrengung kostete, verschwanden die zwölf Gestalten langsam in der Ferne, schienen trotz ihres gemächlichen Schrittes wie der trockene Wind zu verwehen und mit der flimmernden Luft zu verschmelzen.
Völlig am Ende brach er am abfallenden Hang der Düne zusammen, überschlug sich und stürzte mehrere Meter, begleitet von aufgewirbeltem Sand, der ihm die Luft nahm, abwärts. Als er hustend und keuchend wieder aufblickte, waren die Gestalten verschwunden. Verzweifelt blieb er hocken, wo er war, in sich zusammengesunken und den Tränen nahe. Jede Hoffnung war verloren, er würde niemals alleine einen Weg aus der Wüste finden, er würde hier gefangen bleiben und innerhalb kürzester Zeit in der gnadenlosen Hitze sterben. Von heftigem Schluchzen geschüttelt, vergoss er das letzte Wasser, das sein ausgedörrter Körper noch besaß, in den heißen Sand, endgültig seinem Schicksal ergeben.
Er bemerkte nicht einmal, als endlich ein Schatten über ihn fiel und die sengenden Strahlen der Sonne von ihm abschirmte. Eine sanfte Stimme klang zu ihm herüber, das Schönste, was er sich in diesem Moment vorstellen konnte. Mit einem zaghaften hoffnungsvollen Lächeln blickte er auf. Gegen das grelle Licht der Sonne war ihr Gesicht kaum zu erkennen, nur von ihrem langen Haar ging ein sanfter flammender Schimmer aus. Etwas blitzte auf ihrer Brust und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein funkelndes silbernes Kreuz, bestückt mit einem einzelnen feurigen Rubin im Zentrum...
"Du musst einsam sein, ganz alleine hier," sagte sie mit einem Lächeln, während sie ihm die Hand entgegenstreckte. "Fei..."
Er fühlte, wie ihn jemand sachte an der Schulter rüttelte. Eine sanfte Stimme rief seinen Namen, mit wachsendem dringlichem Unterton. Er blinzelte und öffnete die Augen. Das Bild aus seinem Traum verschwamm, wurde jedoch nahtlos von Ellys Gesicht abgelöst, die sich über ihn beugte und versuchte, ihn zu wecken. Es war das gleiche Lächeln, das selbe Antlitz wie in seinem Traum. Doch es hatte sich so sehr wie eine längst vergangene Erinnerung angefühlt, genauso wie die Erinnerung an die Nacht, als er nach Lahan gebracht worden war. Wie war es also möglich, dass sie in dieser Erinnerung, oder was immer es auch sein mochte, aufgetaucht war, wo er ihr noch nie zuvor begegnet war? Und doch, ihre Augen, ihre Art zu sprechen, beinahe alles an ihr erschien ihm so seltsam vertraut...
"Fei, bist du wach?" fragte sie leise. Er hob den Kopf und gab ein zustimmendes Seufzen von sich. Er fühlte sich wie gerädert und als er sich mühsam erhob, vermeinte er, jeden einzelnen Knochen im Leib knacken zu hören. Es war ein Wunder, dass er auf dem harten unebenen Waldboden überhaupt Schlaf gefunden hatte. So schwer es ihm fiel, musste er zugeben, dass er doch vom häuslichen Leben in Lahan verwöhnt war.
"Wir sollten uns langsam auf den Weg machen," meinte Elly ohne weitere Umschweife, während Fei sich reckte, um die Müdigkeit aus seinen verspannten Gliedern zu vertreiben. Jetzt im ersten Morgenlicht konnte er erkennen, dass die Bäume hier nicht ganz so dicht standen, wie es am gestrigen Abend den Eindruck erweckt hatte, tatsächlich drang vereinzelt ein goldener Lichtstrahl funkelnd durch das Blattwerk und warf helle grünschillernde Schatten auf den dunklen Waldboden.
Schweigend trabten sie nebeneinander her, die aufgehende Sonne im Rücken, in die Richtung, in der Westen und somit die äußere Grenze des Waldes liegen musste. An etlichen Stellen rückten die Bäume nun vollends auseinander, um breiten sonnendurchfluteten Wegen und Lichtungen Platz zu machen. Überall auf jenen freien Flächen lagen umgeknickte Bäume achtlos umgeworfen, teils von Farn und Moos überwuchert, teils aber noch frei von Unterholz, das gesplitterte Holz noch hell, als hätte erst kürzlich ein riesenhaftes Geschöpf sich seinen Weg durch den Wald gebahnt. Fei konnte nur hoffen, dass sie dem Urheber jener Breschen nicht über den Weg liefen...

Nachdem sie ein gutes Stück Weg zügig zurückgelegt hatten, brach Elly schließlich das Schweigen und sprach jene Frage aus, die sie seit ihrer Begegnung beschäftigte.
"Fei..." begann sie, "Gestern hast du gesagt, dein Leben wäre wertlos... Was ist geschehen, dass du derart die Hoffnung verloren hast?"
Er blieb stehen und sah sie an. "Warum fragst du?" entgegnete er.
"Warum?" Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. War es nicht offensichtlich weshalb sie fragte? "Gestern hast du gewirkt, als wolltest du am Liebsten auf der Stelle sterben. Glaubst du etwa, dass ich mir keine Gedanken darüber machen würde...? Was hat dich überhaupt erst so tief hier in den Wald verschlagen?"
"Das gleiche könnte ich dich fragen," erwiderte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
"Nun, ich..." versuchte sie eine Antwort zu finden. Was sollte sie ihm sagen? Es fiel ihr immer noch schwer, sich selbst einzugestehen, dass sie tatsächlich zur Flucht gezwungen worden war. Außerdem war sie nicht sicher, ob sie ihm Einzelheiten über ihren Auftrag anvertrauen konnte. Sie war heilfroh, als er von sich aus weitersprach und ihr vorerst die Antwort ersparte.
Er blickte bedrückt zu Boden. "Ich... bin weggerannt..." sagte er abwesend mit plötzlich brüchig gewordener Stimme, als widerstrebte es ihm, sich die Ereignisse wieder in Erinnerung zu rufen, "von meinem Dorf... oder dem, was davon übrig ist..."
"Was davon übrig ist? Du meinst nicht etwa..." Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr hoch. War die Schlacht etwa tatsächlich so eskaliert? War es vergeblich gewesen, dass sie das Gear aufgegeben hatte? Natürlich hatte sie es in erster Linie getan, um sich selbst zu retten, doch sie hatte gehofft, auf diese Weise auch dem Dorf die Konsequenzen eines Kampfes zu ersparen.
"...Lahan... Es war ein kleines Dorf, das zwischen dem Wald und der Gebirgskette gelegen war. Ich bin von dort weggerannt."
"Dieses Dorf...?" Sie wollte es einfach nicht glauben, doch die Beschreibung passte perfekt und dieser Teil Ignas' war zu spärlich bewohnt, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte.
"Es war ein friedliches Dorf. Es war nicht besonders groß, aber vielleicht war es gerade das, was den Frieden ausmachte. Alle behandelte mich, als gehörte ich zu ihrer Familie. Um nichts in der Welt hätte ich Lahan verlassen wollen, natürlich, vielleicht, eines Tages, aber nicht so..." Er hielt kurz inne, ehe er verbittert fortfuhr. "Dann, letzte Nacht, landete eine Gruppe von Gears und begann ein Gefecht, mitten zwischen den Häusern. Das Dorf, meine Heimat, stand in Flammen. Ich konnte nicht einfach nur dastehen und zusehen, wie Lahan zerstört wurde...
Also habe ich in dem Versuch, die Leute aus dem Dorf zu retten, ein verlassenes Gear bestiegen... ohne auch nur zu wissen, wie man es steuert. Ich dachte einfach, ich könnte etwas tun... nein, es war mehr wie ein Ruf, eine Stimme, die mir zuflüsterte, ich sollte es tun... Aber endete in einer Katastrophe... Das Dorf..." Er brach ab.
"Was ist geschehen?" forschte Elly. "Hat Kislevs Armee das Dorf zerstört?"
"Nein..." antwortete Fei leise, "Ich... habe es zerstört..."


"Was...?" Sie starrte ihn fassungslos an. Sie konnte einfach nicht, wollte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte.
"Ja," fuhr er mit gesenktem Blick fort, "Ich habe es getan. Ich bin mir völlig sicher, ich habe keinen Grund mehr, daran zu zweifeln. Ich habe Lahan zerstört..."
"Was soll das heißen, du hast es zerstört?" Sie hatte sich wieder halbwegs gefangen, "Ich dachte, du hast versucht, den Leuten zu helfen?"
"Genau, ich habe es versucht. Ich konnte sogar einige Gears außer Gefecht setzen, bis ihr Anführer, oder was immer er auch war, mit Verstärkung auftauchte und sie mich unter Beschuss nahmen... Und dann..." er hielt inne, sein Blick irrte suchend über das niedrige Gestrüpp, das den Weg hier für sich erobert hatte und wieder zurück zu Elly, als suche er etwas, woran er sich festhalten konnte. "...geriet mein bester Freund, Timothy, in einen Kugelhagel..." Er holte tief Luft, ehe er mit heiserer Stimme fortfuhr, "Was danach passierte, weiß ich nicht. Es wurde einfach alles schlagartig dunkel, als hätte jemand versucht, mich in die Tiefe zu zerren... Das Gear geriet außer Kontrolle, zumindest hat Doc das gesagt... Als ich zu mir kam... war das Dorf und alle Leute... Alice... sie war so... Alice und Timothy... O mein Gott! Alle aus dem Dorf! Alle, die ich gekannt habe, alle, die mir je..." Er brach ab.
"...geriet außer Kontrolle?" wiederholte Elly leise, "Das Gear geriet außer Kontrolle? Was ist mit dem Dorf? Fei...!"
"Ja, das Gear," er blickte ihr mit einem Mal fest in die Augen, "Wenn sie nur bloß nicht gekommen wären... Wenn sie nur nicht in Lahan gelandet wären..."
Elly versuchte, die einzelnen Puzzleteile, die Fei ihr hingeworfen hatte, zusammenzufügen und das Ganze ergab mittlerweile ein ziemlich beunruhigendes Bild. Sie dachte zurück an den Augenblick, als sie über den ersten Ausläufern des Waldes abgestürzt waren, sie und der Rest des Kommandos. Sie hatte den Verlauf des Kampfes nicht mitangesehen, hatte sich augenblicklich zurückgezogen und ihren Kameraden signalisiert, es ihr gleich zu tun. Alles, was sie gesehen hatte, war, wie sich, als der Hügel ihr bereits fast die Sicht nahm, das entführte Gear wie ein entfesselter schwarzer Dämon über der Anhöhe erhob. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, außer, dass der Feind sich sein Eigentum offensichtlich zurückgeholt hatte, doch jetzt ergab plötzlich alles einen Sinn, auch der helle Lichtblitz, der selbst das Dunkel des Waldes taghell erleuchtet hatte, das dumpfe Grollen, das der Wind an ihr Ohr getragen hatte... Sie hätte wissen müssen, das etwas passiert war...
"Wenn sie nur niemals in unser Dorf gekommen wären," fluchte Fei indessen mit stetig anwachsender Stimme, "Hätten sie nur nie dort ihren Kampf begonnen... dann hätte ich nicht versucht, das Gear zu steuern... Es ist deren Schuld, nicht meine! Sie sind dafür verantwortlich! Wenn sie nur niemals gekommen wären... Nichts von alledem wäre... Wenn nur sie nicht gewesen wären!" Er wandte sich um und schlug wie besessen auf den nächstgelegenen Baum ein, dass die Äste über ihnen knarrend erzitterten. Er schrie jetzt, dass seine Stimme von den Tiefen des Waldes widerhallte. "Wenn nur sie nicht gewesen wären!!"
"Das reicht!" fuhr Elly ihn an. Sie war selbst verwundert über die plötzliche Schärfe ihrer Stimme, doch sie ignorierte Feis überraschten Blick und fuhr unbeirrt fort. "Du bist ein Feigling!"
"Ich...?" entgegnete er langsam, "Ein Feigling?"
"Genau, du bist nichts weiter als ein Feigling. Alles was du sagst ist 'wenn sie nicht gekommen wären', alles, was du tust, ist, die Schuld auf andere zu schieben. Tu nicht so, als ob du keine Verantwortung dafür tragen würdest."
"Ich trage die Verantwortung? Aber..." begann er, doch sie schnitt ihm das Wort ab, sie wollte sich jetzt nicht unterbrechen lassen, wollte sich nicht ihre plötzliche Energie nehmen lassen.
"Ja, so ist es. Natürlich war die der direkte Auslöser des Gefechts, dass eine Gruppe von Gears in eurem Dorf notlanden musste. Aber alles, was Kislev wollte, war doch das Gear, oder? Es war keine Invasion, sie waren nicht darauf aus, Lahan zu zerstören. Die wirkliche Katastrophe passierte erst, als du unbedingt in ein Gear klettern musstest und versucht hast, zurückzuschlagen."
Fei entgegnete nichts mehr, sah nur noch betroffen an ihr vorbei.
"Warum überhaupt hast du das Gear bestiegen? Nicht jeder beliebige Surface Dweller kann die Maschinen einfach steuern! Es braucht jahrelanges Training! Es besteht keine Möglichkeit, dass ein Zivilist sie auch nur ansatzweise kontrollieren könnte! Abgesehen davon hättest du stattdessen besser den anderen Dorfbewohnern helfen sollen, sich in Sicherheit zu bringen. Wie kannst du dem Gear die Schuld geben, wenn du es warst, der überhaupt erst beschlossen hat, zu kämpfen? Warum übernimmst du nicht selbst die Verantwortung? Warum schiebst du die Schuld auf andere? Alles, was du tust, ist davonzulaufen! Das ist es, was dich zu einem Feigling macht!"
"Nun, wenn du es so ausdrückst...," entgegnete er verbittert, "Ja, es stimmt, ich bin ein Feigling. Ich war mir meiner eigenen Stärke nicht bewusst und habe andere für die Folgen verantwortlich gemacht. Ich bin eine Schande für einen Mann. Aber... Ich verspürte einfach diesen betäubenden Blutrausch, ich konnte nichts dagegen tun! Ich konnte mir nicht helfen... Konnte niemandem helfen..." Er ließ sich kraftlos gegen den Baumstamm sinken, gegen den er noch wenige Momente zuvor wie von Sinnen gehämmert hatte, und verbarg das Gesicht in den Händen.
"Ich... Es... tut mir leid," sagte Elly leise. Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war.
"Halt den Mund!" schrie er mit tränenerstickter Stimme, "Was weißt du schon! Als ich zu mir kam, lag um mich alles in Trümmern... Ich wusste nicht, was geschehen war oder was ich getan hatte. Ich konnte mich an rein gar nichts erinnern. Alles, was ich wusste, war, dass meine Hände immer noch fühlen konnten, was sie getan hatten. Das einzige, was die Panzerung des Gears durchdrungen hatte, waren Schreie gewesen. Schreie, gepaart mit dem Gestank von Blut, dem Krachen von Knochen und meinen eigenen Verwünschungen..." Er streckte ihr die Hände entgegen. "Sieh! Sieh auf meine Hände! Siehst du es? Verstehst du dieses Gefühl? Das Gefühl, deine eigene Heimat zerstört zu haben...? Nichts für die Kinder tun zu können, die zurückgelassen wurden...? Sie haben jetzt nichts mehr... Ich habe nichts mehr... habe keinen Ort, an den ich gehöre... niemanden... Glaubst du wirklich, ich wollte, dass es dazu kommt? Ich hatte keine Wahl... Es gab keinen anderen Weg..."
Sie blickte ihn lange an, auf der Suche nach etwas, was sie sagen könnte, doch alles, was ihr in den Sinn kam, erschien ihr jämmerlich und unangebracht. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ließ Fei allein zurück.

Die Wunden der umgestürzten Bäume wurden mit der Zeit frischer, das gesplitterte Holz heller, während Elly den Weg entlang schritt.
Warum hatte sie das alles zu ihm gesagt? Sie hätte es nicht sagen dürfen, sie war zu weit gegangen. Sie hatte kein Recht gehabt, so mit ihm zu reden. Wahrscheinlich hatte sie einfach nur nicht gewollt, dass er unwissentlich so über sie und ihre Kameraden redete, aber das war noch lange kein Grund, ihm derartige Vorwürfe zu machen.
Ein flüchtiges Bild zog an ihrem inneren Auge vorbei, eine Erinnerung, die sie lieber vergessen hätte. Es war so erschreckend nahe, als wäre es erst vor wenigen Augenblicken geschehen, die leeren vorwurfsvollen Blicke der Toten, die mit unnatürlich verrenkten Gliedern auf dem kühlen, von im trüben Licht der Notbeleuchtung dunkelrotem Blut überfluteten, Stahlboden lagen, die Mienen immer noch von Schmerz und Entsetzen verzerrt. Und inmitten dieser grausamen Szenerie ihre eigenen blutüberströmten Hände, doch nicht von ihrem eigenen.
Sie hatte es nicht aus freiem Willen getan, sie hatte schlicht keine Kontrolle über sich gehabt. Sie hatte damals alles getan, um sich selbst zu beweisen, dass nicht sie für den Vorfall verantwortlich gewesen war. In gewissem Sinne hatte sich ihre Situation damals nicht sehr von der unterschieden, in der Fei sich jetzt befand.
Sie verdrängte die Erinnerung und warf einen Blick in die Runde. Vielleicht war es falsch gewesen, Fei zurückzulassen und auf eigene Faust den Wald zu durchqueren, doch sie hatten seit gestern ein gutes Stück des Forstes durchquert und die Umgebung wurde zunehmend verheißungsvoller, dass sie sich dem jenseitigen Waldrand näherte. Sie konnte noch nicht weit gekommen sein, doch es war bereits heller geworden und die Bäume hatten sich zunehmend gelichtet, immer wieder durchzogen von anderen gewaltsam geschaffenen Schneisen, die den Weg kreuzten.
Vor ihr weitete sich der Wald zu einer kleinen sonnendurchfluteten Lichtung, hohes Gras bedeckte die offensichtlich schon seit langer Zeit hier ruhenden Gerippe umgestürzter Bäume, Farn wucherte zwischen den vereinzelt noch wie Felsen in der Brandung stehenden Baumgrüppchen und unter den mächtigen Stämmen der einst stolzen Eichen des Neumondwaldes. Friedliche Stille hing in der Luft – zu friedlich beinahe. Es fehlte jeglicher Laut neben dem verstohlenen Rascheln des Windes in den Blättern, kein Summen von Insekten noch der selbst im düsteren Herz des Waldes gegenwärtig gewesene Vogelgesang. Nein, dies war nicht die friedliche Stille einer verborgenen Waldlichtung – es war die Ruhe vor dem Sturm.
Rein instinktiv tastete ihre Hand nach dem Revolver an ihrem Gürtel. Vielleicht war es nur ihre Einbildung, doch sie vermeinte, Schritte von jenseits der Lichtung zu vernehmen, meinte, ein dumpfes Beben im Grund zu spüren. Mit einem Mal wurden ihr bewusst, dass diese Lichtung im wuchernden Dickicht des Waldes von selbst niemals hätte bestehen können. Etwas hatte diese freie Fläche geschaffen und dafür gesorgt, dass sie nicht binnen kurzem wieder verschwand. Indessen war das Geräusch schwerer Schritte und berstenden Holzes unverkennbar geworden. Sie wünschte sich bereits, nicht am vergangenen Abend den einen Schuss abgefeuert zu haben; was immer sich hier näherte, machte nicht den Eindruck, als ließe es sich so leicht beeindrucken wie die marineblauen Geschöpfe der vergangenen Nacht.
Gleich wie, sie konnte nicht hier bleiben und abwarten, bis der Urheber des anwachsenden Tumults sie entdeckt hatte. Immer noch den Revolver schussbereit umklammert zog sie sich in den Schatten der Bäume zurück und schlich so leise es ihr möglich war um die freie ungeschützte Fläche herum auf die jenseitige Waldmauer zu. Sie bemerkte ihren Fehler erst, als es bereits zu spät war. Die Schritte kamen nicht von der anderen Seite der Lichtung...
Begleitet von dem Getöse splitternden Holzes und fallendem Geäst brach die gewaltige Echse zwischen den Bäume direkt neben ihr hervor; irgendetwas schleuderte sie hinaus auf die Lichtung und auf den Rücken. Die Wucht des Aufpralls nahm ihr den Atem und für kurze Zeit legte sich ein schwarzer Schleier über ihre Augen, doch sie langte sofort nach der Kanone und feuerte alle verbliebenen Projektile auf das bis fast zu den Baumkronen aufragende Ungeheuer ab, ohne jedoch mehr zu bewirken, als dass das Tier einen wütenden markerschütternden Schrei ausstieß und dabei eine Reihe messerscharfer dolchartiger Zähne entblößte. Hastig rappelte sie sich auf und wich vor der Echse zurück, die sich nun beinahe auf ihre Vorderbeine herabgelassen hatte und sich ihr mit gesenktem Schädel näherte, sodass ihr der heiße Atem der Kreatur entgegenschlug.
Mit einer letzten verzweifelten Geste hob sie schützend die Arme über den Kopf und bereitete sich auf die Begegnung mit den rasierklingenartigen Krallen des Geschöpfes vor...

Der angsterfüllte Schrei schreckte Fei aus seinen Gedanken hoch. Ohne einen Moment zu zögern sprang er auf und rannte in die Richtung, aus der Ellys Hilferuf gekommen war. Die majestätischen Stämme zu beiden Seiten des Weges verschwammen regelrecht, während er vorwärts stürmte. Er hätte sie nicht alleine gehen lassen dürfen. Er konnte nur hoffen, dass er noch rechtzeitig kam.
Als er auf die kleine Lichtung hinausstürmte, lag Elly zusammengekrümmt zwischen den von Farn und Moos überwucherten Stämmen einstiger Baumriesen, über sie gebeugt ein mächtiges echsenartiges Geschöpf, die grausamen Zähne gebleckt. Er kannte diese Kreaturen nur aus den Berichten des Docs, Wesen, die ihm erschreckend und faszinierend zugleich erschienen waren. Doch jetzt, wo er einem leibhaftigen Rankar gegenüberstand, war wenig von der einstigen Faszination über jene wilden Kreaturen geblieben.
"Elly!" schrie er, während er auf sie zurannte, ungeachtet der riesenhaften Echse. Der Rankar wandte sich, aufgeschreckt von der Untersuchung seines potentiellen Opfers, blitzartig dem unerwünschten Neuankömmling zu und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Soweit Fei erkennen konnte, war Elly am Leben, doch nicht bei Bewusstsein.
Entschlossen wandte Fei sich um und rannte auf den Rankar zu. Wie von Sinnen sprang er die Riesenechse an, legte all seine Kraft in die Sprungattacke und drosch, nunmehr an den Hals des Ungetüms geklammert, auf seinen massiven Schädel ein, als existiere nichts anderes mehr auf der Welt, ohne jedoch die Echse zu beeindrucken.
Mit einer Leichtigkeit, die ihn beinahe elegant erscheinen ließ, schüttelte der Rankar den Angreifer ab und warf ihn unsanft zu Boden. Unbeirrt rappelte Fei sich wieder auf und setzte zu einem erneuten Angriff an, als plötzlich Motorenlärm über der Lichtung erklang, leise zunächst, doch schnell anschwellend, ehe sich ein Schatten vor die Sonne schob, gefolgt von einer Sturmböe, die über das hohe Gras hinwegfegte. Der Rankar hielt für einen Moment inne, um die bizarre Gestallt zu untersuchen.
Als Fei aufblickte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Direkt über ihnen hing eine im Sonnenlicht hell funkelnde krabbenartige, metallene Konstruktion, die vielgelenkigen Beine unter dem Rumpf gefaltet, die sich mit flirrenden Rotorblättern in der Luft hielt – im Schlepptau das schwarze Gear, das Lahan vernichtet hatte. Eine vertraute Stimme klang aus der Landkrabbe herüber.
"Fei!" rief Citan, als er sich über den Rand des absonderlichen Gefährts beugte und zu ihnen herunterblickte. "Ich habe dich bereits gesucht!" Er erblickte den Rankar und erfasste die Situation augenblicklich. "Hier! Du kannst das hier benutzen!" Damit löste er die Verankerung des Gears und der stählerne Gigant stürzte wie ein lebendiger Schatten auf die Lichtung nieder, fing seinen Sprung selbständig ab und verharrte in der typischen Landeposition auf ein Knie herabgesunken.
Fei blieb stehen wie versteinert, den Blick auf die nachtschwarze, von dunklem Blau durchzogene, Rüstung des Gears gebannt. Er sah zu der in der Luft schwebenden Landkrabbe auf. "Hey! Warte mal eine Sekunde!" rief er, "Du erzählst mir, ich soll dieses Ding benutzen? ...Elly... Verdammt! Doc! Ich muss dich um einen Gefallen bitten! Ich werde diese Bestie bezwingen! Aber..." er warf einen Blick auf die unmissverständlichen glänzenden Metallläufe, die an den Flanken der Krabbe verliefen, "Sollte es so aussehen, als würde ich außer Kontrolle geraten wie letztes Mal – erschieß mich!"


"Dann lass uns beten, dass es nicht so weit kommt," antwortete Citan ernst. Fei nickte entschlossen, sprang über einen von Farn und Moos überwucherten Baumstamm und erklomm hastig den stählernen Giganten, so wie er es schon einmal getan hatte, während Citan die Landkrabbe über das Haupt des Rankars hinweg lenkte, um die Kreatur lange genug abzulenken, bis Fei zum Gegenangriff übergehen konnte.
Als er sich etwa auf halber Höhe der Maschine befand, glitten die massiven Brustplatten mit einem hohlen Pochen wie von Geisterhand zur Seite, eine einladende Geste, als wolle ihn das Gear auf diese Weise willkommen heißen. Er holte tief Luft und kletterte ins Innere des Stahlgiganten. Dämmerung umfing ihn, als sich die Luke hinter ihm schloss und das einfallende Licht ruckartig abschnitt. Es war ein seltsames Gefühl, als er sich wieder in den Steuersessel fallen ließ und die Finger um die Kontrollgriffe schloss, das kühle Metall unter seinen Händen fühlte, der Anblick der sanft glühenden Statusanzeigen – als hätte er dies schon unzählige Male getan, als wären er nicht erst zwei Tage, dass er auch nur ein Gear zu Gesicht bekommen hatte.
Instinktiv flitzten seine Finger über die Kontrollen, betätigten die Sensorfelder, korrigierten die Schalthebel und gleichzeitig erhob sich der Gigant knirschend aus seiner demütig knienden Ehrfurchthaltung. Citan zog sich wie auf Kommando von der Echse zurück, die in voller Größe nahezu das Gear überragte, um Fei Raum zur Attacke zu verschaffen. Ein vermodernder Baumstamm, der einst einer stolzen Eiche gehört haben mochte, zersplitterte lautstark unter dem enormen Gewicht des Gears, als Fei einen Schritt zurücktrat, um etwas Abstand zu gewinnen, bevor er vorwärts sprang und zum Angriff ansetzte.
Der Rankar gab ein überraschtes schmerzerfülltes Knurren von sich, als er vorwärts schnellte und in einer flinken Drehung das gepanzerte Bein des Stahlkolosses in die Flanke der Kreatur krachen ließ. Selbst durch die Barriere von Stahl und Glas hindurch konnte er das Knirschen gebrochener Knochen vernehmen, doch die Bestie ließ sich nicht sonderlich davon beeindrucken, sondern fuhr nur behände herum und versetzte dem Gear einen Schwanzhieb, der es beinahe von den Beinen gefegt hätte. Fei fühlte beinahe, wie das Metall des Kniegelenks der Maschine splitterte und es kostete ihn einige Mühe, einen Sturz zu verhindern. Ehe er sich ganz gefangen hatte, nutzte der Rankar auch schon den kurzen Moment der Ablenkung aus und rammte seinen wuchtigen Schädel derart heftig gegen die Brustpanzerung des Gears, dass er unkontrolliert einige Schritte zurücktaumelte. Er sah ein, dass es unter den gegebenen Umständen keinen Zweck hatte, sich auf einen Nahkampf einzulassen, die Gefahr war zu groß, dass Elly dabei verletzt würde.
Seine Finger krampften sich um die Kontrollen der beiden Etherkanonen, als er hinkend zurückwich, er entsicherte den Auslöser, aktivierte die Energiezufuhr. Synchron mit seinen eigenen Bewegungen breitete das Gear seitlich die Arme aus, verharrte einen kurzen Moment in der Position, ehe es in einer grazilen fließenden Bewegung die Fingerspitzen aneinander legte und, die metallenen Finger durchgestreckt, die Arme dem etliche Meter entfernten Rankar entgegenreckte.
Dem Gear war die knisternde Anspannung deutlich anzusehen, die durch sein stählernes Skelett lief, als müsste es sich selbst vollständig auf die Attacke konzentrieren. Die Luft begann zu flimmern, als sich der Ether um die klauenartigen Kanonen verzerrte, dünne weiße Lichtfäden tanzten geisterhaft über das dunkle Metall. Von allen Richtungen her strömte der als bläuliches Licht sichtbar gewordene Ether auf die gespreizten Finger des Giganten ein, vereinte und verdichtete sich zu rasch anwachsender ungebändigter Energie, lebendiges pulsierendes Licht, das einen hellen Widerschein auf die nachtschwarze Panzerung der Maschine warf.
Das tobende Schauspiel endete plötzlich und schlagartig, als sich die aufgestauten Energien in einem blendenden Lichtblitz entluden. Gleißende Flammen, ein Strahl flüssigen Feuers, schossen auf die Bestie am anderen Ende der Lichtung zu. Jede Reaktion des Rankars kam zu spät, als das entfesselte Inferno über ihn hereinbrach, hungrig und verzehrend, und ihn trotz seiner ungeheuren Größe widerstandslos rückwärts schleuderte. Mit einem letzten markerschütternden Aufschrei brach die Kreatur zusammen und blieb regungslos liegen.
Fei gönnte sich keine Atempause und sprang sofort auf, hechtete zur Luke und kletterte hastig die äußere Hülle des Gears hinab. Als er sich noch ein gutes Stück über dem Boden befand, löste er den Griff von den Sprossen, ließ sich hinab ins hohe Gras fallen und stürzte hinüber zu Elly. Erst als er neben ihr kniete und sich vergewissert hatte, dass sie weitgehend unverletzt war, abgesehen von einigen Spuren, die die Klauen des Rankars auf ihrem rechten Arm zurückgelassen hatten, bemerkte er, dass Citan inzwischen die Landkrabbe am Rand der Lichtung gelandet hatte und auf sie beide zuschritt.
"Fei!" rief er ihm entgegen," Bist du in Ordnung?"
"Ja... Ich denke schon," antwortete er, während er sich erhob.
Citan blieb vor ihm stehen und blickte von Fei zu dem Stahlgiganten, der erstarrt hinter ihm aufragte. "Dieser Kampf mit dem Rankar war beachtlich," bemerkte er, "Ein gewöhnliches Gear hätte nicht die geringste Chance gehabt gegen diese Kreatur."
Fei wandte sich um und folgte seinem Blick. "Warum hast du es hierher gebracht, Doc?" fragte er.
"Das...? Du meinst Weltall?"
"Weltall? Wovon redest du? Das ist das Gear, das unser Dorf zerstört hat. Warum hast du überhaupt daran gedacht, es hierher zu bringen?," seine Stimme gewann einen bitteren Unterton, "Ich möchte nie wieder ein Gear auch nur sehen müssen..."
"Ich verstehe, wie dir zumute ist," antwortete Citan ruhig, "Aber um dich selbst zu schützen, benötigst du ein gewisses Maß an Stärke, gerade jetzt, wo wir verfolgt werden."
"Es mag schon sein, dass man Stärke braucht, um sich selbst zu verteidigen. Und wenn dieses Gear hier nicht gewesen wäre, wären Elly und ich jetzt bereits..." Er sah keine Notwendigkeit, den Gedanken weiter auszuführen. "Aber seine Kraft geht weiter über das hinaus, was notwendig ist. Ist es denn wirklich nötig, die Macht zu besitzen, alles zu zerstören?" Darauf entgegnete Citan nichts. Er hatte selbst die verheerenden Auswirkungen gesehen, die der Etherstrahl auf den Rankar gehabt hatte. Der Gestank von versengtem Fleisch hing immer noch stechend in der Luft und dort, wo die geballte Energie des Ethers über die Kreatur hereingebrochen war, war das Gewebe bis auf die Knochen verbrannt.
Fei wandte den Blick von dem Gear ab, das der Doktor Weltall genannt hatte. "Ich brauche keine solche Macht..." fuhr er düster fort, "Ich hasse Gears einfach nur."
Citan blickte ihn ernst an. "Aber Macht zu benutzen oder von Macht benutzt zu werden... Ist das nicht eine Frage des Herzens? Wenn die Menschen ihre Macht nicht falsch einsetzen würden, könnte viel Gutes aus ihr entspringen... Ich glaube daran, dass diese Macht uns helfen könnte. Und was das betrifft, weiß ich, dass ich mir um dich keine Sorgen zu machen brauche." Er lächelte aufmunternd. "Außerdem hat es dir diesmal tatsächlich geholfen, nicht wahr?"
"Ich würde es nur zu gern glauben... Aber da ist etwas, das mich zurückhält. Dieses Gear... Wie auch immer... Wenigstens ist Elly jetzt in Sicherheit."
Citan blickte auf die junge Frau hinab. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig, der Ausdruck auf ihrem Gesicht war geradezu friedlich. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung geriet in ihre Glieder, leise ächzend tastete sie über den Boden, als versuche sie, irgendwo Halt zu finden.
"Sie scheint zu sich zu kommen," bemerkte Citan überflüssigerweise, analytisch wie immer, als sie schließlich die Augen öffnete und ihm direkt in die Augen blickte. Ein überraschter Laut entkam ihren Lippen und sie warf einen fragenden Blick auf Fei.
"Ich bin Citan," ergriff der Doktor sogleich das Wort, "Ein alter Freund von Fei. Du bist gerade noch davongekommen. Du kannst von Glück sagen, dass Fei so schnell reagiert hat. Wenn er nicht geholfen hätte, ich möchte gar nicht daran denken, wie die Sache hätte ausgehen können. Obwohl ich nicht allzu begeistert war von seiner Übereiltheit, einen Rankar mit bloßen Fäusten erlegen zu wollen."
Ihre Augen weiteten sich. "Mit bloßen Fäusten...?"
"Nun, ich bin jedenfalls froh, dass ihr einen Nutzen dafür gefunden habt, was ich euch gebracht habe," setzte er unbeirrt fort.
Sie richtete sich auf und folgte seinem Blick, als sie den gewaltigen Schatten bemerkte, der ein Stück hinter ihr aufragte. Sie erstarrte und blickte ihn entgeistert an. "Was..." begann sie.
"Sagen wir einfach, wir leihen uns das aus, was die Kislev-Armee zurückgelassen hat..." entgegnete er ruhig.
"Oh..." Sie wollte ihren Augen kaum trauen. Was hier stolz und aufrecht auf der Lichtung stand, war eben jenes Gear, das sie bereits verloren geglaubt hatte. Und doch, mit einemmal fühlte sie sich, als hätte sie kein Anrecht mehr auf die Maschine, nicht etwa weil sie Kislevs Truppen entwendet worden war, es war ein viel unbestimmteres Gefühl, so als fühlte sie sich mitschuldig daran, was dieses Gear an Zerstörung und Leid über Lahan gebracht hatte. Dennoch war es dieses Gear, das sie vor den messerscharfen Reißzähnen des Rankars bewahrt hatte?
"Danke, Fei," wandte sie sich an ihn, "Das war das zweite Mal..."
"Nicht der Rede wert." Er grinste. "Ich setz es einfach auf deine Liste." Sie konnte nicht anders, sie musste bei der Bemerkung einfach lachen. Während der vergangenen Tage hatte sie beinahe vergessen, was für ein Gefühl das war. Und innerlich war sie auch froh, dass Fei, zumindest rein äußerlich, endlich seine Niedergeschlagenheit überwunden hatte, was jedoch nichts an den nagenden Gewissensbissen änderte, die sie angesichts ihrer scharfen Reaktion vorhin empfand. Sie nahm sich vor, es wieder gut zu machen.
"Es wird bald dunkel," ließ sich Citan vernehmen. "Es hat keinen Sinn, heute noch weiter zu gehen. Ich würde vorschlagen, wir machen hier Rast und brechen morgen früh zum Waldrand auf. Soweit ich auf dem Weg hierher erkennen konnte, sind es nur noch ein paar Wegstunden. Ihr seht beide müde aus und ich kann die Zeit nutzen, um unseren Freund hier instand zu setzen," fügte er mit einer Geste auf das schwarze Gear hinzu.
Die Sonne begann bereits hinter den Wipfeln zu versinken und blinzelte nur hier und da noch vereinzelt durch die dichten Baumkronen ringsum. Die Schatten wurden länger und das Licht schwand sehr bald und die Lichtung wurde in samtenes Dämmerlicht gehüllt. Es dauerte nicht lang, bis Fei erschöpft von den Ereignissen des Tages einschlief.

Die Nacht war friedlich und still, unterbrochen nur vom eintönigen Lied der Grillen und gelegentlichen metallischen Geräuschen, die von einem riesenhaften menschenähnlichen Schatten herrührten, der bewegungslos am Rand der freien mondbeschienenen Fläche Wache hielt.
"Es hat keinen Zweck," murmelte Citan leise vor sich hin, "Das Kniegelenk und der Bypass-Schaltkreis sind beide beschädigt. Das Gelenk lässt sich reparieren, aber der Schaltkreis macht mir Sorgen... Ohne Ersatzteile wird nichts daran zu machen sein."
Er seufzte, knipste die Arbeitslampe aus und kletterte die Stahlkonstruktion hinab. Unten angekommen bemerkte er Elly, die das Gear nachdenklich beobachtete. Er verstaute Lampe und Werkzeug in der Landkrabbe und schritt auf sie zu.
"Oh, hast du Probleme, hier einzuschlafen?" fragte er.
"Ja..." antwortete sie abwesend.
"Das dachte ich mir. Du hast einen ereignisreichen Tag hinter dir. Das ist die Maschine, die Fei steuerte, als das Dorf angegriffen wurde," erläuterte er und deutete auf den stummen Giganten, der im milchigen Mondlicht gespenstisch gen Himmel aufragte. "Das Gear befand sich verlassen am Rand des Dorfes." Sein Tonfall änderte sich plötzlich, als er in ihre Sprache überwechselte. "Es war deines, nicht wahr?" flüsterte er.
Sie blickte ihn erschrocken an. "Genau wie ich dachte...," fuhr er, jetzt wieder in der Sprache Ignas', fort. "Der verschwundene Pilot des notgelandeten Gears... und die mysteriöse Frau, die allein im Wald herumirrte... sind tatsächlich ein und dieselbe Person. Wenn ich mir deine Uniform ansehe, würde ich außerdem sagen, dass du zum Militär gehörst... Hab ich recht?"
"Woher... Wer bist du?" fragte sie unsicher. Sie war verwirrt; die Art, wie er sprach, wirkte nicht bedrohlich, erweckte nicht den Eindruck, als wolle er sie an Kislev ausliefern oder seinen eigenen Nutzen daraus ziehen, außerdem vertraute sie ihm, immerhin hatte er sie und Fei vor dem Rankar gerettet. Andererseits verfügte er über Kenntnisse, die selbst einer ihrer Leute nicht ohne mühselige Nachforschungen durchschaut hatte.
"Ich habe die Identitätsschilder der Soldaten überprüft, die in der Attacke auf Lahan ums Leben gekommen sind. Das Zeichen auf deiner Uniform ist identisch."
Ein frostiger Schauer durchfuhr sie. Hatten ihre Kameraden es also nicht geschafft, rechtzeitig zu entkommen.
"Mach dir keine Sorgen," setzte er fort, als hätte er ihre Gedanken erraten, "Sie haben alle ein ordentliches Begräbnis erhalten. Allerdings werden sie nicht allzu erfreut gewesen sein, in einem fremden Land zu sterben."
"...vielleicht," antwortete sie unbestimmt, immer noch nicht sicher, was sie von der ganzen Sache halten sollte.
"Weiß Fei von dir?" fragte er.
"Ich glaube nicht, dass er es bisher bemerkt hat," erwiderte sie.
"Höchstwahrscheinlich nicht..." meinte Citan nachdenklich, "Fei weiß kaum etwas über die Welt außerhalb von Lahan."
"Verstehe... Woher also..."
"In jedem Fall halte ich es für besser, wenn wir nicht mehr in unser gegenseitiger Vergangenheit wühlen."
"Aber..."
"Sagen wir einfach, ich weiß mehr über die Welt bescheid, als die meisten," antwortete er schlicht, "Jedenfalls möchte ich dich um einen Gefallen bitten, Elly."
"...Was für einen Gefallen?" fragte sie vorsichtig.
"Halte dich einfach weiter an den Weg geradeaus. Du wirst dann auf eine Straße stoßen, der du einfach nur weiter nach Westen zu folgen brauchst... Würdest du uns bitte verlassen, bevor Fei aufwacht?"
"Was?" Sie erkannte nicht ganz den Sinn hinter dieser Bitte.
"Unglückliche Dinge geschehen um Fei herum," erklärte er ernst, "Ich möchte versuchen, ihn wenn möglich zu beschützen... Ich will nicht, dass er unnötigerweise in irgendwelche sinnlosen Konflikte hineingezogen wird. Ich sage das auch um deinetwillen, Elly. Du gehörst nicht hierher. Geh zurück zu deiner Familie."
"Aber... Ich..." Wie sollte sie ihm nur klarmachen, weshalb sie nicht gehen konnte, jedenfalls nicht sofort?
"Mach dir keine Sorgen," beschwichtigte Citan, der ihr Zögern falsch interpretierte, "Ich werde Fei nicht erzählen, wer du wirklich bist. Ich werde ihm einfach erzählen, dass du zurück zu deiner Familie gegangen bist."
"Das ist es nicht," erwiderte sie, "Ich habe etwas Schreckliches getan... Deshalb... wollte ich mich entschuldigen."
"Etwas Schreckliches?"
"Fei behauptete, es sei unsere Schuld gewesen, dass das Dorf zerstört wurde. Er sagte die ganze Zeit nur... wenn nur 'sie' nicht gekommen wären... Daraufhin nannte ich ihn einen Feigling, weil er versuchte, der Verantwortung zu entkommen... Aber in Wahrheit war ich es selbst, der versuchte, die Schuld nicht auf sich nehmen zu müssen... Wenn ich nicht dort abgestürzt wäre, würden sie jetzt alle noch in Frieden leben. All diese Leute wären nicht in diese Tragödie verwickelt worden. Doch ich gab Fei die Schuld..."
Citan sah sie lange und nachdenklich an. Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein. Er hatte bereits zuvor bemerkt, dass sie anders war, doch die Art und Weise, wie sehr sie sich das Schicksal eines Surface Dwellers zu Herzen nahm...
"Du bist eine Seltenheit, weißt du das?" sagte er schließlich. "Ich hätte nicht gedacht, dass einer von euch jemals so denken würde. Für euch sind die Surface Dweller doch nichts weiter, als zahme Nutztiere, oder etwa nicht?"
"Die Shepherds, Abel, übernahmen die Kontrolle über die Surface Dweller, Lambs," zitierte sie leise, "Sie besitzen das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, wie sie es für richtig erachten."
"Exakt," antwortete er, "Dennoch scheinst du dich Fei und den Dorfbewohnern gegenüber verantwortlich zu fühlen. Weshalb?"
"Ich bin mir selbst nicht sicher," überlegte sie, "Bei 'Jugend' erzählte man uns, die Surface Dweller seien nieder und primitiv... Und dass wir sie deshalb beherrschen müssten, zu ihrem eigenen Schutz... Aber..."
"Aber als du Fei getroffen hattest, hat dich etwas an ihm verunsichert, ob das tatsächlich der Wahrheit entspricht?"
"Ja," gab sie zu, "Er ist nicht anders, als wir selbst... Im Gegenteil, in gewisser Weise scheint er uns überlegen zu sein. Er besitzt etwas... Etwas, das uns fehlt. Er hat selbst sein Leben für mich riskiert... zweimal."
"Die meisten eurer Leute würden so etwas als Erniedrigung ansehen. Und dennoch bist du Fei dankbar?"
"Vielleicht ist es wegen meinem Vater. Er war gegenüber Surface Dwellern immer sehr aufgeschlossen. Unser Kindermädchen war ein Surface Dweller... Auch wenn niemand davon wusste. Davon abgesehen... bin ich genauso wie Fei..."
"Genauso?" Er sah sie fragend an.
"Nein, nicht weiter wichtig," entgegnete sie, "Mach dir keine Gedanken darüber."
Er nickte zustimmend. "Ich verstehe. Tut mir leid, wo ich doch gerade selbst sagte, wir sollten nicht in unserer Vergangenheit forschen. Es liegt einfach in meiner Natur, weißt du? Meine Frau sagt immer, ich bin zu aufdringlich und rede zuviel, auch wenn ich persönlich da anderer Meinung bin." Er hielt kurz inne, um den Faden wieder aufzunehmen. "Nun, in jedem Fall ist es wahrscheinlich das Beste, wenn du in dein Heimatland zurückkehrst. Du solltest wirklich nicht hier sein."
"Ich werde ins Hauptquartier zurückkehren...", entgegnete sie leise, "Aber was dann?"
"Du bist besorgt..." Es war eine reine Feststellung.
"Ja...", antwortete sie zögernd. Sie wusste nicht, was sie derartig aus der Bahn geworfen hatte, doch etwas in ihr hatte sich verändert, tief in ihrem innersten Selbst war eine Reaktion auf ihre Begegnung mit dem Surface Dweller erfolgt.
"Sich Sorgen zu machen ist nur natürlich", erwiderte der Doktor. "Es gab eine Zeit, da selbst ich mich gesorgt hatte."
"Ach, Citan." Sie wünschte, sie könnte zuversichtlicher sein, könnte dem Rat seiner ruhigen optimistischen Stimme folgen. Im Grunde genommen konnte sie ohnehin nichts tun, als ihren Weg zu gehen und abzuwarten, wie es weitergehen würde, wenn sie erst einmal wieder im Hauptquartier zurück wäre.
"Jedenfalls, überlass die Sache mit Fei mir", schloss Citan, "ich werde überlegen, was ich ihm am Besten sage." Er blickte in den klaren Nachthimmel hinauf. Die kalte silbrige Scheibe des Mondes kletterte langsam dem Horizont hinter den dunklen Wipfeln des Waldes entgegen und kündigte den nur noch wenige Stunden entfernten Anbruch des Morgens an. "Du solltest jetzt besser gehen..."
Elly war dankbar für die Art und Weise, wie er die Aufforderung eher als gut gemeinten Ratschlag erscheinen ließ denn als eine abweisende Geste. Sie erhob sich und nickte ihm zu. Es gab nichts mehr, was noch hätte gesagt werden müssen. Mit einem letzten entschuldigenden Blick auf Fei, der zusammengerollt, ins weiche Gras im illusionären schützenden Schatten eines uralten vermodernden Baumstammes gekuschelt, friedlich schlief, wandte sie sich ab und schritt auf den an jener Stelle etwas schmäleren Pfad zu, auf den Weg hinaus aus dem Wald, hinaus in eine ungewisse Zukunft.
Citan sah ihr nach, bis sie mit der Dunkelheit zwischen den mächtigen Stämmen verschmolz, die den Weg jenseits der Lichtung, jener einsamen Insel des Lichts in diesem Forst der Nacht, beiderseits säumten wie eine undurchdringliche Mauer, und vom Schlund der Finsternis aufgenommen wurde. Noch lange nachdem er sich selbst in das vom Kampf niedergetrampelte hohe Gras gebettet hatte, um doch noch etwas Schlaf zu finden, ging ihm nicht aus dem Kopf, was sie gesagt hatte. Im Grunde genommen waren die Surface Dweller nicht so verschieden von ihrem Volk. Ihre Worte hatten ihm einen Stich mitten ins Herz versetzt, hatten in ihm eine Erinnerung hervorgerufen an seine eigenen verlorenen Ideale. Es war jene Anschauung, die er so lange vermisst, die er so verzweifelt gesucht hatte, damals...
Er hüllte sich fester in seinen Mantel, um die kühle Nachtluft fernzuhalten und wälzte sich auf die andere Seite. Es hatte keinen Zweck, die verbleibenden Stunden damit zu verbringen, über gescheitertes Streben zu grübeln, er musste die Zeit nutzen, etwas Ruhe zu finden. Der Weg würde von nun an bestimmt nicht einfacher werden, wenn sie einmal den Wald verlassen hatten. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen...

pute703
05.02.2003, 05:50
III
Brennender Sand

Als Fei erwachte, saß Citan bereits über die Armaturen der Landkrabbe gebeugt, halb verborgen hinter der Karte Avehs, die er quer über den metallenen Rumpf gebreitet hatte. Die ersten schräg durch das dichte Blattwerk einfallenden Sonnenstrahlen huschten verspielt über die blanke Oberfläche des Vehikels und zeichneten verschlungene feurige Muster auf den silbrig glänzenden Stahl. Er richtete sich auf die Ellbogen auf und nahm die nähere Umgebung in Augenschein. Es war wie er erwartet hatte; von Elly fehlte jede Spur, lediglich das niedergedrückte Gras verriet, dass sie noch wenige Stunden zuvor nur wenige Meter von ihm entfernt gelegen hatte.
Er erhob sich, streckte sich herzhaft und schlenderte gemächlich auf das merkwürdig außerirdisch wirkende Vehikel zu. Citan blickte von der Karte auf, als er seine Schritte im federnden hohen Gras vernahm, und blickte ihm durch seine funkelnde Brille freundlich entgegen.
"Morgen, Fei", begrüßte er ihn, "Ich hab mir ein wenig Gedanken über unser weiteres Vorgehen gemacht, sobald wir..."
"Ist Elly schon fort?", unterbrach Fei ihn. Citan blickte ihn überrascht und leicht überrumpelt an. "Oh, du warst also wach?"
"Ja, ich bin mittendrin aufgewacht, deshalb hab ich nur teilweise mitbekommen, worüber ihr gesprochen habt", gab er zu.
Citan verharrte in betroffenem Schweigen, als wolle er sich in irgend einer Weise rechtfertigen, auch wenn Fei selbst keinen Anlass dazu finden konnte.
"Elly...", begann Fei nachdenklich, "Das ist es also, was sie wirklich ist?"
Er war sich nicht sicher, ob Citan seiner Frage auswich, oder ob er einfach wieder einmal in seiner mitunter schwer zu durchschauenden Art antwortete. "Fei, sie wollte...", begann der Doktor.
"Ich weiß", antwortete er, ehe Citan den Satz ganz ausgesprochen hatte. Er hatte genug von ihrer Unterhaltung mitbekommen, um erahnen zu können, was Doc sagen wollte. "Es ist nicht Ellys Schuld, ich allein bin dafür verantwortlich, was mit dem Dorf geschehen ist. Ich habe einfach alle meine aufgestauten Gefühle an Elly ausgelassen ohne nachzudenken. Ich bin es, der sich entschuldigen sollte."
"Fei, mach nicht dich selbst dafür verantwortlich", entgegnete Citan, "Es war genauso wenig deine Schuld. Du hast nur versucht, das Dorf zu beschützen."
"Danke, Doc..." Er wusste, dass Citan es nur gut meinte, außerdem wusste der Doktor so gut wie immer, was er sagte, deshalb widersprach er nicht weiter. Darüber hinaus – vielleicht hatte er sogar recht, vielleicht hatte er nur deshalb sich selbst die Schuld gegeben, weil er sich für den Tod von Alice, Timothy und den anderen aus dem Dorf verantwortlich fühlte, weil er unfähig gewesen war, ihnen in irgend einer Weise zu helfen. "Wo wir gerade davon sprechen", wechselte er das Thema, "Wie geht es eigentlich den anderen aus dem Dorf?"
"Yui kümmert sich um sie. Ich habe ihr gesagt, sie soll bald aufbrechen und die Leute an einen sicheren Ort bringen. Sie sollten außer Gefahr sein, zumindest vorerst. Mach dir darüber nicht so viele Gedanken. Alles, worum du dich jetzt sorgen musst, bist du selbst."
Fei nickte erleichtert. Die Nachricht, dass zumindest das schmerzlich kleine Häuflein Überlebender in Sicherheit war, schien ihm eine unermessliche Last von den Schultern zu nehmen. Natürlich hatte er nicht daran gezweifelt, dass Citan und Yui alles in ihrer Macht stehende unternehmen würden, um das Beste aus der Situation zu machen, doch die Ungewissheit und die Möglichkeit durch sein Eingreifen noch mehr seiner Mitmenschen ins Unglück gestürzt zu haben war die ganze Zeit über, selbst während der ruhigeren Momente seiner Wanderung mit Elly durch das Herz des Waldes, wie eine dunkle Gewitterfront stets im Hintergrund seiner Gedanken präsent gewesen, angespannt wie ein hungriges Raubtier, jederzeit bereit aus seiner Deckung hervorzuspringen und seine hilflose Beute zu packen. Doch Citan hatte recht, ein Blick in die Runde genügte, um ihm klar werden zu lassen, dass er zur Zeit wahrlich andere Sorgen hatte, als das Wohlergehen derer, die ihn im Grunde aus seiner Heimat verstoßen hatten; allein die Tatsache, dass er sich hier auf einer Insel inmitten des Meeres des westlichen Blackmoon Forests befand, weiter von Lahan entfernt, als er es während der vergangenen drei Jahre je gewesen war, auf der Flucht vor einem unbekannten Feind und einem Krieg, den er nicht gewollt hatte, war Beweis genug.
"Nun, um darauf zurückzukommen, wie es jetzt weitergehen soll," nahm Citan das ursprüngliche Thema wieder auf, "Der Weg bis zum Waldrand ist nicht mehr weit. Ich schätze, heute Abend werden wir den Blackmoon Forest hinter uns lassen. Von dort erstreckt sich die Wüste Avehs in weitem Umkreis bis fast an die äußerste Westküste Ignas'. Etwa einen Tagesmarsch von der Waldgrenze entfernt liegt eine kleine Ortschaft namens Daijir. Ich schlage vor, wir statten der Stadt einen Besuch ab; wenn wir morgen zeitig genug aufbrechen, sollten wir es bis Sonnenuntergang schaffen. Wir werden dort am ehesten erfahren, was Aveh und Kislev vorhaben. Aveh wird sich mit Sicherheit nicht tatenlos zurücklehnen und das Fiasko von vorgestern Nacht ungestraft belassen."
Er hielt inne und schien im Geiste noch einmal die weitere Vorgehensweise durchzugehen. "Wir können den Weg mit der Landkrabbe fortsetzen, zumindest solange bis wir den Wald hinter uns haben, danach werden wir weitersehen, aber wahrscheinlich ist es besser, wir gehen ab dort zu Fuß weiter. Ich bin nicht sicher, inwieweit das Vehikel mit dem sandigen Untergrund zurechtkommt und den Luftweg sollten wir unter allen Umständen vermeiden. Immerhin werden wir gesucht und der Luftraum steht unter ständiger Überwachung. Es war schon riskant genug, Weltall bis hierher zu bringen, ohne entdeckt zu werden..."
"Was mir immer noch nicht klar ist, Doc," unterbrach Fei, "Wie konntest du mich überhaupt hier finden, ich meine, mitten im Wald?"
"Glaub mir Fei, dass ich dich in diesem grünen Labyrinth aufgespürt habe, war reiner Zufall. Das einzige, was ich wusste, war, dass du dich immer noch hier irgendwo im Inneren des Blackmoon Forests aufhalten musstest. Ohne den Rankar wäre ich wahrscheinlich überhaupt nicht auf die Lichtung hier aufmerksam geworden, nicht einmal aus der Luft, wo ich den nötigen Überblick hatte, aber einen kämpfenden Rankar übersieht man nicht so leicht und ich hatte so meine Vermutungen, wer sein Kontrahent sein könnte. Und wie ich sehe, habe ich recht behalten," fügte er hinzu. "Leider hat Weltall den Vorfall nicht ganz so gut überstanden, wie ich es mir gewünscht hätte. Ein weiterer Grund, weshalb ich gerne Halt in Daijir machen möchte, um zu sehen, ob ich die nötigen Ersatzteile bekommen kann, um unseren Freund überhaupt wieder in Gang zu bringen."
Fei warf dem Gear einen skeptischen Blick zu. Er sah keine Notwendigkeit, die Kampfmaschine wieder instand zu setzen, seinetwegen konnte sie hier verrosten und genauso vom nahezu lebendigen Dickicht des Waldes überwuchert und verschlungen werden, wie es der Rankar inmitten der unter dem Gewicht seines Aufpralls zersplitterten Bäume am Rande der Lichtung bald sein würde, doch er machte keinen weiteren Einwand mehr.

Der weitere Weg verlief ohne erheblichere Zwischenfälle, als gelegentliche umgestürzte Bäume, die für die Landkrabbe mit ihrer überraschend flinken Maneuvrierfähigkeit kein großes Hindernis darstellten. Citan war in nachdenkliches Schweigen versunken und schien mit den Gedanken in weiter Ferne zu weilen. Fei sah keinen Anlass, ihn aus seinen Überlegungen aufzuschrecken, er war selbst zu Genüge damit beschäftigt, die ersten ruhigen Stunden seit dem Einfall der Kislev-Armee in Lahan zu nutzen, um die Ereignisse der letzten zwei Tage zu verarbeiten und das ganze Ausmaß des Konfliktes zu erfassen, in dessen Fänge er brutal und unvorbereitet geraten war.
Es mochte etwa um die Mittagszeit sein und die anfangs zu Seiten des Weges dicht-stehenden Bäume lichteten sich zunehmend, je näher sie dem Waldrand kamen. Immer häufiger blinzelte die Sonne durch das dünner werdende Blätterdach und schickte ihre goldenen Strahlen auf das metallene Krustentier, das in ihrem Licht hell wie ein glühendes Juwel funkelte.
Fei hob eine Hand gegen das grelle Licht und beschattete die Augen, um die Umgebung näher in Augenschein zu nehmen. Obwohl das ersehnte Ende des Waldes nicht mehr weit sein konnte, unterschied sich die Szenerie nicht sonderlich von jener, die sie bereits seit den frühen Morgenstunden durchquerten. Immer noch zog die verwilderte durchwachsene Vegetation des Blackmoon Forests zu beiden Seiten an seinem Blick vorüber, nur unterbrochen vom steten rhythmischen Takt der zerbrechlich wirkenden vielgelenkigen Beine des Vehikels, das sich unbeirrbar unter der Kontrolle Citans seinen Weg durch wucherndes Unterholz oder emporwachsende Wurzeln bahnte. Fei war beeindruckt; für jedes andere ihm bekannte mechanische Fortbewegungsmittel wäre unter diesen Bedingungen kein Vorwärtskommen möglich gewesen, doch die flinken wendigen Bein-paare der Landkrabbe schienen mit jedem Hindernis zurechtzukommen. Gleichzeitig war aber keine der zahllosen Unebenheiten zu spüren; die staksenden Glieder der Krabbe glichen jeden Höhenunterschied behende aus, sodass die Passagierkapsel zwischen den Gelenken zu schweben schien.
Fei war derart in der Monotonie der vorbeiziehenden Landschaft und des eintönigen Scharrens der Klauen der Landkrabbe versunken, dass es einige Zeit dauerte, bis er gewahr wurde, wie das metallische Schnarren und Klacken der Maschinerie von einem anderen, fremden Geräusch übertönt wurde. Was zunächst wie fernes Donnergrollen anmutete, schwoll rasch zu einem Brausen an, das von einem heranstürmenden Orkan kündete. Alarmiert fuhr er herum und blickte zurück in Richtung des näherkommenden Geräusches. Lange, bevor er tatsächlich die Quelle des Lärms erspähen konnte, war ihm bereits klar, dass es keinen natürlichen Ursprung hatte. Was hier mehr und mehr zu einem tosenden Sturm anwuchs hatte einen unverkennbaren Unterton, der nur von einer Maschine stammen konnte...
"Doc!" Noch immer auf die Kante der Passagierkapsel gestützt und halb über den Rand gebeugt, um einen besseren Blick auf den saphirblauen Himmel zu haben, starrte er mit schreckensgeweiteten Augen hinauf. Sein erster Gedanke war, dass sie ihn aufgespürt hatten, dass dies die Gears waren, die Lahan auf dem Gewissen hatten, doch ihm wurde schnell klar, wie lächerlich diese Vorstellung war; was sich hier unaufhaltsam näherte, war etwas ungleich mächtigeres, daran konnte kein Zweifel bestehen.. Er registrierte kaum, dass Citan die Krabbe bereits angehalten hatte und ebenfalls den Himmel inspizierte, nicht weniger überrascht, doch aus seinem Blick sprach mehr Interesse denn Furcht.
Qualvolle Minuten vergingen, während derer das Grollen der Maschinen zum einem Donner an, der seinen Ursprung geradewegs in der Hölle zu haben schien, sodass Fei über den Lärm hinweg schreien musste, damit Citan ihn überhaupt verstehen konnte.
"Was zum Teufel ist das?!" schrie er mit vor Entsetzen heiserer Stimme. Was hier langsam seinen silberglänzenden Leib vor die Sonne schob und den Wald in unheilschwangere Schatten stürzte, wirkte wie ein Objekt aus einer anderen Welt. Der schlanke metallisch glitzernde Rumpf, groß wie eine kleine Stadt, glitt bedächtig und majestätisch dahin und funkelte blendendweiß vor dem Licht des feurigen Rades der hoch im Zenith stehenden Sonne. Grazile libellenartig anmutende Flügel fächerten sich zu beiden Seiten des gigantischen Ungetüms wie flüssiges Silber auf und zitterten trotz ihrer ungeheuren Größe leicht in der Thermik, was der Konstruktion eine eigentümliche Lebendigkeit verlieh.
"Sieht so aus, als handele sich um ein Schlachtschiff aus Avehs Luftflotte," gab der Doktor zur Antwort. Obgleich auch er seine Stimme über das Tosen der Maschine erheben musste, klangen seine Worte ruhig und sachlich, als handele es sich lediglich um einen seiner Vorträge an den Nachmittagen oben in seinem Haus auf dem Berg.
"Aus Avehs Luftflotte? Du hast mir nie erzählt, dass Aveh überhaupt Schlachtschiffe besitzt."
"Nun, ich würde sagen, dass dieses Schiff ursprünglich auch gar nicht aus Aveh stammt. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es zu den in Aveh stationierten Gebler Streitkräften gehört."
"Gebler?" Das war Fei neu, wie so vieles in den letzten Tagen, in denen mit einemmal der Konflikt, der die Welt in seiner eisigen Klaue umklammert hielt, wie ein erbarmungsloser Gewittersturm auf ihn einzustürzen schien. Immer stärker wurde ihm bewusst, wie sehr er in Lahan von der Außenwelt und ihren großen Ereignissen abgeschottet gewesen war. Citan war seine einzige Verbindung nach draußen gewesen und so wie es aussah, hatte Doc ihm längst nicht alles gesagt, was er wusste, vielleicht weil er es nicht für nötig hielt, aber möglicherweise hatte er auch seine eigenen Gründe gehabt, wonach er es für besser befunden hatte, wenn Fei nicht über alles bescheid wusste.
Doch jetzt brach der Doktor sein Schweigen. "Spezialeinheiten vom Heiligen Imperium Solaris, die auf der Oberfläche als Gebler bekannt sind. Es handelt sich dabei um eine Organisation, die militärische Hilfe im großen Rahmen für das Königreich von Aveh leistet. Es ist erst einige Monate her, seit sie aufgetaucht sind und in den Krieg interferiert haben. Zu der Zeit hatte das Kislev Imperium noch die Oberhand, bevor sich das Gleichgewicht durch das Eingreifen Geblers zugunsten Avehs verlagert hat. Seither ist es ihnen gelungen, mehr als die Hälfte ihrer Verluste wieder auszugleichen. Sie weiten ihr Territorium immer noch aus im Kampf um die Ressourcen in den eroberten Ruinen."
Was die Herkunft Geblers betraf, so hätte Doc genauso gut erzählen können, dass sie von einem anderen Planeten stammten, es hätte ihm genauso wenig weitergeholfen. Während er von Gebler glaubte, wenigstens den Namen schon irgendwo gehört zu haben, möglicherweise bei einer der Beratungen der Dorfältesten, so war ihm der Name Solaris rein gar kein Begriff. Doch etwas anderes blitzte plötzlich in seinem Gedächtnis auf, die Erinnerung an Ellys erste Worte, als sie ihm mit der Schusswaffe in der Hand gegenübergestanden hatte, bemüht, ihre eigene Unsicherheit zu verbergen.
"Du siehst nicht aus wie einer von den Kislev Soldaten, die mich verfolgen..." Wenn er es genau bedachte, ihre Erscheinung, ihre verteidigende Haltung gegenüber den notgelandeten Kampftruppen, dann bedeutete das also...
"Dann ist Elly also auch Teil dieser Organisation?"
"Höchstwahrscheinlich." Das Schlachtschiff war mittlerweile nur noch als helles Funkeln zwischen den Blättern des Waldes voraus zu erkennen und der Maschinen ebbte langsam, aber bestimmt ab, sodass Citans Worte jetzt trotz seiner ruhigen Sprechweise klar und deutlich zu verstehen waren. "Gebler verfügt über überlegene Technologie und militärische Macht. Gerüchten zufolge haben sie alleine deshalb in den Konflikt eingegriffen haben, um die in den alten Ruinen ruhenden Ressourcen zu bergen und somit ihr Arsenal weiter auszubauen. Es überrascht mich, ehrlich gesagt, dass sie etwas so mächtiges wie dieses Schiff einsetzen. Möglicherweise versuchen sie, damit die erneuten Unruhen an der Grenze niederzuschlagen."
Auch wenn er die Zusammenhänge nicht zur Gänze verstand, das Wesentliche war Fei doch klar. "Dann kämpfen sie also gegen das Kislev Imperium?"
Citan nickte. "So wie es aussieht wurden unterhalb eines fünfhundert Jahre alten Tempels an der Nordgrenze Avehs neue Ruinen ausgegraben. Vor etwa drei Wochen hat Kislev die Ruinen in seine Gewalt gebracht. Aller Wahrscheinlichkeit nach entbrennt dort oben ein erbitterter Kampf um diese Ruinen."
Soviel verstand Fei. Der Grund, weshalb Aveh und Kislev sich wegen der Ruinen bekriegten, war keineswegs rein wissenschaftlichen Ursprungs sondern eine rein militärische Angelegenheit. Worum es ging waren nicht die Reste einer uralten untergegangenen Zivilisation – es spielte keine Rolle, ob jene unwiederbringlichen Zeugnisse längst vergangener Zeiten die Auseinandersetzung überstand oder dabei vernichtet wurden - sondern das, was diese hinterlassenen Monumente in sich bargen – Gears, Vehikel wie diese Landkrabbe, Etherkanonen und sämtliche anderen Waffensysteme, die die grausamen Gehirne jenes Volkes entsinnen konnten. Wahrscheinlich waren diese Waffen der Schlüssel zu ihrer Apokalypse gewesen und unter den Mauern der Zeit begraben worden, um zu verhindern, dass sich ein solches Desaster wiederholte. Zweifellos waren diese Maschinen nicht zu friedlichen Zwecken oder auch nur zur Einschüchterung konstruiert worden, sondern hatten mit Gewissheit auch Verwendung gefunden. Und jetzt hatten zwei im Streit befindliche Staaten, verwickelt in einen Krieg, dessen Grund nicht einmal sie selbst kannten, begonnen, jenen Schlüssel zu Nemesis wieder auszugraben...




So das waren alle Kapitel die Shirou bis lang gepostet hatte.:)

Chi3
13.02.2003, 03:45
Ist Shirou in diesem Forum denn angemeldet und gibt es eine Chance dass das ganze irgendwann mal fortgesetzt wird? Ich finde seinen Schreibstil genial und es wäre schade wenn das hier unvollendet bleiben würde:(

Hiryuu
28.03.2003, 01:31
Ah, endlich hab ich sie gefunden - in den tiefen meiner Erinnerung, ständig die Hoffnung im Hinterkopf habend, daß ich einmal die Geschichte von Xenogears komplett lesen könne, ohne das Spiel nochmal zu spielen.
Ich hoffe es wird weitergehen...

Tanjian
01.04.2003, 01:59
wohooo ^^ echt guter schreib stilo errienert mich an hohlbein (wer ihn kennt)

unbedingt fortsetzten bitte^^

Cool
01.04.2003, 03:16
Nur leider sieht es so aus als hätte er sich nicht im neuen Forum angemeldet. Sein alter Nick ist nicht registriert und gepostet hat er bisher auch nichts. Hoffe aber das er trotzdem herfindet und dann weiterschreibt. Mir gefällt dwer Schreibstil auch sehr.

@Tanjian Sicher kenn ich Hohlbein, ist mein Lieblingsautor :D.

Tanjian
02.04.2003, 03:10
hohlbein hat einen feinen schreib stil und man kommt selten aus dem lesefluss heraus ^^

habe : Die chronik der unsterblichen 1.2.3, Unterland, Drachenfeuer, spiegelzeit, die nacht des drachen, projekt avalon, das druiden tor, cmaelot 1-2, das teufels loch, azrael, flut, hab ich gelesen

meinte autoren favorieten: J-R-R Tolkien (wer hätte das geglaubt), Hohlbein, chriton, j. clavell

Cool
05.04.2003, 02:09
Original geschrieben von Tanjian
hohlbein hat einen feinen schreib stil und man kommt selten aus dem lesefluss heraus ^^

habe : Die chronik der unsterblichen 1.2.3, Unterland, Drachenfeuer, spiegelzeit, die nacht des drachen, projekt avalon, das druiden tor, cmaelot 1-2, das teufels loch, azrael, flut, hab ich gelesen

meinte autoren favorieten: J-R-R Tolkien (wer hätte das geglaubt), Hohlbein, chriton, j. clavell

Ich habe zu diesen Thema einen neuen Beitrag (http://forum.rpg-ring.com/forum/showthread.php?s=&threadid=4306) erstellt, damit dieser Thread nicht für Diskussionen über Hohlbein missbraucht wird.