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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Die Geschichte von Richard



deserted-monkey
30.08.2006, 13:12
Diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit

Eastborne, England

Als ich ihn das erste Mal sah, sass er verkrüppelt und weinend in einer dunklen Ecke der Strasse. Sein Gesicht war dermassen zerschlagen, dass man es kaum noch als Gesicht erkennen konnte. Seine Nase war gebrochen und auf seinem Antlitz klebte eine Menge Blut. Im Vorbeigehen trafen sich unsere Blicke. Als ich ihn dort so armselig und kläglich vor sich hinweinen sah, spürte ich einen Stich tief in meinem Herzen. Ich konnte nicht einfach weitergehen. Ich kauerte mich neben ihm hin und fragte ihn, wer ihm das angetan habe.
"Townies", sagt er. Nur dieses eine Wort, das er unter Qualen hervorpresste. Townies, so nennt man eine bestimmte Gruppe von jungen Erwachsenen und Jugendlichen in England, die oft für Unruhe sorgen und Schlägereien anzetteln. Auch ich hatte schon Bekanntschaft mit ihnen gemacht. Ich fragte ihn nach seinem Namen. "Richard", sagte er. "Richard ist mein Name."
Ich half ihm aufzustehen, zuerst wollte er sich nicht helfen lassen und einfach in seinem Elend sitzen bleiben, doch dann liess er mich geschehen. Erst jetzt bemerkte ich, wie dünn seine Arme und wie abgemagert sein Körper war. Ich fragte ihn nach seinem Alter. Er sei Siebzehn, sagte er mir.
"Wo wohnst du denn?", habe ich ihn gefragt.
"Auf der Strasse", meinte er und seine Augen füllten sich erneut mit Tränen. "Seit ich 11 bin."
Ich ging ein Stück mit ihm, musste ihn stützten, denn er konnte kaum gehen. Der Mond schien mit seinem hellen Licht auf uns herunter. Und er erzählte mir seine ganze Geschichte.

Sein Name war Richard. An seinen Nachnamen konnte er sich nicht mehr errinnern, oder wollte er sich nicht mehr errinern.
Er war in seinem Elternhaus in ziemlich ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Geschwister hatte er keine. Seine Eltern hatten eigentlich zu wenig Geld für ein Kind, deshalb waren sie auch nicht gerade nett zu ihm. Sein Vater hätte ihn einmal vergewaltigt, erzählte er mir und in sein Gesicht trat ein gepeinigter Ausdruck, als wäre er noch nicht darüber hinweg.
Dann, als er 11 war, hatten seine Eltern ihn einfach auf die Strasse gesetzt, ohne Geld, ohne Etwas. Von ihnen aus konnte er krepieren. Doch das tat er nicht.
Zuerst verdiente er sein Geld mit Drogendealen. Dann wurde er selbst drogensüchtig, um seinen Qualen und Problemen ein Ende zu setzen.
Er nahm alle Drogen die er finden und sich leisten konnte, egal was es war, er wollte sich nur noch zudröhnen und die Welt vergessen.
Um an mehr Geld zu kommen, ging er mit 13 Jahren zum ersten mal auf den Schwulenstrich, um sich und seinen Körper dort anzupreisen. Kunden fand er genug.
Sein Essen klaute er oder suchte es in Mülltonnen. Sein weniges Geld brauchte er für Drogen und Zigaretten. Nun war er 17, sah aber aus wie 30. Die Drogen und Gewalttätigkeiten hatten ihre Spuren an ihm hinterlassen.

Ich hörte ihm aufmerksam zu und fühlte mit ihm mit. Dieser arme Mensch löste Gefühle in mir aus, Gefühle von Hass, Mitleid und Trauer. So gingen wir nebeneinander die Strasse entlang und seine Geschichte sprudelte nur so aus ihm heraus.
Er fragte mich, ob ich eine Zigarette wolle. Ich verneinte. Dieser arme Junge, so wenig Geld, keine Zukunft, nichts was er verlieren konnte, und doch war er sozial.
Es war schon spät, ich musste nach Hause. Ich blieb stehen und sagte ihm, dass ich gehen müsse. Er schaute mich an und in seinen Augen sah ich so etwas wie Liebe. Ich drückte ihm die Hand, drehte mich um und ging, ohne einen Blick zurück, meines Weges.
Doch ich wusste, dass er mir noch lange nachblickte.

Am nächsten Tag nach der Schule sah ich ihn wieder. Ich ging zu ihm hin und begrüsste ihn. Er erwiderte meinen Gruss und lächelte. Dann fragte ich, ob ich ihm etwas zu Essen kaufen solle. Voller Dank blickte er mich an, als hätte ich ihm das grösste Geschenk der Welt gemacht. Im Burger King kaufte ich ihm einen Royal mit Käse. Er verschlang ihn wie ein Tier. Ich fragte, ob er noch mehr Hunger hätte, aber er schüttelte den Kopf. So ging es weiter, ich sah ihn fast jeden Tag, mit der Zeit wusste er, wo ich mich nach der Schule mit meinen Kumpels aufhielt und tauchte ab und zu bei uns auf. Auch meine Kumpels kamen gut mit ihm klar, ich hatte ihnen schon von ihm erzählt. Aber er war meistens ruhig und schweigsam, nur wenn er mit mir alleine war, erzählte er mir Dinge aus seinem Leben und wie er die Welt sah.

Zitat von Richard: "If I had a Bomb, that could blow the whole world to pieces, i wouldn't hesitate to blow it up right now."

Er erzählte, wie ihn alle Leute fertigmachten, wie er immerzu verhauen und ausgenommen wurde, selbts das letzte dreckig verdiente Geld klaute man ihm.
Er erzählte mir auch von seinen Selbstmordgedanken. Mit der Zeit bekam ich Angst, dass er sich umbringen würde.
Er hatte es schon dreimal versucht, doch es hatte nicht geklappt. Ich wusste, das es sinnlos war, ihm den Suizid auszureden, er hatte sowieso schon alles verloren.

Mit der Zeit verabredete ich mich sogar mit ihm, damit er mit mir reden konnte, damit er einen Menschen auf der Welt hatte, der ihm für einmal zuhörte. Ich kaufte ihm auch meistens etwas zu Essen, da ich immer so Mitleid mit ihm hatte, wenn ich ihn sah. Er dankte mir immer herzlich dafür, das sah ich und wusste ich. Eines Tages jedoch, als ich auf ihn wartete, kam er nicht. Ich hatte kein gutes Gefühl, ich wusste das etwas mit Richard nicht in Ordnung war. Zu suchen brauchte ich ihn nicht, wusste ich doch nicht wo er sich aufhielt.

Einen Tag später las ich es in der Zeitung. Er hatte sich von einem Gebäude gestürtzt, hatte sich endlich umbringen können, hatte sich erlösen können. Doch ich trauerte um ihn. Ich ging zu dem Gebäude, von dem er sich gestürtzt hatte, es war ein mehrstöckiges Parkhaus. Zuoberst angekommen, fiel mein Blick auf eine krakelige Schrift, mit Lippenstift an die Mauer geschrieben:

Sorry Mike
You were the only Person who ever loved me
I had to quit my pain

Während ich es las, fiel ich auf die Knie und brach in Tränen aus. Als mich ein alter Mann ansprach, zeigte ich nur auf die Schrift. Und dort kniete ich, weinend, für weiss nicht wie lange.

qed
30.08.2006, 13:37
Hiho

Der Totengräber war nett, Ich, der Seelenfänger erfrischend unkonventionell (obwohl ich der Geschichte doch nichts abbringen kann), der Keller (jedenfalls Teil 1) fand ich schlecht und immer noch nach gleichem Prinzip wie die vorderen. Mehr oder weniger.

Diese Geschichte hier liest sich aber wirklich erfrischend anders. Der Schreibfluss ist grösstenteils flüssig und die Story ist kurz und gut.

Paar Kritikpunkte gibts dennoch; jetzt einfach grad die die mir am meisten aufgefallen sind.



Der Mond schien mit seinem hellen Licht auf uns herunter.

hinab, oder herab eigentlich.



Sein Name war Richard.

Das steht schon oben, das er Richard heisst.



Seine Eltern hatten eigentlich zu wenig Geld für ein Kind, deshalb waren sie auch nicht gerade nett zu ihm. Sein Vater hätte ihn einmal vergewaltigt, erzählte er mir und in sein Gesicht trat ein gepeinigter Ausdruck, als wäre er noch nicht darüber hinweg.

Seine Eltern mögen asozial sein und ihn hassen, nur weil sie selbst zu dumm waren und zu wenig überlegt haben, aber warum werden sie (bzw. der Vater) gleich zu Vergewaltigern? Also das ist doch etwas zu billig bzw. Klischeehaft.

So das wars fürs erste. Die Geschichte ist ein bisschen Klischeehaft, allerdings dein imo bestes Werk. Hat mir wirklich gut gefallen und auch zum Nachdenken angeregt. Bitte mehr davon.

Liferipper
31.08.2006, 09:04
hinab, oder herab eigentlich.

Abgesehen davon, dass gegen "herunter" hier absolut nichts spricht, ist "hinab" in diesem Zusammenhang falsch.

deserted-monkey
31.08.2006, 09:30
Seine Eltern mögen asozial sein und ihn hassen, nur weil sie selbst zu dumm waren und zu wenig überlegt haben, aber warum werden sie (bzw. der Vater) gleich zu Vergewaltigern? Also das ist doch etwas zu billig bzw. Klischeehaft.


Ok. Ich hab nicht ganz alles erzählt, darum tönt das jetzt vielleicht ein wenig blöd mit dem vergewaltigen. Aber das war so:

Richard ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen (habe ich ja schon geschrieben). Was heisst, das auch die Eltern arm waren. Der Vater war Alkoholiker und, wie soll ich es am besten ausdrücken, ein wenig geistesgestört. Deshalb die Vergewaltigung.