PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Hotel "An der Schnellstraße"



Pursy
05.03.2006, 20:32
„Es ist mit Sicherheit schon achtzehn Jahre her, als ich das Mädchen zu ersten Mal gesehen hatte.“ Sagte ich dem Mann, der vor meinem Tresen stand und mich ungeduldig ansah.
Ich erinnerte mich noch genau daran. Ich war zwanzig und hatte gerade mein Mathematikstudium angefangen. Damals brauchte ich eine Nebenjob, um mir das Geld für meine Wohnung zu beschaffen. Der Besitzer des Hotels war ein alter Mann und suchte jemanden, der für ihn hinter der Rezeption saß und die Gäste empfing.
Das Hotel durfte man jetzt nicht als ein 3-Sterne-Hotel ansehen, es war froh, wenn es auch nur zwei Sterne bekommen hätte. Meist kamen Leute, die spontan ein billiges Bett für die Nacht suchten, ob alleine oder zu zwei war egal. Ob Prostituierte, Vertreter oder Ehemänner, die von ihrer Frau rausgeworfen wurden. Sie kamen, und so war mein Arbeitsplatz dort sicher.
Ich konnte in der Zeit, in der ich dort saß, lernen und wenn mir langweilig war auch Fernsehen gucken. Es war kein schlechter Job, wenn auch nicht der ruhmreichste.
Weshalb ich mich nun an dieses Mädchen erinnerte, ist einfach erklärt. Sie und ihre Mutter waren die ersten Gäste, die ich empfing. Sie waren für ein Tag zu Besuch bei ihren Großeltern, die selber nur eine kleine Wohnung besaßen und sie deswegen auf ein Hotel ausweichen mussten. Ihr Geld war knapp, deswegen mussten sie hier bleiben.
Das Mädchen lachte viel, und auch wenn ihre Mutter einen mehr oder weniger heruntergekommenen Eindruck machte, ihr Lachen ließ sie beide glücklich scheinen. Einen Tag später verließen sie das Hotel wieder.
Zwei Semester später hatte ich einige Klausuren versaut und keine Lust mehr weiter zu lernen. Der alte Mann bot mir an, dass ich das Hotel günstig übernehmen könnte. Ich könne es ihm abkaufen und etwas daraus machen. Ich nahm das Angebot an, obwohl mir schon damals klar war, dass meine damaligen Ideen, etwas an dem Hotel ändern zu können, total abstrus waren. Dennoch tat ich es. Ich nahm einen Kredit auf und kaufte ihm das Hotel ab. Nun gehörte mir das Hotel und das Studium brach ich ab.
Als wäre es Schicksal gewesen, am ersten Tag, als das Hotel mir gehörte, kam sie und ihre Mutter wieder in das Hotel, diesmal allerdings, um auf der Beerdigung ihrer Großmutter zu sein. Als fünfjähriges Mädchen verstand sie noch nicht, was damals los war, doch ihre Mutter sah man die Last der letzten Tage deutlich an. Doch wieder lächelte das Mädchen und es schien, als würden sie wie letztes Jahr einfach nur ihre Großeltern besuchen. Wieder reisten sie am nächsten Tag ab.
Die Jahre danach wurden zur Qual. Fast jedes Jahr hatte ich einen Selbstmord im Hotel zu verzeichnen, alle hatten sich mit einem Stromkabel aufgehängt. Beim ersten Selbstmord sagten meine Freunde noch scherzhaft, ich solle doch einen Kabelanschluss legen lassen, dann hätten sie was zum Aufhängen, aber ich fand den Gedanken nicht lustig.
In diesen sieben Jahren lernte ich auch meine Frau kennen, die mir von da an im Hotel half. Zwei Jahre nach unserer Hochzeit bekamen wir einen Sohn, ein Jahr später eine Tochter.
Wie gesagt, fast genau sieben Jahre nach dem letzten Treffen kam das kleine Mädchen, was mittlerweile schon 12 war, ins Hotel, doch diesmal alleine. Sie erkannte mich und fragte mich, ob ich ihr nicht ein Zimmer geben könnte, um ihren Großvater zu besuchen. Damals wusste ich noch nicht, was wirklich los war. Ich fragte auch nicht, denn ihr Lachen lies mich jegliche Sorgen verdrängen lassen.
Erst als meine Frau mir eine Woche später sagte, dass sie das Mädchen wieder gesehen habe, wurde ich stutzig. Sie solle sich doch mal informieren habe ich ihr gesagt, und was sie eine Woche später erzählte, war für mich mehr als unerwartet. Ihre Mutter hatte sich umgebracht, und da ihr Großvater ihr einziger noch Lebender Verwandter sei, zog sie zu ihm. Die eine Nacht, die sie hier war, hatte ihr Großvater noch kein Platz in der Wohnung für sie gefunden.
Es war für mich einfach nur erschreckend, dass dieses Mädchen immer noch lachen konnte, obwohl ihre Mutter gestorben war. Ich selber habe sie eigentlich nie in der Stadt gesehen, weil ich selber nur selten draußen war.
Wieder vergingen 4 Jahre. In dieser Zeit hatte ich häufig Streit mit meiner Frau, ich würde in meinem Leben nichts mehr erreichen. Ich wusste zwar, dass sie Recht hatte, aber was sollte ich tun? Das Hotel verkaufen und mit nichts auf der Straße stehen? Für mich keine Perspektive, vor allem, da ich jetzt eigentlich glücklich war. Langsam hatte ich mich an die Selbstmörder gewöhnt, die einen passenden Ort zum sterben suchten.
Und wieder kam das Mädchen in mein Hotel, wieder zur selben Zeit im Jahr. Das 16-Jährige Mädchen war wirklich schon eine kleine Frau geworden und war nun wunderschön. Ihr Lächeln schien dieses Gesicht noch einmal unterstreichen zu wollen.
Doch sie war nicht alleine, sondern hatte einen Jungen an ihrer Seite. Er war vielleicht vier Jahre älter als sie und schien sich seiner Sache sehr bewusst. Als er fragte, ob sie ein Zimmer haben könnten, habe ich mich geweigert, doch dem Mädchen konnte ich diese Bitte nicht ausschlagen. Es war mir klar, was sie tun würden.
Ich wusste zwar, dass es ein Fehler war, aber ich vertraute dem Mädchen auf eine gewisse Art. Es hatte mir seine Stärke bewiesen, also würde es auch dies überstehen.
Im darauf folgenden Jahr haben meine Frau und ich uns getrennt, obwohl die Initiative klar von ihr ausging. Natürlich nahm sie die Kinder mit und sorgte schon bald dafür, dass ich sie nie wieder sehen würde.
Das Trennungsjahr war noch nicht ganz vorbei, als ich das Mädchen wieder sah. Sie schien ihren wahrscheinlich unbeabsichtigten Rhythmus unterbrochen zu haben, denn sie kam zwei Monate früher als sonst.
Mit einem Minirock bekleidet öffnete sie die Tür und wieder strahlte mir ihr lächeln entgegen. Rauchgeruch kam mir entgegen und sie kramte schon bald in Handtasche nach einer Packung Zigaretten.
Ob sie häufiger kommen und spontan ein Zimmer haben könne fragte sie, bevorzugt ein Doppelzimmer. Naiv wie ich war sagte ich ihr zu und freute mich, sie häufiger zu sehen. Dass sie das Doppelzimmer für geschäftliche Aktionen benötigte, bedachte ich natürlich nicht. Sie kam nun fast wöchentlich und brachte jedes Mal einen Mann mit. Jedes Mal begrüßte sich mich mit ihrem Lächeln, das nie an Schönheit verloren, sondern eher noch gewonnen hatte. Und jedes Mal, nachdem der Mann das Zimmer verlassen hatte, kam sie alleine aus dem Zimmer, zog ihren Lippenstift nach und verabschiedete sich wieder mit eben diesem Lächeln.
Eines Tages, als sie alleine das Hotel verlassen wollte, nahm ich meinen Mut zusammen und fragte sie, wie lange sie es denn noch machen wolle. Sie sagte nur, dass sie die Schule fertig machen wolle und dann mit dem Geld studieren wolle. Darauf hin wusste ich keine Antwort mehr und ließ sie gehen.
Zwei Jahr ging das so. Meine Frau hatte die Scheidung durchgedrückt, sich das alleinige Sorgerecht erzwungen und ich stand nahezu vor dem Finanziellen Aus, also musste ich weitermachen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, brachen auf einmal die Besuche des Mädchens ab.
Wieder verging ein Jahr und noch ein Jahr. Ich vegetierte auf meinem Stuhl dahin, hatte Nierensteine, war fettleibig und meine einzigen Hobbys waren Fernsehen gucken und bei Quizshows anrufen.
Dann eines Tages kam das Mädchen wieder in mein Hotel. Doch sie hatte sich verändert, sogar sehr. Sicherlich hatte sie noch immer dasselbe wunderschöne Lächeln, doch zeigte sie es mir nicht mehr. Sie entschuldigte sich bei mir, sich in den letzten Jahren nicht einmal blicken zu lassen, doch ihr sei etwas dazwischen gekommen. Ich war überglücklich sie wieder zusehen und sagte ihr, sie müsse sich für nichts entschuldigen, doch jetzt, wo auch noch ihr Großvater Tod sei, müsse sie einfach den Mann danken, denn sie als ihren Vater angesehen habe. Ich fühlte mich zwar geschmeichelte, jedoch wusste ich genau, dass diese Aussage mehr als übertrieben gewesen sei.
Außerdem bat sie mich, ihr dauerhaft ein Zimmer zu geben und außerdem, ob ich ihr noch einen ganz besonderen gefallen tun könne und auf ihren Sohn aufpassen könne.
Auch dies konnte ich ihr nicht ausschlagen und ließ sie und ihren kleinen Sohn unterkommen.
Von da an beschäftigte ich mich jeden Tag mit dem kleinen Kind und sah mich wie ein Opa des Jungen an. Seine Mutter hingegen hatte nun ihren Nebenjob zum Hauptberuf gemacht und brachte jeden Tag einen Mann mit, häufig sogar mehrere an einem Tag. Aber ich konnte dazu nichts sagen, schließlich durfte ich mit meinen Zukunftsaussichten nicht meckern.
„Naja, und das letzte Jahr war sie also dauerhaft hier…“ Ich nahm den kleinen jungen auf den Arm, während der Polizist sich die Details in seinem Block notierte.
„…gut, damit haben sie uns sehr geholfen.“ Er schloss seinen Notizblock. „Und noch etwas… so wie es aussieht hat sie in ihrem Abschiedsbrief gesagt, dass sie ihren Sohn großziehen sollen. Gesetzlich schein dem nichts im Weg zu stehen!“
Ich wusste in diesem Moment nicht was ich sagen sollte. Der Schock von ihrem Tod saß noch immer tief, doch ich war glücklich, denn nun wusste ich, dass der Junge gut leben würde. Ich sah den kleinen Wonnepropen an und sah sein wunderschönes Lächeln. Ein so schönes Lächeln, dass ich nur ein noch schöneres Lächeln im meinem ganzen Leben gesehen habe.

Miss Kaizer
09.03.2006, 17:49
irgendwie hab ich das Ende geahnt... ;_;
wunderschön geschrieben, ehrlich Pursy... nicht zu viele Kleinigkeiten, irgendwie alles richtig schön... und irgendwie kann man es sich richtig vorstellen, dass es so passiert...

wie kamst du darauf? Einfach so spontan oder gab es irgendeinen kleinen Anstoß?