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Scarecrow
25.02.2006, 18:16
Der alte Mann sitzt in seinem gepolsterten Ledersessel. Seine Hände ruhen auf dem großen Prunktisch vor ihm. Er lächelt mich an, als ich den Raum betrete.
„Ah, hier ist er ja.“
Auf dem Sofa links von mir sitzt der Mann, den viele nur den Jäger nennen. In alter englischer Uniform, wie sie in den heißen Regionen getragen worden sind. Er hat auch den Tropenhelm auf. Sein Gesicht sieht mich unberechenbar an, seine lässige Haltung strahlt großes Selbstbewusstsein aus. Ich will nicht wissen, was er alles jagt.
„Willkommen, Tomes, willkommen. Schön, dass Sie da sind.“ Er steht auf und reicht mir die Hand. Mit einer schneidigen Geste deutete er auf den Jäger und sagt:
„Das ist Henning und die Schönheit rechts von Ihnen ist Magdalena.“
Ich habe die Dame bei meinem eintreten gar nicht bemerkt. Sie ist in der Tat eine sehr hübsche Frau, mit schwarzem Haar und einem Pelzschal, den sie trotz der Hitze in diesem Raum um ihren Hals geschlungen hat.
Ich nicke beiden zu und der alte Herr setzt sich wieder.
„Ich glaube, Sie wissen noch, wer ich bin“, sagt er.
„Natürlich, Mister Hal.“
„Sehr gut, sehr gut. Und Sie wissen auch noch, warum ich Sie hergebeten habe, richtig?“
„So genau haben Sie mir das am Telefon nicht gesagt, aber …“
Der alte Mann schaltet den Fernseher ein. Weißes Flimmern.
„Was sehen Sie, Tomes?“
„Nichts.“
„Sehen Sie genauer hin.“
Mit einem Mal ist das Bild klar und deutlich. Da laufen Menschen durch die Straßen, es sind Schwarze und sie haben Angst. Sie schreien. Die ganze Masse bewegt sich vorwärts, in schierer Panik rennen sie vor etwas davon.
„Was ist das?“, frage ich. Ich bekomme keine Antwort.
Die Szene flackert und verändert sich. Ein Acker. Etwas schwarzes bedeckt ihn und den Rest der Landschaft.
Flackern. Bildwechsel.
Schwärze. Schreie.
„Haben Sie Angst, Tomes?“
Die Schreie werden lauter, steigern sich zu einer Kakophonie. Als würde der Raum hier brüllen. Dann ist es still.
Ich taumle unter dem seltsamen Druck, der meine Schläfen peinigt.
„Vor was soll ich mich fürchten?“
„Vor dem Ende.“
„Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.“
„Natürlich nicht, Tomes.“ Der alte Mann lacht leise. „Wie sollten Sie auch.“
Ich wende mich zu Henning um. Der Jäger sitzt noch immer ruhig da.
„Wollen Sie mich töten?“
Jetzt lacht Mister Hal laut auf und schlägt mit der Hand auf den Tisch.
„Sie umbringen? Ich bitte Sie, was für einen Zweck hätte denn das? Nein, Tomes. Ich will Ihnen zeigen, was geschieht. Ich will, dass sie verstehen.“
„Was verstehen? Was wollen Sie von mir?“
Der Fernseher zeigt im Hintergrund Menschen, die miteinander kämpfen. Sich schlagen und aufeinander eintreten.
„Tomes, Sie sind Priester, nicht wahr? Hier, in dieser Stadt. Ein anerkannter Mensch. Haben Sie je etwas wirklich schlechtes getan?“
Ich verstehe den alten Mann nicht. Was er von mir will, was das hier soll.
„Ich, nun … ich weiß nicht …“
„Warten Sie“, sagt Mister Hal und steht auf. Er dreht sich um und starrt den Samtvorhang an, der hinter seinem Schreibtisch hängt.
„Schauen Sie, Tomes. Sie wollen wissen, was ich mit schlecht meine? Ich will es Ihnen sagen. Henning ist ein Mörder. Ein Jäger der besonderen Sorte, wenn ich es so sagen darf. Und Magdalena hat auch nur wenige Gemeinsamkeiten mit der Heiligen, die wir aus der Bibel kennen. Sie ist eine verdammte •••• und das ist gut so.“
Wieder dieses leise Lachen.
„Und ich … wissen Sie, Tomes, Henning ist der Jäger und ich derjenige, der ihm sagt, was er jagen soll. Ich bin mitverantwortlich für jeden Mord, den er begangen hat. Er hat mich dadurch reich gemacht. Reich und glücklich. Das war mein Problem. Ich habe immer versucht so verdammt glücklich zu sein, und ich habe es auch geschafft. Aber ohne seine Hilfe wäre das nie so gegangen.“
Mister Hal schweigt einige Sekunden und er bewegt sich auch nicht. Ich beobachte den Jäger, der die ganze Ansprache lang ebenfalls nur ruhig geblieben ist.
Genauso wie Magdalena.
„Warum erzählen Sie mir das alles? Ist das eine Art … Beichte?“
Der alte Mann dreht sich zu mir um. „Nein. Ich will nur wissen, ob sie je etwas derartiges verbrochen haben.“
„Nein.“
„Gut, das ist sehr gut. Glauben Sie an Gott?“
Diese Frage kommt überraschend und ist wie eine Ohrfeige. Einen Priester zu fragen, ob er an Gott glaube, ist so, als würde man ihn anspucken.
„Ist das eine ernst gemeinte Frage?“
„Natürlich.“
„Ja, ich glaube an Gott.“
„Und an die Auferstehung, an das Auffahren in den Himmel?“
„Was soll das Ganze? Worauf wollen Sie hinaus?“
„Es ist soweit“, flüstert er und etwas reißt den Vorhang beiseite.
Da ist diese Schwärze aus dem Fernsehen. Es regnet Pech und Schwefel. Oder ist es anders. In der Ferne brennen Feuer.
„Sehen Sie, Tomes, Gott spricht zu uns. Wir sind Sünder, ich weiß nicht, was er uns sagen will.“ (Etwas rinnt aus den Ecken der Wände heraus)
„Vielleicht können Sie es uns sagen. Ich verstehe ihn nicht.“
Der alte Mann hebt seine Hände in den Himmel empor und dieses schwarze Etwas tropft ihm ins Gesicht, bricht aus den Mauern hervor, regnet von der Decke.
Es ist zähflüssig und es stinkt unglaublich. Mister Hal lacht und er schreit nach Namen, die ich nicht kenne.
„Sehen Sie? Sehen Sie?“
Der Fernseher geht wieder an. Ich sehe Menschen, die Flügel haben. Abgestumpfte und ausgewachsene. Sie sind schwarz.
Sie sind schwarze Engel. (Gott spricht zu uns)
„Aber können wir fliegen?“, brüllt Hal, wirft sich auf den Schreibtisch und windet sich in der Flüssigkeit.
„Helfen Sie uns fliegen zu lernen. Wie können wir fliegen?“
Im Bildschirm sehe ich Menschen, die sich von Hochhäusern stürzen, weil sie glauben, der Schwerkraft trotzen zu können. Ich sehe Berge von Leichen vor den höchsten Gebäuden der Welt. Diese pechartige Flüssigkeit regnet vom Himmel und ich selbst frage mich, was will Gott uns damit sagen?
Der Jäger sitzt die ganze Zeit ruhig da und sein sandfarbenes Gewand ist schon schwarz. Aus seinem Rücken wachsen zwei Flügel, entfalten sich durch das zerrissene Hemd. Sein von Pech verunstaltetes Gesicht lächelt.
Magdalena windet sich am Boden und stöhnt.
Menschen werden zu etwas anderem.
Flüssigkeit tropft auf meine Schultern. Ich wische es weg. So klebrig und glitschig.
Ich will nur raus.
Mister Hal steht vom Tisch auf und schreit.
„Wie kann ich fliegen?“
Seine Flügel sind stumpf und klein. Nie könnte er fliegen.
Es heißt, Gott würde die Menschen erlösen. Sie zu sich aufnehmen.
Der Jäger springt auf und stürzt sich auf Magdalena. In wilder Agonie reiben sie ihre Körper aneinander, ihre Flügel, kaum mehr als eine Verhöhnung.
Die beiden winden sich in der Flüssigkeit, zerreißen sich am Boden.
Und es heißt auch, Gott würde nur jenen erlauben, zu ihm zu fliegen, die es denn tatsächlich wert sind.
Ich fliehe aus dem Raum, rutsche am Pech aus und pralle gegen die Wand. Aber ich haste auf und weiter. Ich muss raus.
Mister Hal läuft mir nach und ich höre immer wieder.
„Wie kann ich fliegen, wie kann ich fliegen?“
Ich bin schwarz und nass von der Flüssigkeit des Himmels.
Ich verändere mich. Will ich?.
Ich springe aus dem Fenster und ich fühle die Luft. Sie vibriert von den Schreien und pulsiert von der Energie, die allgegenwärtig ist.
Mister Hal springt mir nach und einen Moment lang sind wir beide in der Luft, gehalten von dem einzigartigen Moment, zwischen Glassplitter und dem schwarzen Regen.
Dann entfalten sich meine Flügel und es ist ein seltsames Gefühl, wie sie schlagen, wie das Rauschen in den Ohren klingt.
Ich bin ein Engel geworden. Kein Monster.
Der alte Mann stürzt einfach ab, ohne ein Wort, weil er begreift, was Gott gesagt hat.
Die Sünder werden fallen und die Erde wird gereinigt.
Ich fliege in den Himmel empor und ich weiß, dass ich irgendwann einmal wieder hierher zurückkommen werde.
Zu einer Zeit, in der sich die Monster längst selbst vernichtet haben. Sie der Wahnsinn in den Tod getrieben hat, weil sie begriffen haben, dass der Himmel so nah wäre, und Flügeln zu haben nie bedeutet hat, auch fliegen zu können.
Amen.