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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Die Zerstörung



Scarecrow
25.02.2006, 15:18
Ich gehe am Spiegel vorbei. Wieder zurück.
Ein bleibender Eindruck, eingebrannt in das Glas, glitzernd, wie ein Kristall.
Es ist ein Junge, der mich aus dem scheinbaren Nichts des reflektierenden Hasses ansieht.
Er ist nicht groß. Seine Augen blicken mich endlos traurig an und er sagt:
„Du bist blind.“
Ich reiße eine Jacke von der Garderobe, ich tobe und schreie.
„Nein, nein, nein! Ich sehe dich.“
Ich taumle durch den Raum, werfe die Hände um mich, halte kurz inne, um den Spiegel zu betrachten.
„Blind ist, wer seine Augen verschließt.“
„Nein!“
„Selig sei der Sehende, denn er ist der König der Blinden.“
Nur der Stuhl und mein Hass. Ich schleudere das Möbelstück gegen das Glas und es zersplittert. Ein Regen aus gläsernen Staub und trotz der Entstelltheit lächelt das Gesicht noch immer. Die Fratze aus Sünde und Pein.
„Verschwinde“, brülle ich. Wirklich?
Meine Faust trifft den Kristall. Er zerspringt und mein Fleisch platzt. Blut tränkt den Spiegel. Was er mir zeigt ist nichts, das ich nicht schon wüsste.
Blut auf seinem Kopf, der Sprung des Glases führt quer über sein Gesicht. Er schleckt den roten Saft auf und lacht.
Ich schreie ihn an. Er soll verschwinden, er ist nicht real.
Und doch flüstert er mir nur vier Wörter zu, die in endlosem Schauer über meinen Rücken jagen.
„Du bist nicht echt.“
Da ist nur ein Schrei. Kommt er von mir oder von ihm, ich kann es nicht sagen. Ich kralle meine Finger in meine Haare, reiße sie aus, spucke auf den Spiegel.
Ich schlage zwei, drei, viermal gegen das zerstörte Etwas, das mir nur ein böses Lachen erwidert. Ich schabe an der Wand, grabe durch den Verputz, durch die Mauer, breche Stücke hervor. Ich packe den Spiegel, oder das was von ihm übrig ist, das Lachen ist in meinen Ohren, zerstört mein Denken, meine Hoffnung, mein ICH.
Ich reiße diese verlogene Darstellung der Kunst aus der Wand, schlage es gegen den Kasten, gegen meinen Kopf.
Werfe ihn gegen die Tür.
„Hinaus!“, schreie ich und deute mit einem zerstörten Finger nach draußen.
Erwarte ich, dass der Spiegel aufsteht und einfach weggeht?
Hinaus, hinaus. Ich trete ihn, springe drauf, trete und trample und schreie.
Wo ist die Tür? Dagegen, aufreißen. Ich stolpere die Treppe hinunter. In den Keller. Ich suche den Vorschlaghammer, zerreiße etwas. Ich prügele auf meinen Hund ein.
Winseln. Ich schreie ihn an, er soll das Maul halten. Das Tier flüchtet vor mir. Ich laufe ihm nach, raufe mir ein Büschel Haare aus.
„Ich bin nicht blind!“
Finde den Vorschlaghammer, sehe Benzin. Rieche Brandgeruch.
Ich höre das Winseln aus einer Ecke des Kellers. Jetzt lache ich.
Da ist ein zweiter Spiegel. Offenbarung nennt er sich.
Was zeigt er mir?
Eine Kinderschaukel. Einen Schaukelstuhl. Einen Wackelpudding.
Einen blutenden Irren mit einem Vorschlaghammer.
Der Junge, der mir tadelnd den Finger schaukelt.
Diese Lügner. Diese Schweine.
Der Hammer trifft den Spiegel (er nennt sich Offenbarung) und alles hört auf zu existieren.
Nur kurz, im Schwindel der Zeit. Die Lüge der Eile. Der Langsamkeit.
Durch die Mauer. Durch Rohr und Leitung. Durch Knochen, Fleisch und Jaulen.
Wo ist die Angst, wo der Trost? Ich schlage und schlage und brülle meinen Namen.
Die Kellertür öffnet sich, ich drehe mich um. Es ist der Junge aus dem Spiegel.

Der Preis ist dein Verstand.
Dein Weg ins gelobte Land.

„Du Lügner!“
Die Treppe hinauf. Meine Arme schmerzen. Der Vorschlaghammer ist schwer.
Wo ist er hin? Der Prophet. Meine Rettung (mein Ende?).
Der Spiegel oben ist wieder ganz. Zauberei. Wahnsinn.
Die Fliesen splittern, ich treffe alles, nur nicht das Glas. Und wenn doch das Glas, dann ist es nicht mehr da, wo es sein sollte. Feuer.
Irgendwo applaudiert wer.
Hinunter in den Keller.
Das Telefon läutet.
Sirenen.
Unten packe ich den Benzinkanister, merke, dass es Waschmittel ist, schleudere es davon. Dann nehme ich das Richtige.
Der Junge aus dem Spiegel hilft mir tragen. Ich gieße das Benzin irgendwohin. In den Keller, dabei wollte ich doch den Spiegel verbrennen, das Glas einschmelzen.
Ich sage noch nein, aber der Junge lässt das Feuerzeug fallen und es macht ein seltsames Geräusch.
Alles brennt. Ich springe ins Feuer. Tanze den Tanz des Tanzenden.
Es ist heiß.
Ich bin eine Fackel, die hinaufstürmt. Lachend und weinend. Ich zeige die Gefühle offen her, halte sie in der Hand.
Ich laufe nach draußen, in den Garten. Ich klettere über den Zaun.
Ich brenne. Meine Leidenschaft und mein Haus mit mir.
Das Feuerzeug ist noch bei mir. Ich bin im Garten des Nachbars.
Ein kleiner See. Ein verdammter Spiegel. Er nennt sich Ende.
Was zeigt er mir?
Einen Fisch. Einen größeren Fisch. Ein Fischstäbchen.
Einen brennenden Irren mit einem Feuerzeug.
Die Zeit hält an. Existiert nicht mehr. Ich stürze. Meine Lungen verbrennen.
Mein Gesicht schmilzt dahin.
Ein letzter Reflex. Ich betätige das Feuerzeug und halte. Es in die Luft.
Ohne selbst zu atmen. Die Flamme züngelt kurz hoch, schnappt ein letztes Mal den Sauerstoff, der das leidenschaftliche Feuer in und auf mir noch einmal entfacht.
Sie erstirbt dann; bricht zusammen, wie die Hoffnung auf Existenz, mein Haus und mein Leben.

La Cipolla
25.02.2006, 16:57
Es schüttelt einen durch, wie alle deine Geschichten. :rolleyes:
Inhaltlich auch verstörend, ich denke, die Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, das beinahe jeder eine andere Interpretation haben wird, begründend auf den eigenen Erfahrungen.
Die einzige kritik, die mich ein wenig anspring, ist strittig, aber der springst zwischen vielen, extrem vielen grundverschiedenen Metaphern für die gleichen Dinge unher. Das bringt zwar zum Überlegen, wär aber IMHO nicht in dem Ausmaß nötig gewesen.

Scarecrow
26.02.2006, 17:21
Inhaltlich auch verstörend, ich denke, die Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, das beinahe jeder eine andere Interpretation haben wird, begründend auf den eigenen Erfahrungen.

Das ist gut so!

Hallo la Cipolla!

Vielen Dank dir mal wieder fürs lesen. Du hast schon recht, mit deinem Kritikpunkt. Aber manchmal muss man Dinge einfach öfters sagen, und wenn dies in verschiedenster Weise geschieht.
Vielleicht etwas übertreiben. Hm...

Grüße