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wequila
20.12.2005, 11:12
Das perfekte Verbrechen

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Die Nacht brach herein. Bald würde Anton sich Gedanken über einen Schlafplatz machen müssen. Noch einmal würde er nicht im Bahnhof übernachten.
Sie hatten ihn vor zwei Tagen aus seiner Wohnung geworfen, er hatte keine Miete mehr gezahlt. Wovon auch? dachte Anton jetzt bitter, während er ziellos die einsamen Straßen seiner Heimatstadt durchwanderte.
Anton hatte kein Geld. Er hatte zwar Angehörige, an die er sich hätte wenden können; Eltern und Großeltern lebten noch, er war ja noch jung. Doch zu denen konnte er nicht gehen, sein Stolz ließ es nicht zu. Sie haben von Anfang an nicht an mich geglaubt. Weder an mich und Steffie noch daran, dass es mit der Wohnung gut gehen würde. Zu seiner Verwandtschaft würde Anton nicht gekrochen kommen, das stand für ihn fest.
Doch irgendwoher brauchte er Geld. Schon den ganzen Tag lang, während er kreuz und quer und ohne Ziel durch die Stadt marschiert war, hatte Anton sich Gedanken darüber gemacht, wie er welches auftreiben sollte, möglichst viel, ein ganzes Kapital. Denn das war es, was er wollte, ein Kapital. Er würde irgendwo ganz von vorn anfangen. –
Jetzt war es bereits dunkel, und nichts hatte ihm dieser Tag gebracht, keinen Plan, keinen Schlafplatz. Anton sah auf und bemerkte, dass er am Schlosspark war, in einer Seitenstraße. Er schaute sich um. Es war finster im Park, und niemand trieb sich dort um diese Uhrzeit mehr herum. Aber um auf einer der Bänke zu übernachten, hielt Anton in Gedanken fest, war es im Dezember entschieden zu kalt. Er überlegte weiter. Die Mietshäuser auf der anderen Straßenseite: in kaum einem Fenster hingen Gardinen. Das war nicht die feinste Gegend hier, und die meisten Appartements standen leer. Wenn er sich zu einem von denen Zutritt verschaffen konnte …
Anton wurde in seinen Überlegungen unterbrochen, als er es von irgendwoher laut niesen hörte. Er schaute die Straße hinunter. Eine alte Frau war um die Ecke gekommen und schnäuzte sich gerade; sie hatte ihn noch nicht bemerkt. Anton blickte sich um, niemand sonst war zu sehen. Er beschloss Nägel mit Köpfen zu machen.
Er erklomm die hüfthohe Parkmauer, unbeholfen, und schlug sich ins Gebüsch. Er stapfte einige Schritte durchs Laub, kämpfte sich durch das Gewirr von Ästen, bis er sicher war soweit im Schatten verschwunden zu sein, dass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte; schon gar keine alte Frau mit vor Kälte tränenden Augen.
Anton hockte sich hin und wartete. Schließlich hörte er Schritte. Dann sah er den Hut, oder was auch immer es war, was die alte Frau da auf dem Kopf trug. Sie befand sich nun genau an der Stelle des Fußweges, an der Anton soeben ins Gebüsch geklettert war. Er räusperte sich.
„Guten Abend, gnädige Frau“, sagte er mit verstellter Stimme, so dass sie tiefer klang; er hörte einen unterdrückten Schrei, das Klappern von Schuhen auf Bordstein riss ab. Anton konnte sich der Aufmerksamkeit der alten Frau nun sicher sein und fuhr fort: „Ich habe eine Waffe auf sie gerichtet.“ Sofort errötete er; er tat es immer, wenn er log. Doch hier im Dunkeln konnte ihn niemand sehen. „Ich möchte, dass Sie Ihr Portemonnaie hervorholen, es vor sich auf die Erde legen und dann verschwinden. Ihren Personalausweis können Sie von mir aus vorher rausnehmen. Aber das Geld bleibt drin!“
Ohne es zu merken hatte Anton die letzten zwei Sätze mit seiner normalen Stimme gesprochen. Außerdem hörte er nichts von der anderen Seite der Mauer her, es müsste doch zumindest irgendwie rascheln, wenn die Alte jetzt ihre Börse hervornestelte. Anton war sich nicht sicher, ob er genug Eindruck auf sie gemacht, sie ausreichend verunsichert hatte. Er holte, um sich selbst aus der Verlegenheit zu helfen – und Verlegenheit sollte er jetzt besser am allerwenigsten verspüren, das war ihm klar – sein Feuerzeug aus der Jackentasche, machte damit das erstbeste Geräusch, das ihm einfiel, und sagte: „Das war das Geräusch, dass ich meine Waffe entsichert habe.“ Das klang wenig überzeugend: Anton hoffte, dass die Frau genauso wenig von Waffen verstand wie er selbst. Noch immer keine Reaktion.
Die Frau war da, Anton sah ihren Hut zittern. Aber sonst schien sich jenseits der Mauer nichts zu tun. Vielleicht ist sie taub, fuhr es Anton durch den Kopf. Vielleicht steht sie jetzt da, schnäuzt sich lediglich und hat kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe.
Doch plötzlich kam Bewegung in die alte Frau. Anton hörte ihre Absätze aufs Pflaster hämmern und sah ihre Kopfbedeckung davontreiben. Er verharrte. Angespannt hockte er im Gebüsch und hoffte, dass die Alte tatsächlich ihr Portemonnaie auf dem Fußweg hinterlassen hatte. Als schließlich ihre hastigen Schritte nicht mehr zu hören waren, beschloss Anton nachzusehen.
Doch er würde nicht zurück über die Mauer auf die Straße klettern, das war zu auffällig; nachher hing doch irgendwo jemand am Fenster. Nein, er würde sich jetzt im Dunkeln zu einem der Parkausgänge tasten, dann gemütlich um die Ecke spazieren, wie zufällig in die Seitenstraße einbiegen und dort hoffentlich eine prall gefüllte Börse finden. Und dann würde auch schon sein neues Leben beginnen, frohlockte jetzt Anton, während er im dunklen Park den Lichtern der Straßenlaternen entgegenstolperte.
Er konnte immer noch nicht fassen, was er getan hatte. Er hatte sich genau dieses Vorgehen schon immer ausgemalt, selbst als er noch nicht in Geldnot gewesen war, sogar explizit in dieser Straße, in diesem Teil des Parks. Es war ihm immer als das perfekte Verbrechen erschienen. Und nun hatte er es begangen.
Als Anton schließlich den Ausgang erreicht hatte, schritt er betont langsam das letzte Stück Fußweg bis zur nächsten Ecke ab und bog noch genau rechtzeitig in die Seitenstraße ein, um zu sehen, wie ein kleiner Junge gerade etwas von der Erde aufhob.
„Oh Scheiße“; Anton biss sich auf die Lippen: Dieses kleine Drecksbalg hatte soeben seine Beute eingesackt. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, entschlossen begann er dem Jungen hinterher zu stapfen. Er war bereits zu weit gegangen, als dass es jetzt noch ein Zurück hätte geben dürfen. Er würde dem Jungen das Portemonnaie schon abzuknöpfen wissen.
Als er ihn fast eingeholt hatte, drehte der Kleine sich um, erschrak und begann zu rennen. Anton biss sich abermals auf die Lippen, fluchte, und lief hinterher.
Zunächst hielt er mit, der Junge schien nicht der schnellste Renner zu sein. Doch er hatte eindeutig die bessere Kondition. Anton ächzte und stöhnte, der Junge aber wurde nicht langsamer. Sie waren bereits einmal um den gesamten Park gerannt. „Wo will dieses blöde Kind eigentlich hin?!“ hätte Anton vor Wut beinahe geschrieen. Er konnte nicht mehr. Er blieb stehen. Der Junge rannte weiter. Doch Anton gedachte ihn nicht entkommen zu lassen.
Das Mauerwerk war an dieser Stelle brüchig. In einem Akt der Verzweiflung nahm Anton einen der lockeren Steine und warf ihn nach dem Kind. Der Stein flog durch die Nacht, ging nieder und traf genau zwischen den Schulterblättern. Der Junge fiel nach vorn mit dem Gesicht auf die Straße – ein dumpfes Klatschen erklang – und blieb liegen.
Entsetzt und immer noch stoßweise atmend stand Anton da und konnte wiederum kaum, was er getan hatte. Das Kind regte sich nicht. War es tot?
Plötzlich durchzuckte es Anton. Hektisch sah er sich in alle Richtungen um. Doch noch immer waren die Straßen leer. Nirgendwo schien ein Fenster erleuchtet. Vollkommen unbemerkt waren Anton und der Junge um den Park gerannt, vollkommen unbemerkt hatte Anton ihn mit einem Mauerstein totgeschmissen. –
Was, fuhr es ihm auf einmal durch den Kopf, wenn es nicht mal das Portemonnaie gewesen war, was der Junge vorhin aufgehoben hatte; wenn die alte Frau es nie überhaupt auf den Fußweg gelegt hatte? Vielleicht hatte der Junge sich lediglich nach einem Bonbonpapier gebückt, das ihm noch gefehlt hatte in seiner Sammlung. Und was, wenn es zwar das Portemonnaie gewesen war, aber die Alte kaum Geld drin hatte?
All das musste Anton sofort herausfinden.
Er war wieder etwas zu Atem gekommen und lief an die Stelle, wo der Junge lag, um ihm die Taschen zu durchsuchen. Zu Antons Glück war der Kleine genau unter einer Straßenlaterne zu Fall gekommen. Er griff ihm in beide Anoraktaschen und brachte tatsächlich eine Börse zum Vorschein, welche noch dazu eindeutig einer alten Frau gehörte; zumindest keinem kleinen Kind; sie war aus Schlangenleder.
Anton riss sie geradezu auf, einige Münzen fielen heraus; sonst war nichts drin. Er hatte das Kind umsonst getötet, für nichts und wieder nichts; für ein paar Münzen. Verächtlich sah er auf den Boden, wo sie lagen und das Licht der Straßenlaterne zurückwarfen. Auch die orangefarbenen Reflektoren am Anorak des toten Jungen warfen das Licht zurück …
Jetzt erst wurde Anton bewusst, was er getan hatte. Wie toll warf er seinen Kopf herum und unterdrückte Schreie der Verzweiflung. Voll Zorn biss er ins Kunstleder des gestohlenen Portemonnaies und zerrte mit den Zähnen daran. Und plötzlich riss es auf. Scheine flatterten heraus, segelten im fahlen Licht der Laterne sanft zu Boden. Anton hielt in seiner Raserei inne.
Er bückte sich, hob einen der Geldscheine auf: ein Hunderter. Er sah sich das Portemonnaie an. Im Innenfutter klaffte eine Öffnung, wo vorher noch keine gewesen war; drin steckten zahllose weitere Scheine, gebündelt. Anton hatte in seinem Anfall das Geheimfach aufgebissen.
Schnell stopfte er den Hunderter, den er soeben aufgehoben hatte, in die Innentasche seiner Jacke und machte sich daran, auch die übrigen Scheine, die auf die Erde geflattert waren, aufzulesen. Dabei bemerkte er noch etwas anderes, das offenbar aus dem Portemonnaie auf den Fußweg gefallen war: den Personalausweis der alten Frau. Anton lachte. Hatte die blöde Kuh ihn also doch nicht vorher rausgenommen. Was hatte sie dann überhaupt so lange hinter der Mauer gemacht?
Er hob den Ausweis auf und sah ihn sich an. Er schaute aufs Passbild. Er schaute auf den Namen. Er kannte die Frau. Sie war seine Großmutter.



Hobbygärtner Funke

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Beinahe andächtig spazierte Herr Funke durch seine ehemalige Wohngegend. Dass es ihm dabei im Herzen zog, hatte jedoch gar nichts zu heißen: Das mussten nicht zwangsläufig schmerzhafte Erinnerungen, konnte genauso gut irgendeine Krankheit sein. Er war ja immerhin nicht mehr der Jüngste.
Gut zwanzig Jahre, rechnete der alte Mann zurück, waren vergangen, seit es ihn damals in einen anderen Teil der Stadt verschlagen hatte. Kaum etwas schien sich geändert zu haben. Noch immer beleidigten dieselben hässlichen Reihenhäuser das Auge, eins grauer als das nächste. Trostlosigkeit ging hier in den Torwegen seit Jahr und Tag ein und aus.
Wie er so der alten, traurigen Zeiten gedachte, musste Herr Funke sich eingestehen, dass es wohl doch die Erinnerungen waren, die seinem Herzen zu schaffen machten. Doch da musste er durch. Schließlich war er heute ausdrücklich hierher zurückgekommen, um die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen. –
Herr Funke hatte nämlich vor zwanzig Jahren im Hinterhof des Hauses, in dem er damals gewohnt hatte, einen Baum zu pflanzen geruht. Und ob aus dem etwas geworden war – um das herauszufinden, war der alte Mann heute hier sowie offensichtlich bereit, sich seelischen Belastungen auszusetzen.
Es würde sich auch nicht um irgendeinen Baum handeln.
Man wusste von Kindern, dass sie mitunter einen Pfirsichkern verbuddelten, in der Hoffnung, eines Tages die saftigsten aller Früchte von ihrem höchsteigenen Pfirsichbaum pflücken zu können; auch Kirsch-, Apfel- und Mandarinenkerne waren schon von zahllosen Jungspunden zu diesem Zwecke unter die Erde gebracht worden.
Doch Herrn Funke hatte seinerzeit eine weitaus originellere Idee beseelt, mit welcher sich das bloße Verlangen nach frischem Obst durchaus nicht messen konnte: einen Pudelbaum zu pflanzen. Was brauchte es dazu mehr als ein geeignetes Fleckchen Erde sowie des Pudels Kern? –
In der Nachbarschaft waren damals mehrere solcher Hunde vorhanden gewesen, er hatte sich einfach einen davon geschnappt. Aufgefallen war es keinem, die Viecher sahen eh alle gleich aus. Das Schwierigste an dem ganzen Unterfangen war für Herrn Funke gewesen, den leblosen Hundekörper – nachdem er das Tier höchst selbst eingeschläfert hatte – bis aufs Skelett abzunagen: Der damals noch nicht ganz so alte Mann hatte auf Nummer Sicher gehen wollen, mit einem Pfirsich verfuhr man schließlich genauso, man kaute sich durch das den Kern umschließende Fruchtfleisch. Geschmeckt hatte es nicht.
Als das Pudelgerippe dann fein säuberlich angenagt vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte, war Herr Funke sich nicht sicher gewesen, was genau davon denn nun des Pudels Kern sein sollte. Vorsichtshalber hatte er den kompletten Knochensatz verbuddelt. Mutter Erde würde sich, davon war er ausgegangen, schon raussuchen, was sie brauchte, um einen Pudelbaum wachsen zu lassen. –
Tatsächlich, sie hatte es getan: Der alte Mann lehnte nun erschöpft in seinem alten Torweg, sah auf den Hof, und dort stand ein Baum. Er ging hin, stellte sich zu des Baumes Wurzeln auf und sah ihn sich an.
Doch der hölzerne Gesell trug keinen einzigen Pudel an seinen knorrigen Ästen.
Hilflos wandte Herr Funke sich um, wollte sicher gehen, dass dies auch der richtige Hinterhof sei: Er war es, der alte Mann erkannte die Schmierereien an den Hauswänden. Wieder sah er an seinem Baum hinauf.
Blätter hingen dort zwar – aber keine Pudel. Herr Funke verzweifelte. Ihm war ein Strich durch die letzte aller Rechnungen gemacht worden.
Er hatte heute hierher zurückkommen und einen Pudelbaum vorfinden wollen. Er hätte die Pudel von den Ästen gepflückt und mit ihren Knochen einen Palast gebaut, um sich in eben jenen die schönste aller Frauen als Gattin einzuladen, auf dass sie gemeinsam ein Kind hätten zeugen mögen. Die Früchte seines Pudelbaums wären ihm den Weg zur endgültigen Selbstverwirklichung zu ebnen imstande gewesen: Herr Funke hätte einen Baum gepflanzt, ein Haus gebaut sowie ein Kind gezeugt.
Doch nun war nichts aus alldem geworden. Der Faustschlag, der ein klaffendes Loch in die Mauer der Bedeutungslosigkeit seines Seins hatte schlagen sollen – dieser Faustschlag war ins Leere gegangen.
Die Wucht der Erkenntnis traf Herrn Funke so unvorbereitet und hart, dass er zwei schwankende Schritte zurücktaumelte. Voll irrer Verzweiflung gaffte er den Baum an. Gott wusste, wer ihn gepflanzt hatte; Herr Funke war es nicht gewesen. Wahrscheinlich hatte derjenige seinerzeit sogar das Pudelskelett ausgegraben und längst entsorgt.
Der alte Mann sah sein Lebenswerk zerstört. Ihm kamen heiße Tränen, voller Verbitterung weinte er sie. Dann schnäuzte er sich in seinen Schal, nahm ihn ab, machte hier einen Knoten, da einen Knoten, und erhängte sich an dem Baum, den er selbst nicht gepflanzt hatte. Und während sein lebloser Körper im Wind hin und her bommelte, tat sich plötzlich ein Astloch im Stamm des Baumes auf, zwei Dutzend Pudel sprangen heraus und nagten seine Leiche bis auf die Knochen ab, der Ironie des Schicksals wegen. Und auch Gerechtigkeit!




Schauergeschichte

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Die Nacht hatte bereits ihren rechtmäßigen Platz eingenommen. Am schattenschwarzen Firmament prangte der Vollmond wie die entblößte Brust einer sehr, sehr blassen Frau.
Auch Irene hätte etwas Röte vertragen können; sie war vor Erschöpfung totenbleich. Seit einer geschlagenen Stunde schon stapfte das Mädchen durch Dorf um Dorf auf dem Weg zum Haus seiner Gastfamilie. Es hatte den letzten Bus verpasst. –
Es galt in einem Nebel zu waten, welcher die Durchdringbarkeit eines mittleren Wohngebäudes besaß; jedoch keine Fenster hatte. Irene sah die Hand vor lauter Augen nicht. Das war nur logisch, denn ihre beiden Hände steckten sowohl in dicken Fäustlingen als auch kilometerweit in den Jackentaschen. Es war sehr kalt draußen.
Die Straßenlaternen schienen gerade hell genug, dass Irenes Augen sich nicht an die Dunkelheit gewöhnen, und gerade schwach genug, dass sie trotzdem nichts sehen konnten. Für den Sehnerv des armen Mädchens war es eine regelrechte Marter. Das Licht der Laternen war geradezu marterfahl.
Unter derlei Bedingungen also kämpfte Irene sich voran. Ihre zarten Füßchen klopften einen Rhythmus aufs Pflaster, zu dem der erbarmungslose Wind sein immerwährendes, altes Lied pfiff. Auch Wölfe stimmten mit ein.
Schließlich, endlich, zeichnete sich am Horizont das Anwesen der Gastfamilie ab. Irene hätte erleichtert aufgeatmet. Doch sie befürchtete mit einem Stoßseufzer die schmutzige Fantasie der sie offenkundig umzingelnden, wilden Tiere anzuregen. So unterdrückte das Mädchen zunächst noch seine Erleichterung und beschleunigte lediglich die ohnehin schon hastigen Schritte.
Nach vierhundert weiteren Metern schließlich stand Irene vor dem metallenen Portal. Plötzlich begann sich jenes ohne ihr Zutun zu öffnen. Sie erschrak. Ein jämmerliches Quietschen erklang, als kratze Satan persönlich mit seinen nachtschwarzen Fingernägeln an einer Tafel herum, auf welcher zuvor die vier Apokalyptischen Reiter französische Vokabeln konjugiert hatten. Irene trat nichtsdestotrotz ein.
Sie überquerte den Vorhof, der Kies knirschte unter ihren Sohlen. Plötzlich krachte ein Blitz. Irene sah nach oben, Regen fiel ihr ins Auge. Doch es war nur ein kurzer Schauer. –




Die Wege des Herrn

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Hank ging spazieren. Der Wind blies heftig wie eine übereifrige Bordsteinschwalbe. Plötzlich begannen sogar Mülltüten und gelbe Säcke durch die kühle Septemberluft zu segeln. Mehrere trafen Hank am Kopf. Der wusste nicht, wie ihm geschah, blieb angewurzelt stehen und konnte kaum den Geschossen ausweichen, die ihm geradezu gezielt um die Ohren zu fliegen schienen. Es war fast, als hätte Gott sich gegen ihn verschworen.
Als er wieder einer der Tüten ausweichen wollte, verfing sich diese in seiner Hand. Hank öffnete sie und sah hinein: lauter menschliche Gliedmaßen sowie unidentifizierbares Gekröse, alles war mit Blut verschmiert.
Hank wunderte sich nicht weiter darüber. Er war Serienkiller, spezialisiert auf Frauen, und zerstückelte seine Opfer nach der Tat und entsorgte ihre Einzelteile in exakt solchen Müllbeuteln. Der sich ihm bietende Anblick war Usus für Hank.
Doch Moment! Dieser hier war ja einer seiner Müllbeutel! Den Unterarm dort erkannte er, konnte sich noch genau erinnern, wie er ihn abgetrennt hatte. All die Müllbeutel, welche ihm um die Ohren flogen, waren seine höchst eigenen. Eine schreckliche Erkenntnis für Hank.
Also war doch Gott im Spiel. Zur Strafe, weil Hank die ganzen Frauen getötet hatte, haute Er ihm nun seine Müllbeutel um die Ohren wie die verärgerten Eltern ihrem ungehorsamen Sprössling dessen Spielzeug, welches er nicht anständig weggeräumt hatte.
Spielzeug, das ich nicht anständig weggeräumt habe …
Plötzlich kam Hank der Gedanke, dass Gott ihn vielleicht gar nicht hatte bestrafen wollen. Vielleicht hatte Er ihn lediglich darauf aufmerksam machen wollen, dass Hank die zerstückelten Leichen seiner Opfer nicht „anständig wegräumte“. Allzu gut konnten sie jedenfalls nicht versteckt sein, wenn es jedem dahergelaufenen Wind möglich war sie zu erfassen und ihm um die Ohren zu wehen. Und tatsächlich, fiel es Hank plötzlich wie Schuppen von den Augen: die letzten Müllbeutel hatte er allesamt bei sich vor die Haustür gestellt, auf dass die Müllabfuhr sie abholen möge.
Sicher würden diese jedoch entschieden Alarm geschlagen haben, wären ihnen die abgetrennten Köpfe und Gliedmaßen und das viele Blut aufgefallen – hätte nicht Gott eingegriffen und die Müllbeutel rechtzeitig aus den behandschuhten Klauen der Müllmänner entrissen und ihm, Hank, direkt in die Hände gespielt, um ihn mit der Nase auf seine fatale Nachlässigkeit zu stoßen.
Gott war also auf seiner Seite, schlussfolgerte Hank. Gut zu wissen. Sogleich würde er sich auf die Jagd nach seinem nächsten Opfer begeben und es nach allen Regeln der Kunst auseinander nehmen. –

Diese Geschichte hat bewusst auf einen Spannungsbogen verzichtet. Sie sollte in der Hauptsache dem Leser die Möglichkeit einräumen, an der kranken und verquere Psyche eines Schwerverbrechers teilzuhaben. Eine äußere Handlung hätte nur abgelenkt von dem, was im Inneren des Serienkillers vor sich geht: all jene realitätsfernen und entarteten Gedankengänge, die schließlich zu der grausamen Tat selbst führen.
Was hätte außerdem in diesem Zusammenhang eine äußere Handlung schon anderes hergeben sollen als die Zerstückelung einer Frauenleiche? Und wer so etwas lesen will, ist schließlich selbst krank genug und braucht sich nicht erst irgendwoher kundig machen über verkommene Psychen.
Ich danke dem Leser für sein Verständnis und hoffe, ihm mit dieser Studie über den verbrecherischen Verstand etwas Kurzweil bereitet zu haben und dass er das nächste Mal einen Serienmörder erkennt, wenn er ihm gegenüber steht, und die nötigen Vorkehrungen treffen kann. Denn meine Leser sind mir lieb und teuer und ich könnte es mir niemals verzeihen, stieße ihnen etwas zu.



Die Geschichte zweier Liebender

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Es war nachts, ein junger Mann ging in den Park, um sich die Sterne anzusehen. Er setzt sich auf eine der Bänke, die vor Finsternis kaum auszumachen waren, und schaute ins Firmament. Hunderte heller Punkte blitzten dort. Doch nur einem von ihnen gedachte der Jüngling seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.

Die junge Frau zitterte schon kaum mehr vor Kälte, als sie die grasbewachsene Anhöhe hinter dem Haus ihrer Gasteltern hinaufstieg. Trotz der nächtlichen Stunde und kalten Jahreszeit schien es hier draußen doch weitaus milder zu sein als sie zunächst angenommen hatte. Das Mädchen setzte sich auf einen Baumstamm und sah in die Sterne und wusste, dass der, den sie liebte, gerade irgendwo dasselbe tat.

Es fiel dem jungen Mann nicht schwer, den einen Stern am Nachthimmel auszumachen. Sie hatten ihn sich früher oft gemeinsam angesehen, seine Freundin und er, es war „ihr“ gemeinsamer Stern gewesen und er war es noch jetzt. Sie hatte ihm jedes Mal mit flüsternd-andächtiger Stimme erklärt, wohin er schauen und an welchen Sternbildern er sich orientieren musste; über die Sommer war ein Ritual daraus geworden. Und nun hatte der Jüngling die Worte seiner Freundin zur Position des Sterns am Firmament verinnerlicht und fand ihn auf Anhieb.

Die junge Frau wunderte sich ein wenig über sich selbst, während sie den Nachthimmel nach einem Stern absuchte und ihn noch immer nicht fand. Dabei hatte sie ihrem Freund früher unzählige Male gezeigt, wo und wie er zu finden war. Mit bewegtem Lächeln gedachte das Mädchen nun jener Sommernächte, in denen sie gemeinsam auf irgendeiner Wiese unterm Junimond gelegen hatten, um sich ihren Stern anzuschauen. Es war der jungen Frau die schönste aller Erinnerungen. Und wie sie eben jener nun nachhing, fielen ihr auch ihre eigenen Worte von damals wieder ein, als sie ihm die Orientierung am Nachthimmel erklärt hatte, und fand den Stern.

Der Anblick des Stern erfüllte den jungen Mann mit innigster Zufriedenheit, und zu wissen, dass jene, welche er liebte, gerade irgendwo dasselbe sah. Er fühlte sich ihr hier und jetzt so nahe, dass sein Herz zu zerspringen drohte. Doch gleichzeitig durchflutete ihn ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, als könne er es mit dem gesamten Firmament aufnehmen. Oh ja, er wollte für diese Frau die Sterne vom Himmel holen; zumindest diesen einen. Ganz fest wünschte es sich der Jüngling, fixierte dabei den Stern und gedachte seiner Freundin.

Der jungen Frau war, als leuchte der Stern direkt in ihre Seele hinein. Sie fühlte eine stille und zugleich überwältigende Euphorie sich ihrer bemächtigen, spürte, wie das Licht des Stern in ihr wuchs und sie schließlich ganz erfüllte und tief mit dem Einen, für den sie heute Nacht hier hergekommen war, verband. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz beide Augen. Das Mädchen blinzelte einige Male erschrocken und stellte dann fest, dass der Lichtpunkt dort am Firmament tatsächlich größer geworden war, er wurde noch immer größer und greller, so dass es ihren Sehnerv angegriffen haben musste: Der Stern schien sich ihr zu nähern. Doch die junge Frau starrte noch immer wie gebannt ins Zentrum seines Leuchtens und vermochte sich nicht zu rühren. Schließlich war er so weit herangekommen, dass sie vom Gleißen seines Lichts erblindete; im nächsten Augenblick fing die junge Frau von der Hitze des vom Nachthimmel rasenden Sterns Feuer, ging in Flammen auf, und schließlich zermalmte sie das einstige Symbol ihrer grenzenlosen Liebe gnadenlose unter sich.

Der junge Mann stand auf und ging. Der Stern war nicht mehr zu sehen, und war er sicher, den erhabenen Moment der Verbundenheit zu seiner Freundin ganz ausgekostet zu haben. Und noch etwas wusste er, vielmehr fühlte es: dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Er hatte ihr die Sterne vom Himmel geholt, den Stern. Das wusste er anhand der Wärme, die sein Herz erfüllte.

Cyberwoolf
20.12.2005, 15:40
*grins*

Nun ja, da ich dich kenne hab ich mir sowas schon gedacht. Als es dann aber immer noch nicht eintrat begann ich zu zweifeln und fragte mich, ob du uns diesmal mit einem unspektakulären Ende überraschst...

Übrigens kann man weder ins Firmament, noch in die Sterne schauen. Auf beides schaut man drauf, sicher bei Himmel und Sonne sagt man das anders, aber wir haben ja auch die deutsche Sprache. Theoretisch sieht sowieso nur in das LICHT der Sonne.

Versuch den Moment der Wende zu kürzen, so wie es jetzt ist zieht es sich zu sehr hin, selbst für jemanden, der dich nicht kennt wird das Ende der Geschichte deutlich. (Nun ja, eigentlich ist das ja noch nicht das Ende, das eigentliche find ich ganz gut)

La Cipolla
21.12.2005, 11:51
Hab die Geschichten jetzt zusammengezogen, danke fürs Verständnis.:rolleyes:

wequila
24.12.2005, 13:49
du hast die ganzen kursiv-sachen weggelassen. und mein name wird klein geschrieben
aber ist mir eh grad egal *pfeif*

wequila
02.01.2006, 23:16
In meinem Traum ritt ich auf dem Rücken eines schwarzen Pferdes durch den amerikanischen Westen des neunzehnten Jahrhunderts. Die Sonne stand tief, roter Sand erstreckte sich, wohin ich blickte, und am Horizont die mächtigsten aller Felsmassen. Nirgends eine Menschenseele, ich war allein mit dem Pferd und der Steppe.
Ich hatte das Gefühl Stunden, ja Tage geritten zu sein. Doch die Sonne hatte sich kein Stück bewegt, als könne sie sich nicht losreißen von meinem Anblick. Vielleicht gab mein Traum soviel Realismus nicht her.
Ich kam zu einer Ranch, mitten im Nichts der Prärie. Mein Pferd hielt inne.
Ein sehr alter Mann trat aus dem Gebäude und setzte ein paar schwerfällige Schritte in den roten Wüstensand. Er blieb stehen und brachte eine Waffe zum Vorschein. Sofort schoss auch meine Hand gen Gurt und zog den Revolver. Doch der Alte schenkte mir keinerlei Beachtung. Er richtete seinen Colt vor sich auf die Erde und betätigte dreimal den Abzug. Die Schüsse krachten, ich erschrak. Der alte Mann hatte sein Schießeisen bereits wieder weggesteckt und schleppte sich Richtung Brunnen. Ich sah ihm bei all dem noch immer gebannt zu.
Er leierte sich aus der Tiefe des Brunnens einen Eimer voll Wasser herauf und trug ihn zurück zu der Stelle, an der sich die Kugeln in die Erde gebohrt hatten. Dort schüttete der Alte das Wasser aus und ließ den Eimer fallen. Er schien am Ende seiner Kräfte.
„Wozu tust du das?“ Der Greis sah auf, bemerkte mich jetzt zum ersten Mal. Er erwiderte: „Hast du noch nie was vom Bleigießen gehört, Junge?“ Und auf einmal ritt ich weiter, mein Pferd hatte seinen Trab wieder aufgenommen, ohne noch etwas zu erwidern oder mich umzublicken.
Hatten sie im Wilden Westen denn schon die Tradition des Bleigießens gekannt? Allem Anschein nach nicht. Was mochte der Alte damit bezweckt haben, er hatte die blauen Bohnen sicher nicht umsonst gepflanzt. Was sollten sie dort wachsen lassen? Da ich selbst einen Revolver bei mir trug, sollte es kein Geheimnis bleiben.
Ich stieg vom Pferd und feuerte drei Schüsse in den Wüstensand. Doch ich hatte kein Wasser. In der Not ließ ich mein Pferd auf die Einschusslöcher pissen und schlug unweit mein Lager auf. Ich wollte am nächsten Morgen sehen, was gewachsen war.
Die Sonne bewegte sich noch immer nicht, doch irgendwann musste die Nacht gekommen sein. Ich wachte aus tiefem Schlaf auf. Es dämmerte.
Im jungfräulichen Licht des anbrechenden Tages sah ich, was erwachsen war aus dem Inhalt meiner Revolvertrommel: ein Baum mit nur einem einzigen, mächtigen Ast. Ich befand mich im Wilden Westen, doch war ein Mensch meiner Zeit und erkannte, was dort am Ast hing: eine Wasserstoffbombe. Ich fing an mir Sorgen zu machen, ob, was ich hier träumte, eine Parabel sei, und ich aufpassen musste, was das alles zu bedeuten hatte.
Plötzlich fing die Bombe an zu ticken. Tickten Wasserstoffbomben? Was träumte ich nur für einen Mist zusammen. Ich konnte von Glück sagen, dass ich just in diesem Moment aufwachte. Ich öffnete meine Augen – und starrte in den Lauf eines Revolvers. Am Fußende meines Bettes stand jemand und hielt mir die Knarre ins Gesicht.
Noch immer tickte die Bombe aus meinem Traum. Es war das Klicken des Colts, der Fremde betätigte unaufhörlich den Abzug, doch die Trommel schien leer zu sein. Kein Schuss krachte.
Nun begann der am Fußende in seinen Manteltaschen nach Patronen zu wühlen. Er musste bemerkt haben, dass ich wach war, zu kümmern schien es ihn nicht. Er würde seinen Revolver laden und mich dann erschießen.
Ich richtete mich halb auf und sah zu meinen Brüdern. Sie lagen beide regungslos mit jeweils drei Löchern in der Brust in ihren Betten. Das mussten die Schüsse in meinem Traum gewesen sein.
Der Killer am Fußende schickte sich nun an, Kugeln in die Revolvertrommel zu stopfen. Während er nachlud, richtete ich mein Wort an ihn. Ich platzte heraus mit einer engagierten Rede über die Spirale der Gewalt, in der wir uns seit jeher befänden, und dass wir Opfer waren der Menschheitsgeschichte. Ich ließ einiges aus meinem Traum mit einfließen, es war (nicht erst) im Wilden Westen alles aus den Rudern gelaufen und hatte seinen vorläufigen Höhepunkt mit dem Abwurf der Atombombe erreicht, und noch heute ging es immer so weiter. Er sei der lebende, ich würde bald der sterbende Beweis dafür sein, käme er nicht zur Vernunft. Wir müssten aufbegehren und der Herrschaft des Homizids die unbewaffneten Rücken zukehren. Ich schloss mein flammendes Plädoyer für die Menschlichkeit mit dem Aufruf an meinen Mörder, den kleinen Schritt in eine Zukunft zu wagen, die als einzige Lösung den Frieden kennt.
Mehr gab meine Improvisationskunst nicht her. Der Killer hatte während meiner Ausführungen keinen Schuss abzufeuern gewagt. Noch immer stand er am anderen Ende meiner Schlafstatt. Ich sah, dass er bebte, und hörte, dass er schluchzte. Meine Rede hatte ihn spürbar mitgenommen. Ich streckte meine Hand aus. Er reichte mir seine Waffe. Ich sah nach, ob sie mittlerweile wieder geladen war, und feuerte der Memme daraufhin sechsmal Blei in die Fresse.

schreiberling
04.01.2006, 16:15
Große klasse,wirklich das Beste was ich bisher von dir gelesen habe.
Gibt keine Kritikpunkte

La Cipolla
04.01.2006, 16:51
Wie geil! :eek:
Das Ende ist eines der Besten die ich hier gelesen habe und die Geschichte als solche nicht minder gut. Und obwohl man das Ende eigentlich hätte erwarten können, hat es mich vollkommen überrascht, absolute Spitzenklasse.
Ein Kritikpunkt: Bis zum Ende ist die ganze Story sehr ernst gehalten, vor allem am Anfang, aber dann kommt:

und ließ es draufpissen
(Das Pferd) Die Stelle nimmt ein wenig Atmosphäre, schon ein besseres Wort für Pissen hättes getan.

Aber wirklch sehr geil, mehr fällt mir dazu nicht ein.

Wohan
04.01.2006, 17:29
Was wäre eine Geschichte von wequila ohne Gewalt ? Keine Geschichte von wequila :D

Wie auch immer , nett jo aber imo nicht mehr.

NeoInferno
04.01.2006, 20:06
Die Geschichte gibt mir, bis auf das gewohnt überraschend-ironische Ende, rein gar nichts.
Sprachlich sehr gut, aber inhaltlich derart belanglos und - wie ich persönlich finde - schlecht.
Wenn man die Story kurz resümiert, merkt man das besonders..

Ach ja, mich würde wirklich interessieren, was konkret meine Vorkritiker an der Geschichte mögen? :)

wequila
04.01.2006, 20:17
Jetzt grinste er wieder sein fettes Grinsen. Gleich würde er den Revolver an seine rechte Schläfe setzen und abdrücken, es würde Klick machen und das war es dann. Ich wand mich, wie er es gewohnt war und erwartete, auf meinem Stuhl, zerrte an den Fesseln und warf meinen Kopf herum, als würde davon der Knebel lockrer. Ich kannte das Spiel und hielt mich an die Regeln.
Da, nun hatte er abgedrückt. Wie durch ein Wunder war die Kammer leer gewesen, wer hätte es gedacht, einmal mehr, das wievielte Mal in wie vielen Jahren Ehe? Mein Mann war ein Meister im Russisch Roulette. Zum Glück hatte ich beim Abstrampeln auf dem Stuhl ausreichend geschwitzt, er konnte es als Angstschweiß deuten und zufrieden sein. Jovial grinste der kleine Fettwanst, während er mich losband. „Oh Henry!“ Ich fiel ihm in die Arme, es war überstanden. Nichts würde nun mehr folgen, sein Lustgewinn war erwirkt. Er würde nicht mit mir schlafen wollen, wozu ich mich ohnehin hätte überwinden müssen, sondern brachte mich lediglich ins Bett. Ganz schwach ließ ich mich in die Federn sinken, ein Hauch von Seufzer entfuhr meinen noch immer zitternden Lippen, schon war ich entschlafen. Mehr Probleme hätte ich damit gehabt, jeden Sonntag einen Orgasmus vortäuschen zu müssen.
Ganz so war es ja nicht. Henry veranstaltete seine Horrorshow nicht wöchentlich, sondern ein- bis zweimal im Jahr, neunzehnhundertvierundachtzig hatte er sich dreimal dazu hinreißen lassen. Nichtsdestotrotz, im Laufe einer Ehe kam schon was zusammen. Manchmal, oft, hatte ich mir gewünscht, mein Mann wäre ein Schwuler und würde mich ganz einfach mit einem Gorilla vom Bau betrügen, der das Geld brauchte. Stattdessen ertrug ich seit Jahr und Tag sein armseliges Kammerspiel. Ich hatte nie begreifen können, dass es ihm selbst nie langweilig wurde.
Ich gebe zu, die ersten paar Male habe ich aufrichtig gezittert. Zwar war Henry mir schon damals egal gewesen – wir hatten nicht aus Liebe geheiratet, sondern aus Pflichtbewusstsein: Aber ich fürchtete um mich. Was wäre, würde der Revolver eines Tages losgehen? Ich sah vor mir, wie Henry zu meinen gefesselten Füßen verblutete und mich nicht mehr würde losbinden können, und geknebelt wie ich war würde auch ich im Keller verrecken. Ich hegte dieses Bedenken allerdings nur solange ich meinem Mann das Spiel mit dem Feuer abnahm. Als ich herausfand, dass die Trommel nie auch nur eine einzige Kugel enthalten hatte, fügte ich mich fortan gelassener in mein Schicksal, tat ihm weiterhin den Gefallen mich zu winden und hielt ihn dabei für einen noch größeren Hanswurst als zuvor schon.
Am Tag, als ich seinen Bluff bloßstellte, gab Henry zunächst einmal mehr die immergleiche Show seines erbärmlichen Lebens. Diesmal hatte er sich sogar etwas Besonderes einfallen lassen: Er umschloss den Lauf des Revolvers mit seinen fetten, hässlichen Männerlippen und lutschte daran und machte dabei ein Gesicht ganz genau wie ich es tat, wenn ich seinen Schwanz in den Mund nahm. Henry zwinkerte mir zu. Ich wusste, dass es eine Parodie auf mich sein sollte. Als seine Vorstellung schließlich zu Ende war, rannte er würgend die Treppen hinauf. Er hatte sich offensichtlich vor der wie immer fruchtlosen Betätigung des Abzugs den Revolver zu weit in den Rachen geschoben, ihm war übel geworden. Sollte er mal sehen, wie das war – wobei, mir konnte das mit Henrys schmalem Glied kaum passieren.
Er war für einige Zeit von der Bildfläche verschwunden, ich hörte ihn oben im Bad kotzen, und wie der Zufall so spielt, waren an diesem Tag meine Fesseln weniger straff als sonst. Henry hatte vor Aufregung über seinen neuen Trick alles andere um sich herum vergessen und bei den Vorbereitungen geschludert.
Ich befreite mich selbst, schnappte mir den Revolver, stellte fest, dass keine einzige Kugel in der Trommel war, erschrak zunächst, zog meine Schlüsse, setzte mich dann wieder, wissend, auf meinen Stuhl, fesselte mich sporadisch selbst und ließ Henry; als er wieder auftauchte, noch immer blass vom Erbrechen, den Retter spielen. –

Nie hat das ewige Spielchen seinen Reiz für ihn verloren. Zwar haben wir es dieses Jahr noch nicht gespielt. Aber ich fühle, es liegt in der Luft. Ach Henry, gibst du denn nie auf. Dein Herz ist weiß Gott schwach genug, soviel Aufregung verträgt es nicht. Und ich bin auch nicht mehr die Jüngste. Aber ich habe ja nichts mit der Pumpe, mir kann man das noch zumuten. Und deinem kleinen, verschrumpelten Herzchen wiederum, wette ich, tut das Ganze sogar gut.
Da kommst du auch schon, klein, dick und alt, und bittest mich in den Keller, der Schraubstock lässt sich nur zu zweit bedienen. Ach Gott, Henry, beleidige nicht meinen Intellekt. Ich folge dir bereitwillig und freue mich fast auf dein Tänzchen mit dem Gevatter. Ich habe dir nämlich sechs Platzpatronen in deinen Revolver geschmuggelt. Hoffentlich siehst du nicht vorher nach. Oh nein, was tust du, Henry, wieder einmal hast du mich soweit, du fesselst mich auf den Stuhl, ich hätte es wissen müssen. Du ziehst die Fessel ungewohnt straff, hätte ich dir nicht mehr zugetraut auf deine alten Tage. Für einen Moment bin ich aus dem Konzept gebracht. Doch schon fiebere ich bereits wieder mit, du greifst zum Revolver, wirst du ihm in die Trommel schauen? Aber warum solltest du, seit über zwanzig Jahren hat diese Waffe keine Kugel mehr gesehen. Oh, du wirst dich ganz schön erschrecken, lieber Henry, irgendwann musste ich es dir ja so ein klein bisschen heimzahlen. Doch was ist das, du richtest den Revolver auf mich? Scheint das immergleiche Getue endlich auch dir langweilig geworden zu sein. Henry, du überraschst mich. Ich winde mich, wie kannst du nur, ich bin seit einem knappen Vierteljahrhundert deine Frau, wenn in der Kammer nun eine Kugel ist, du wirst es dir niemals verzeihen können. Ich glaube, wir haben beide unseren Spaß. Und jetzt drückst du ab. Ein Schuss kracht. Mir passiert nichts. Sind ja nur Platzpatronen. Aber du, Henry, bist umgekippt vor Schreck. Dein armes kleines Herz. Du hast dir, wie ich sehe, beim Aufprall den Kopf blutig geschlagen. Siehst du mal, wie es ist. Man spielt nicht mit den Gefühlen derer, die man liebt. Aber auch wir hätten nicht mit unseren Gefühlen spielen dürfen. Das haben wir nun davon. Du liegst ohnmächtig, vielleicht tot, auf dem Kellerboden, und ich bin fester gefesselt als erwartet und komme von selbst nicht los. Wenigstens hast du mich diesmal zu knebeln vergessen. Warst wieder zu sehr auf deinen neuen Trick konzentriert, was, Henry, alter Falschspieler?
Ich versuche zu schreien, doch mir zieht der Qualm von der scheiß Platzpatrone ins Maul, ich kann nur husten. Jetzt bin ich heiser. Meine Stimme versagt. Nur mein Gewissen spricht. Es flüstert: „Mit Herzen spielt man nicht.“

Cyberwoolf
04.01.2006, 21:40
"Mit Herzen spielt man nicht." Grandios! Phänomenal! Zugegeben, deine Sprache war stellenweise etwas vulgär, was jedoch ins Gesamtbild gepasst hat. "Mit Herzen spielt man nicht." Toll, kein Satz hätte die Geschichte besser abschließen können.

wequila
05.01.2006, 10:53
Dieser alte Freund also lädt mich zu sich ein. Hier und hier, erklärt er mir am Telefon, wir haben uns seit sechs Jahren nicht mehr gesprochen, aber ich möchte, dass du eine Woche bei mir übernachtest und bei der Auswahl eines Papageien hilfst. Er weiß, ich habe mich schon immer mit der Ornithologie beschäftigt. Dabei konnte er selbst Vögel nie ausstehen, Torsten. Es muss etwas faul sein an der Sache.
Wir waren Schulkameraden gewesen. Ich hatte nie viel mit ihm anfangen können, Torsten wollte es nur nicht begreifen. In unserer Stufe waren wir die Einzigen, deren Väter weder vorhanden noch bekannt waren. Seines Erachtens verband uns das, machte uns geradezu zu Seelenverwandten. So ein Trottel war er.
Ich sage also zu, ja, ich komme dich besuchen, Torsten, hol mich vom Bahnhof ab. Ich habe keinen festen Wohnsitz, von der Freundin rausgeworfen, und auch sonst nichts zu tun. Als mein alter Freund, nachdem ich aus dem Zug gestiegen bin, mir entgegen kommt, begreife ich sofort – Er hat eine Frau dabei. Die beiden sind vor kurzem zusammen gezogen, sie möchte einen Papageien, er hat es ihr nicht abschlagen können. Ich soll beim Kauf als Fachmann zur Seite stehen. Torsten begrüßt mich überschwänglich, stellt mir seine Freundin als Klaudia vor. Mich wundert: Er scheint sich aufrichtig zu freuen mich wieder zu sehen. Wir machen uns zu ihrer gemeinsamen Wohnung auf.
Auf dem Weg dorthin erzählt mir Torsten, dass auch Klaudia ihren Vater niemals kennen gelernt hat. Es sei fast so, als habe uns „das Schicksal zusammengeführt“. Ich nicke und denke mir meinen Teil. Ich werfe einen flüchtigen Blick in Richtung Klaudia und stelle überrascht fest, dass auch sie ihren Freund belächelt. Ferner fällt mir auf, dass diese Klaudia durchaus mehr wert ist als lediglich einen flüchtigen Blick. Sie ist nicht zu klein und nicht zu groß, gut gebaut, hat ein hübsches Gesicht, wunderschönes, langes, dunkles Haar, und ihre Augen verraten, dass sie für Torsten entschieden zu intelligent ist. Diese Frau hat Besseres verdient.
Die Wohnung ist klein, Torsten schlägt vor, dass er auf dem Sofa schläft und ich im Schlafzimmer, wogegen Klaudia und ich uns entschieden aussprechen, wir können uns ja schlecht das Bett teilen. Wobei ich nicht wirklich etwas dagegen hätte. Gott, wie naiv Torsten ist. Am nächsten Morgen erklärt er, ich und Klaudia müssten uns zunächst ohne ihn auf die Suche nach einem Papageien begeben, er habe noch Besorgungen zu machen. Mir kommt es so vor, als wolle er uns verkuppeln. (Einmal nimmt Torsten mich beiseite und eröffnet mir, dass es sich bei seinen „Besorgungen“ um den Versuch handelt, genügend Geld für einen Ring aufzutreiben. Er will Klaudia einen Heiratsantrag machen. Ich solle sein Trautzeuge sein, das war der eigentlich Grund, weswegen er mich eingeladen hatte.)
Die nächsten Tage pilgern die potentiell Zukünftige meines alten Schulfreundes und ich durch die zoologischen Fachbetriebe der Umgebung. Sie zeigt mir die Vögel, die ihr gefallen, ich erkläre, aus welchen Gründen sie für ihre Wohnung nicht geeignet sind. Ich komme mir albern vor, für die Allgemeinplätze, welche ich Klaudia vorzukauen gezwungen bin, hätte es keinen Experten gebraucht. Da hätte sie auch das Personal fragen können.
Aber ich genieße die gemeinsamen Stunden. Torstens Freundin gefällt mir ausgesprochen gut. Er selbst ist noch immer nicht dazu übergegangen uns zu begleiten, hat wohl genauso viel Erfolg beim Auftreiben von Geld wie ich ihm zugetraut hätte. Nach Ablauf der ersten Woche – scheinbar bin ich so lange als nötig willkommen – habe ich mir längst angewöhnt, jeden von Klaudias Papageien grundsätzlich abzulehnen, um unsere Odyssee niemals mehr enden zu lassen. – Ich nehme mir vor, diese Frau davon zu überzeugen, dass ich der Richtige für sie bin. Doch stets, wenn die Sprache auf Torsten kommt, weiß sie nur in den höchsten Tönen von ihrem Freund zu sprechen. Das kann doch alles nicht ihr Ernst sein. Schließlich erkenne ich, dass hinter all dem, der ganzen Beziehung, lediglich Mitleid steckt. Aus diesem einen Grund ist Klaudia mit dem Hanswurst Torsten zusammen. So eine gute Seele hat sie. Aber sie ist auch ein Opfer.
Ich sehe ein, dass ich ihr einen moralisch einwandfreien Grund liefern muss, sich von Torsten loszusagen, um mir schließlich in die Arme fallen zu können. Ich fasse einen Plan. Zur Verwirklichung brauche ich die Hilfe eines anderen alten Freundes. Ich weiß, dass er in der Stadt wohnt, hatte ihn ohnehin besuchen wollen. Ich weiß nicht wo, kenne jedoch die Sorte Lokal, in der er sich herumzutreiben pflegt. Tatsächlich, aus der ersten Spelunke, die mir für seine Verhältnisse heruntergekommen genug erscheint, kommt er mir entgegen getorkelt: Professor von Wertolt. Er war einst mein Mentor, was die Ornithologie betraf, gewesen.
Er trägt denselben alten, senffarbenen Mantel, der nur knapp über dem Boden hängt und ihn im Septemberwind geradezu majestätisch umweht, kämmt sein mittlerweile vollständig ergrautes, mittellanges Haar noch immer in fettigen Strähnen nach hinten. Noch immer ziert eine mächtige Narbe sein linkes Auge. Ich hatte mir sagen lassen, dass er noch immer erfolgreich bei Frauen war, vor allem bei jüngeren, und konnte es mir nicht erklären. Jedoch, in der Verbrauchtheit sowohl seiner Erscheinung als auch seines gesamten Wesens lag der zwielichtige Charme dieses Menschen.
Der Professor erkennt mich sofort, tut so, als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen – vielleicht hat der Alkohol es ihn vergessen lassen. Ich hatte damals mit ihm gebrochen, hatte nicht der Abgrund werden wollen, in den man zu lange starrt. Wir finden gut ins Gespräch, es ist wie in alten Zeiten, und ich erzähle ihm (in gekürzter Form) von meinem Plan und der Rolle, die er darin zu spielen haben würde. Augenblicklich ist der Professor Feuer und Flamme, spricht von einer „Herausforderung an [s]ein schauspielerisches Talent“. Ich habe damit gerechnet, von Wertolt ist genau der Typ für derlei Späße.
Wir sprechen noch einmal alles durch, ich schreibe ihm die Adresse von Klaudias und Torstens Wohnung auf, und wir verabschieden uns voneinander. Am Montag klingelt es wie verabredet an der Haustür. Torsten steht vom Frühstückstisch auf und lässt einen Professor von Wertolt herein, der sich gebärdet wie der Sturm auf die Bastille. Mit Gesten viel zu breit drängt er seine beiden überrumpelten Gastgeber zurück in ihre Küchenstühle und lässt seine ungebändigte Rhetorik auf sie niedergehen. Ich weide mich aus sicherer Entfernung an dem Schauspiel.
So und so, erklärt er, er habe Klaudia und Torsten die letzten Wochen oft gemeinsam in der Stadt gesehen, sei zunächst noch unsicher gewesen, doch mittlerweile war ihm klar: Es handelte sich bei den beiden um seine verschollene Tochter und seinen verschollenen Sohn. Das Schicksal musste sie zusammen geführt haben. (Hier hatte er Torsten bereits überzeugt.) Sie waren ihm einst, als Babys noch, auf einer Geschäftsreise durch die Beneluxstaaten von einem Belgier und seiner minderjährigen Lustsklavin entführt worden, weil jener sich nicht getraut hatte, mit ihr selbst ein Kind zu zeugen. (Den Teil hatte von Wertolt improvisiert; das hatten wir in der Form nicht besprochen.) Der Unmensch und seine Gespielin aber hatten die Säuglinge dann schließlich doch verkauft, an jene, die sie, Klaudia und Torsten, als ihre jeweiligen Eltern beziehungsweise Mütter kannten.
Ich merke dem Professor an, dass er ausgesprochen Spaß an seiner exzentrischen Performance hat. Klaudia und Torsten schauen sich besorgt in die Augen, in ihren Blicken liegt stilles Entsetzen. Sie scheinen es geschluckt zu haben. Von Wertolt schätzt die Lage ähnlich ein und nähert sich dem Ende seiner one man show. Er streut noch ein, dass er sehr reich ist, und gibt den Ausblick demnächst wieder zu erscheinen, um ihnen finanziell unter die Arme zu greifen, er sei ja immerhin ihr Vater und könne sie, seine Kinder, nicht in einem solchen Loch hausen lassen. Dann verabschiedet sich der Professor.
Auch ich gehe, sage noch zu den beiden, sie hätten jetzt sicher einiges zu bereden, zu überdenken, und nenne ihnen ein Hotel, in dem ich die nächsten Tage unterkommen werde, ich könne ihre Gastfreundschaft ja nicht ins Unendliche strapazieren. Keine Widerrede, sie sind zu durcheinander. Und, sage ich, Klaudia und Torsten, wenn ihr oder einer von euch meine Hilfe braucht, ihr wisst ja jetzt, wo ich zu finden sein werde. Und ab.
Ich ziehe also in besagtes Hotel um, und mein Plan hat bis hierher funktioniert. Mein Professor hat seinen Part grandios gespielt. Es ist jetzt nur mehr eine Frage der Zeit, bis Klaudia oder Torsten oder beide zu mir gerannt kommen und sich an meiner Schulter ausheulen, weil ihre gemeinsame Zukunft zerstört ist. Und dann werde ich Klaudias Fels in der Brandung sein. –
Schon fast zwei Tage sind seit von Wertolts Besuch bei Klaudia und Torsten vergangen, und noch hat sich keiner der beiden bei mir blicken lassen. Ungeduldig sitze ich auf meinem Hotelzimmerbett und habe schließlich keine Lust mehr zu warten. Ich gehe hin.
Torsten öffnet mir, er sieht nicht sehr gut aus, noch schlechter als sonst. Er sagt kein Wort, lässt mich im Flur stehen und kauert sich in der Küche in eine Ecke und starrt vor sich hin. Torsten, frage ich, was ist los; wo ist Klaudia? Als ich ihren Namen sage, sieht er mich an aus Augen, die alle Tränen geweint zu haben scheinen, die sie jemals würden weinen können. Jetzt erzählt Torsten mir alles. Seine Stimme ist erstaunlich fest, er scheint gefasst, doch seine Hände verkrampfen. Klaudia war im dritten Monat schwanger gewesen. Sie beide hatten das Kind gewollt. Doch als sie erfahren hatten, dass sie Geschwister waren, blieb ihnen nichts anderes übrig als sich gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft zu entscheiden. Klaudia hatte wegen der Abtreibung nicht zu den Ärzten gehen wollen, und Torsten sollte sich Fachliteratur ausleihen und den Eingriff anhand derer selbst vornehmen. Sie hätten zunächst mit dem Gedanken gespielt, mich um Hilfe zu bitten, erzählt Torsten. Aber ich verstand mich ja lediglich auf Vögel, und man hätte es mir ohnehin nicht antun wollen, mich in diese schreckliche Sache mit hinein zu ziehen. Wie dem auch sei, Torstens Eingriff schlug fehl und Klaudia starb. Er hat ihre Leiche in einem Teich in einem kleinen Park am Rande der Stadt entsorgt und seitdem Torsten die Wohnung nicht mehr verlassen, nichts mehr gegessen und nicht mehr geschlafen.
So sieht er auch aus. Ich fühle mich schuldig. Eine schreckliche Geschichte. Vor allem tut es mir um Klaudia leid. Sie wäre glücklich geworden mit mir, das weiß ich. Doch jetzt muss ich mich um meinen Kumpel kümmern. Ich raffe Torsten auf, seine Hände sind noch immer ineinander gewunden. Mit etwas Gewalt öffne ich sie – ein silberner Ring fällt auf den Küchenboden und rollt unter einen der Schränke. Was Torsten jetzt braucht, ist Ablenkung sowie einen guten Freund, der ihm zu welcher verhilft. Ich schleife ihn in den nächstbesten Club.
Wir setzen uns an den Tresen, und Torsten stiert vor sich hin. So wird das aber nichts, mein Freund, rede ich ihm gut zu, so kriegst du keine aufgerissen. Er scheint mich nicht für voll zu nehmen und verschmäht noch dazu den Drink, den ich ihm bestellt habe. Undank ist der Welten Lohn. Jetzt muss ich mich auch noch um eine Barbekanntschaft für ihn kümmern. Aber das bin ich ihm schuldig. Schließlich habe ich eine an der Angel, ich versuche ihr Torsten schmackhafter zu machen als er ist, mache sie ein bisschen betrunken. Zu meinem Pech scheint das Mädchen mehr an mir interessiert zu sein als an meinem schwermütigen Freund. Ich schaue zu ihm hinüber. Er sitzt noch immer einfach nur da, hat den Drink nicht angerührt. Ich beschließe, dass es keinen Zweck mit ihm hat, und nehme die Braut mit aufs Männerklo. Dort führt eins zum andern und wir tun es.
Als ich zurück an den Tresen gehe, ist Torsten verschwunden. Ich suche ihn, vergebens, und höre plötzlich Schreie, um die Toiletten hat sich ein Knäuel gebildet. Ich kämpfe mich durch die Diskogänger, und wer liegt da auf dem Männerklo mit aufgeschnittenen Pulsadern in einer der Kabinen? Torsten. Er muss sich umgebracht haben, während ich nebenan die Tussi vernascht habe, die für ihn bestimmt war. Welch eine Ironie des Schicksals. Hätte ihm gefallen. Ich mache mich aus dem Staub, bevor die Polizei anrückt, vorher tausche ich noch mit meiner Barbekanntschaft Telefonnummern und sie sagt mir, wo sie wohnt. Halbherzig verspreche ich sie zu besuchen.
Ich schlafe diese Nacht unruhig in meinem Hotelzimmerbett, wälze mich vor Albträumen hin und her. Am nächsten Morgen bin ich völlig fertig und gebe mir die Schuld an Torstens Tod. Jetzt bin ich es, der Ablenkung braucht. Zum Glück habe ich Tinas Adresse, die aus der Disko gestern. Ich werde ihr die Ehre erweisen.
Als ich an der entsprechenden Haustür klingle, öffnet mir niemand Geringeres als mein Professor. Oh Scheiße, da hatte ich gestern Nacht wohl von Wertolts derzeitige Gespielin erwischt. Er ist zunächst überrascht, fragt mich dann, ob er zu meiner Zufriedenheit performt habe und wie es um meinen Plan steht – ich hatte ihn nicht weiter eingeweiht. Ich bin noch derart durcheinander von der amourösen Verstrickung, die ich plötzlich aufgedeckt habe, dass ich ihm unverhofft alles zu erzählen anfange, von Klaudias und Torstens Tod. Dass ich auf dem Diskoklo seine Freundin gebumst habe, lasse ich weg. Ich bin fertig mit dem überstürzten Schildern der Ereignisse der letzten Tage, und der Professor starrt schweigend ins Leere. Auch ich sage nichts mehr und will gehen. Bevor die Haustür zufällt, kommt plötzlich Tina in den Flur, sieht mich und ruft meinen Namen.

Jetzt treibe ich mich bereits seit über zwei Wochen in der Stadt herum. Ich habe mich in Klaudias und Torstens Wohnung eingerichtet. Niemand meldet sie vermisst. Für den Ring, der unter den Küchenschrank gerollt war, habe ich zweihundert Euro gekriegt.
Mein Gewissen macht mir immer mehr zu schaffen. Ich gehe viel spazieren, um auf andere Gedanken zu kommen. In der Wohnung halte ich es nicht lange aus. Es ist schon längst dunkel, nirgends sind draußen mehr Leute, und ich irre noch immer ohne Ziel durch die Straßen. Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Ich drehe mich um. Es ist von Wertolt, er kommt auf mich zugerannt. Der Professor brüllt: „Nicht genug, dass du mich mitschuldig machst am Tod zweier unschuldiger, junger, verliebter Menschen – nein! Du musst auch noch meine Tochter schwängern und sie und mich entzweien! •••• der Finsternis!!“
Er setzt einen letzten schwankenden Schritt in meine Richtung, holt aus dem Inneren seines Mantels einen Pflock hervor und rammt ihn mir in die Brust. Dann taumelt er einige Schritte zurück, in seinen Augen glänzt der Wahnsinn. Erschrocken sehe ich an mir hinab: Ich blute wie Sau. Meine Beine halten mich nicht mehr, tot falle ich um. Im nächsten Moment knallt ein Schuss. Von Wertolt hat sich erschossen, den Lauf seines Revolvers in den Mund geschoben und abgedrückt. Sein massiger Körper geht zu Boden, stürzt auf den meinen. So liegen wir beide da, und über unsere Köpfe hinweg fliegen zwei Vögel. Es sind Klaudia und Torsten. Ihre Seelen sind in ein Arapärchen gefahren.

La Cipolla
05.01.2006, 11:42
@Neo: Die Art, wie sich die Geschichte aufbaut, ist sehr atmospharisch (abgesehen von dem Pferd ~.~) und an sich schon interessant, weil sie sich selbst interpretiert. Dann kommt das Ende, und alles, was aufgebaut wurde, ist mit einem Satz zerstört, woraufhin man wieder mit darüber Nachdenken anfangen kann. Muss man denn immer genau erklären, was man daran toll findet? Wenn ich danach Gänsehaut hab, fand ich sie nunmalö toll und fertig. <.<

die andern hab ich jetzt noch nicht gelesen.

wequila
06.01.2006, 14:41
Ich hatte seinerzeit eine Marktlücke entdeckt. Kapital zu schlagen aus der Selbstverliebtheit der Durchschnittsmenschen war nicht neu; die Art und Weise, in der ich dies zu tun gedachte, schon. Ich eröffnete ein kleines Lädchen – für eine Frau damals noch ungewöhnlich – und nannte es die Apotheoke. Das Wortspiel war schlecht, die Geschäftsidee genial. Der Name setzte sich zusammen aus den Wörtern Apotheke – denn als solche tarnte ich das Unterfangen – und Apotheose: die Dienstleistung, die angeboten werden sollte, unter der Ladentheke.
Apotheose meint die Erhebung eines Menschen zu einem Gott oder Halbgott. Ich hatte einflussreiche Freunde im Verlagswesen und konnte über sie Inhalte von Schulbüchern und mitunter Lexika manipulieren. Es verhielt sich so, dass irgendein Paul Schultz zu mir in den Laden kam mit dem Anliegen, sein Ego gefüttert zu bekommen. Ich sorgte daraufhin dafür, dass sein Name in jener Literatur, die ich über meine Kontakte beeinflussen konnte, im Zusammenhang mit der griechischen Mythologie auftauchte. Man soll nicht glauben, welche Genugtuung einem Menschen das Wissen um die Tatsache verschafft, dass ihn irgendwo jemand als Gott auswendig lernt. Dies beutete ich aus.
Manche meiner Kunden ersannen für sich Pseudonyme, die schon vom Klang her an die Helden des antiken Griechenlands gemahnten. Das war zwar unauffälliger. Aber ich schleuste auch Kurt Müllers in die Bücher. Den Lehrern war es egal, und die Schüler stellten keine Fragen. Niemandem fiel je etwas auf.
Die Kunde von meiner Apotheoke verbreitete sich schnell und diskret. Meine neuartige Dienstleistung fand reißenden Absatz. Schon bald begann ich sie individueller zu gestalten und stockte das Angebot auf. So konnte man seinen Namen ganz schlicht in einer Aufzählung olympischer Götter erscheinen, oder aber in Lehrbuchtexte wiederholt einbinden, oder aber in einem Kästchen mitsamt einer eigenen (erfundenen) Kurzbiographie unterbringen lassen. Ferner schmuggelte ich Namen in Stammbäume; um je weniger Ecken mit Zeus verwandt, desto mehr kostete es. Nach einigen Jahren schließlich wagte ich mich sogar an Doppelseiten. Selbstverständlich musste das Geld dafür mehr als stimmen.
Ich setzte den narzisstischen Fantasien meiner Kunden kaum Grenzen. Das Geschäft boomte. Es zeichnete sich ab, dass in den Lehrbüchern irgendwann kein Platz mehr für neue Kunden sein würde. An die großen Namen wagte ich mich nach wie vor nicht heran. Zeus musste Zeus bleiben, Poseidon Poseidon und Hephaistos Hephaistos. Also führte ich Fristen ein. Man bekam für sein Geld nur mehr auf Zeit eine Rolle in der griechischen Mythologie. Nach Ablauf meist eines Schuljahres konnte man verlängern oder der Name entfiel mit der nächsten Auflage.
Einmal hing ich mich zu weit aus dem Fenster und stellte einen Praktikanten ein. Der Erfolg war mir zu Kopf gestiegen. Ich wusste nicht, ob aus Schusseligkeit oder mit böser Absicht – jedenfalls schmuggelte dieses Früchtchen einen unserer Kunden anstatt zwischen die drittgradigen Verwandten Dionysos’ in die Reihen irgendwelcher KZ-Ärzte. Die Polizei wurde darauf aufmerksam, zwei Geschichtsbücher und eine fachspezifische Enzyklopädie genügten ihr als unabhängige Quellen, und dem armen Mann wurde der Prozess gemacht. Zu meinem Glück hielt er dicht. Seitdem habe ich nie wieder jemanden eingestellt.
Doch ich expandierte. Mir ging es ums Geld. Schließlich schreckte ich nicht einmal mehr vor den prominentesten aller Gottheiten zurück, selbst die direkteste Verwandtschaft des Allvaters Zeus musste den selbstverliebten Werner Manns und Undine Meiers dieser Welt weichen. Irgendwann hatte ich die gesamte griechische Mythologie aus den Lehrbüchern getilgt. Ich war schuld am Falschwissen aller nachfolgenden Generationen. Ein Preis, den ich bereit war zu zahlen. Nachdem ich meinen Service auf fremdsprachige Literatur des gesamten europäischen Raums ausgeweitet hatte, nahm ich im Monat Summen ein, die kaum zu begreifen waren. Nach einem Vierteljahrhundert Apotheoke hatte ich für immer ausgesorgt.
Heute lebe ich in einem Südseehotel, welches allein mir gehört. Das Personal besteht ausschließlich aus braungebrannten Jungspunden, mit denen ich jeweils alle par Monate eine Affäre anfange. Derart genieße ich die wohlverdienten Früchte eines frühen Ruhestands, den ich mir aufgrund meiner einstigen genialen Geschäftsidee habe leisten können.
Ich bin schwer krank, irgendwann haben die Ärzte etwas sehr Ernstes diagnostiziert. Doch Gesundheit kann ich mir leisten. Die entsprechenden Medikamente sind teurer als es seinerzeit mein Angebot der Eingradigen Verwandtschaft zum Göttervater für den Zeitraum dreier Schuljahre gewesen ist. Ich bewahre sie in einem Safe auf, dessen Codewort der Name von Zeus’ Frau ist. Wem gebührt es mehr, mit der Gattin des Göttervaters identifiziert zu werden, als mir, die ich zeit meines Lebens selbst Götter erschaffen habe, wie es mir beliebte.
Ich entspanne in meiner Sänfte und muss plötzlich husten. Zuerst denke ich, der Poolboy hätte mir zu heftig Luft zugefächelt. Doch dann wird mir klar, dass sich einmal mehr die Krankheit meldet. Ich lasse mich zum Tresor tragen und befehle wegzugucken, während ich die Kombination eingebe.
Doch sie fällt mir nicht ein. Wie hieß denn Zeus’ Frau überhaupt? Ich habe es auf meine alten Tage vergessen. Ein heftiger Husten schüttelt mich. Ich frage die zwei mit freiem Oberkörper, die meine Sänfte zu tragen pflegen, wie der Name der Gattin des Göttervaters Zeus lautet. Sie antworten mir bereitwillig. Doch ich weiß, dass Zeus’ Frau nicht Klaus Schwenke ist. Ich erinnere mich sogar noch an das Gesicht von dem Herrn.
Panik beginnt sich meiner zu bemächtigen, ich stürze durch die Hotelflure und außer Atem stelle ich allen Angestellten dieselbe Frage. Doch allesamt sind sie zu jung, keiner von ihnen hat mehr mit unverfälschten Lehrbüchern gearbeitet. Niemand im Hotel weiß die Antwort. Der Safe bleibt verschlossen und behält die Medikamente für sich. Ich huste Blut und breche zusammen. Auf dem leeren Flur meines Südseehotels sterbe ich an einer Krankheit, deren Namen ich mir genauso wenig hatte merken können wie den von Zeus’ Frau.

schreiberling
07.01.2006, 16:19
hmm...
wirklich schönes Werk,Apotheoke
einziger Kritikpunkt ist der Bruch gen Ende:

den ich mir aufgrund meiner einstigen genialen Geschäftsidee habe leisten können.
Ich bin schwer krank, irgendwann haben die Ärzte etwas sehr Ernstes diagnostiziert.
ein einfacher Satz zum verbinden, zum Beispiel dass sie sich wegen einer beginnenden Krankheit und weil sie sowieso genug Geld geschäffelt hat, abtritt, wäre schöner...

wequila
21.01.2006, 11:03
Showdown at Weimar

Einmal mehr spazierte Goethe durch Weimar. Er mied all die verwinkelten Gässchen der Hansestadt, aus Furcht, Kollege Schiller könnte irgendwo lauern, um ihn neidzerfressen für seinen, Goethes Erfolg zur Rechenschaft zu ziehen, in Form eines Messers zwischen die Rippen. Immer nur sah man Johann Wolfgang von und zu durch breite Straßen schlendern und sich auf großen Plätzen zwischen Leuten tummeln, zum Beispiel gegenüber vom Bauhaus-Museum, wo ja auch das gemeinsame Denkmal stand, sprich das mit ihm und Fritze.
So auch jetzt. Ein kulturelles Erbe auf vier Beinen, stolzierte der Dichterfürst durch den Pöbel und guckte sich eine vom niederen Volk aus, die er zunächst mit Poesie einzulullen und dann hart als möglich ranzunehmen gedachte. Sie schien bemerkt zu haben, dass er sie bemerkt hatte, und tat noch scheu, die blöde Kuh. Unser Dramendichter nahm die Verfolgung auf.
Gradwegs lockte sie ihn in ein verwinkeltes Gässchen. Es war eine Falle, das Weib verschwunden, und aus einem Fenster geklettert ins Freie kam niemand Geringeres als Friedrich Schiller. Er trug Strumpfhosen, durch sein drängendes Haar stürmte der Wind und ließ die Locken wehen. Verächtlich spie Goethe aus.
„Sieh an, sieh an“, ließ sich Kollege Schiller vernehmen, „der Freiherr, der Freiherr.“ Er hatte die bescheuerte Angewohnheit, alles zweimal zu sagen. Goethe ließ sich nichts anmerken.
Schiller sagte: „Wissen Sie, werter Goethe, frank und frei, Sie sind das reinste bürgerliche Trauerspiel.“ Er wollte es also drauf ankommen lassen und ihm ein Wortgefecht liefern. Das sollte die mickrige Kröte, dachte Johnny Goethe bei sich, gern so haben.
„Guck dich an.“
Reißzoom in Schillers face. Hat den Kopf leicht zur Seite und die Augen weit auf. Taumelt zwei bis fünf Schritte zurück. Was für ein Konter, denkt er bei sich. Dieser hier war nicht von ungefähr der Meistverdiente um die deutsche Sprache. Doch nicht zuletzt wusste er sie auch wie kein anderer als Waffe einzusetzen.
Friedrich fing sich. Noch gab er nicht auf. Er versetzte: „Ich hörte von Ihrem Missgeschick, geschätzter Freund. Wer zeichnet denn diesmal dafür verantwortlich?“ Hier spielte Schiller auf das Gerücht von letzter Woche an, Goethe habe sich beim Liebesspiel mit Katharina der Großen die Vorhaut eingerissen. Hartnäckig hielt es sich in Weimar noch immer. Was der Herausforderer nicht ahnte, es entsprach der Wahrheit. –
Doch Goethes knöchernes Pokerface war die Härte selbst. Keine Spur von Emotion. Halb Mensch, halb Maschine. Der Dichterfürst kniff die Augen zusammen und presste zwischen festgebissenen Hauern, jedoch kein My an Contenance missen lassend, hervor: „Deine Mutter.“ Schiller ging zu Boden.
Goethe stieg über ihn hinweg, spie dem noch zitternden Leichnam Kautabak auf die Stirn und sagte trocken: „Fick dich, Bruder.“ Dann ging er nach Hause Faust schreiben.


Die Wahrheit über Bodo Eichmann

Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, Napoléon Bonaparte sei ein regelrechter Zwerg gewesen. Ganz im Gegenteil war er so etwas wie ein Riese zu seiner Zeit. Gemessen am heutigen Menschen fällt der Feldherr freilich winzig aus. Doch im Mittelalter wurden die Leute noch nicht so groß. Napoléon überragte sie alle um Meilen.
Daher war er auch ein solch erfolgreicher Schläger von Schlachten. Kleinere Menschen damals bedeuteten kleinere Schlachtfelder, und über all dem thronte der große Franzose und besah sich die Heere aus sicherer Distanz wie Ameisen. Wenn ihm irgendwelche Truppenbewegungen nicht passten, feindliche oder die eigenen, pfiff er eine Melodie, zog die Brauen hoch und setzte wie abwesend ganze Bataillone um. Es war ein bisschen wie beim Damespiel, nur dass Napoleons Gegenspieler selbst nichts als ein Spielstein war. Der Korse konnte also schlecht verlieren.
So mauserte er sich denn zum patenten militärischen Führer, wenn auch die Mittel unlauterer kaum hätten sein können. Im Laufe der Jahre aber wuchsen Napoléons Mitmenschen, mussten irgendwann schließlich unsere heutigen Ausmaße erreichen. Wie nun also die Bevölkerung größer und größer ward, überragte Napoléon sie um immer weniger und weniger, bis schließlich überhaupt nicht mehr. Prompt wurde er beim Bescheißen erwischt, wie er einmal mehr die Spielsteine zu seinen Gunsten hatte heimlich umstellen wollen. Aber nichts wie ab in die Verbannung zur Strafe.
Zunächst brachte man ihn irgendwo ins Randgebiet Frankreichs, doch durch die Plattenbewegungen driftete seine Exilheimat immer weiter vom Kontinent ab, bis Napoléon sich schließlich auf einer Insel wiederfand zusammen mit einem Neger, der nach einem Wochentag benannt war. Hier verlaufen sich alle weiteren Spuren des großen Eroberers im sprichwörtlichen Sand und führen zu einer Palme, zu dessen Füßen er liegt, tot, wahrscheinlich ist ihm eine Kokosnuss auf den Kopf gefallen. Aus seinem Gefährten ist nichts herauszukriegen, er kann nur Klickgeräusche.
Am Rande der nun folgenden Nachforschungen kommt heraus, dass Napoléon überhaupt gar kein Bonaparte gewesen ist. Sein richtiger Name lautete Eichmann, Bodo Eichmann, eins fünfundsechzig groß, blaugraue Augen, trägt die Slips seiner Großtante auf. So ist also das Bild, welches wir heute vom Feldherren Napoléon Bonaparte haben, durchaus nicht unverfälscht.