La Cipolla
07.11.2005, 06:07
Wie gesagt, die Forenrunnerei bringt in Schreibrausch. ;) Hier der Auswuchs.
Eigentlich schreib ich sowas ja ins Atelier, aber ich hab so das Gefühl, dass es da niemand lesen würde ._. (Falls die Mods anderen Meinung sind, kann mans ja verschieben)
Shadowrun
Der erste Engel
Eine Stadt im Norden des amerikanischen Kontinents um 2055.
Es hätte auch jeder andere Ort sein können.
Die junge Frau glitt durch die Straßen Seattles, und ihre silberlegierten Füße hinterließen kein einziges Geräusch. Sie hatte lange weiße Haare, vor langer Zeit mochten sie einmal blond gewesen sein, und ihre Lippen prangten wie Chrom-Kirschen in dem hellgrauen Gesicht mit den majestätisch zugespitzten Ohren. Ihre Gedanken waren kaum vorhanden. Die große Brücke, die in den Schatten der Nacht verhangen war, beeindruckte sie ebenso wenig wie der angenehme kühle Wind vom Meer. Ihre Bewegung war stets sicher programmiert, sie würde den Treffpunkt zur richtigen Zeit erreichen. Die Sensoren der Elfe vernahmen Herzschläge verschiedener Personen von einigen Seiten des Weges und sie stoppte ihre Schritte. Drei junge Männer und eine Frau verließen ihre Verstecke und umstellten das Mädchen, mit einem hinterhältigen Grinsen auf dem Gesicht. Irgendwann hatte sie diese Art zu lächeln einmal gehasst.
„Hey, Kleine, was treibst du dich so spät noch draußen rum?“
Sie antwortete nicht und ihre metallen-silbernen Augen beobachteten den Redner beiläufig, ebenso wie sie auch die anderen Drei im Blick hatte. Die Frau der kleinen Gang trat hervor und warf mit einem herablassenden Gesicht eine synthetische Zigarette auf den Boden. Irgendwann hatte das einsame Elfenmädchen diesen Geruch einmal verabscheut.
„Ist wohl ne Nutte. Sonst würde sie hier nicht in so nem dämlichen, weiten Mantel rumlaufen.“
„Wollen sie mich aufhalten?“, fragte das Mädchen mit den silbernen Haaren ausdruckslos, und ihre Stimme klang bleiern.
„Du bist gut!“, lachte einer der Banditen, „Wenn wir dich nur aufhalten wollten, hätten wir dich längst umgebrach…“
Ihre Reflexe reagierten, bevor das letzte Bisschen ihres Verstandes die Todesdrohung auch nur verarbeitet hatte. Das Schwert surrte leise in seiner Hülle, bevor es den Kopf des Redners abtrennte und seinen Nebenmann zweiteilte. Die Frau sprang zurück, weshalb sie bei dem ersten Angriff des Mädchens nur beide Arme verlor, erst die zweite Attacke nahm ihr das Leben. Der letzte Angreifer wollte gerade schreien, als sich die schwere, metallene Klinge des mittelalterlichen Schwertes in seine Kehle bohrte. Der kalte, emotionslose Blick der jungen Elfe war schon nicht mehr auf ihn gerichtet, als sein Blut in einer Fontäne an dem Gesicht des Mädchens vorbeischoss. Sie spürte die satte rote Farbe und die wohlige Wärme. Irgendwann hatte sie Blut einmal nicht ausstehen können.
Das Schwert verschwand wieder unter dem Mantel und sie setzte ihren Weg fort. Sie musste sich nicht beeilen, die akademischen fünf Sekunden waren eingehalten.
Der alte Mann tippte unruhig mit seinen Fingern auf den Tisch und die Anspannung der Situation zwängte ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn.
„Seid ihr euch sicher, was die Leute angeht?“, fragte er einige schwarz gekleidete Orks neben sich.
„Ja, Boss.“, antwortete einer der Bodyguards, „Die Besten, die wir gefunden haben.“
„Hm.“, meinte der rundliche Chef und ließ seine Finger ineinander gleiten, „Wir werden sehen. Ich hoffe, sie irren sich nicht. Der Papst wird gar nicht glücklich sein, wenn diese Aktion fehlschlägt.“
Dann vernahm er ein leises Kichern aus einer Ecke des Raumes, die er zuvor nicht einmal mehr wahrgenommen hatte.
„Wir arbeiten für den Papa höchstpersönlich? Was für eine Ironie, jetzt begibt sich selbst die Kirche in die Schatten!“
Der Dickliche zuckte zusammen, und die Orks richteten ihre Waffen auf den Mensch, der aus dem Schatten trat. Statt einer richtigen Kleidung trug er nur eine viel zu weite Hose, die mit einem lockeren, aber äußerst breiten Gürtel zusammengehalten wurde, zudem war sein ganzer Körper mit bunten Tätowierungen verziert. Man sah mystische Gestalten, Fabelwesen, aber allen voran Darstellungen von Sinnesorganen, unzählige Augen, Ohren, Münder und Hände prangten auf der Haut des Fremden, so dass es unwillkürlich den Anschein hatte, er würde tatsächlich alles wahrnehmen. Selbst sein Gesicht war so gestochen worden, dass der junge Mann nun mit fünf Augen in den Raum schaute. Zu seinem leisen Lachen gesellte sich ein zurückhaltendes Klatschen. Einer der Orks wies die anderen an, ihre Waffen ruhen zu lassen, und flüsterte dem runden Mann etwas ins Ohr, woraufhin sich dieser unwillkürlich verschluckte.
„Wie bitte? Dieser Freak…?“
„Ja!“, fiel ihm der Tätowierte mit einer äußerst hohen Stimme ins Wort, „Dieser Freak ist der Mann, der euren Engel finden wird!“
Er verfiel in ein lautes Lachen, und der breite Mann drückte sich wütend auf den Tisch.
„Woher weißt du über den Engel?! Im ganzen Vatikan…“
„Jaja, Dickerchen, bla, bla, bla… Es wissen immer nur drei Leute im ganzen Vatikan darüber bescheid, aber in dem Moment, in dem einer von ihnen vor mir steht, haben mir tausend Zeichen bereits verraten, worum es geht, und schon…“
Langsam drückte er vier Finger seiner Hand einzeln in die Höhe.
„…wissen vier Leute davon.“
Das Grinsen seiner Augen war einschüchternd, und der schwitzende Mann fiel in seinen Stuhl zurück.
„Nun gut. Sie sind der Erste, lassen sie mich erklären, worum es geht, oder wissen sie das etwa auch schon?“
„Wollen sie diese Frage wirklich beantwortet haben?“, seufzte er lachend in den Raum, und seine verschiedenfarbigen Augen leuchteten, eines gelb, das andere rot.
„Ich weiß es tatsächlich, ich weiß sogar, welches Buch ihre Tochter immer vorgelesen haben möchte! Man nennt mich doch nicht umsonst ‚Wisdom’, den Seher! Wo bleibt meine Partnerin?“
Die Welt ist in den letzten 60 Jahren nur schlimmer geworden. Die Firmen dieser Welt gaben sich nicht länger mit der Kontrolle über die Köpfe der Menschen zufrieden, nach dem Jahr 2000 begannen sie, sich zu gewaltigen Allianzen zusammenzuschließen, die man Megacons, Riesenkonzerne, nannte. Stellen sie sich ein Monopoly-Spiel vor. Alle Straßen sind auf dem Niveau einer hypermodernen Schlossallee und gehören zudem nur etwa zwölf Leuten. Das Problem: Es gibt Milliarden von Spielern. Im Klartext war die Welt also in Konzernhand. Dann begann die Erde, sich gegen uns zu wehren, Sturmfluten und Erdbeben vernichteten halbe Kontinente, und auch die Technik der Menschen richtete sich gegen ihre Schöpfer. Ungefähr ein Dutzend Atomkraftwerke explodierten um 2006 rum, und die Seuche VITAS war ein guter synthetischer Ersatz für die mittelalterliche Pest. Staaten gingen unter, neue tauchten auf. Ganze Branchen wurden von Konzerngeldern aufgekauft, in Japan erfand man Cybertechnologie, die Kunst, Fleisch durch Chrom zu ersetzen. Das Computernetz wich nach einem weltweiten Absturz durch einen einzigen Killervirus der Matrix, einem Netzwerk, das über ein Interface und eine Tatstatur hinausgeht. Der User ist ein Teil des PCs geworden. Es entstanden Legenden und die Zeitrechnung näherte sich unaufhaltsam dem Jahr 2011, dem Jahr, das im mexikanischen Kalender als Zeit der Umwälzung prophezeit wurde. Und die Welt dachte, sie würde bereits im Chaos liegen.
Das kleine Mädchen erwachte und blickte blinzelnd durch die grünliche Flüssigkeit hindurch. Das Gesicht ihres Gegenübers war weder alt noch jung, aber seine tiefschwarzen Augen zeugten von gewaltiger Weisheit, gaben ihr allerdings auch ein Kribbeln in den Bauch, das sie einfach nicht einordnen konnte. Die langen, lockigen und ebenso tiefschwarzen Haare stellten sich leicht auf, als der Mann lächelte.
„Weißt du meinen Namen?“, schallte seine Frage im Kopf des Mädchens wieder, obwohl er seine Lippen nicht bewegt hatte.
„Ja.“, antwortete sie, „Dein Name ist Darke. Ich habe ihn in meinen Alpträumen gehört.“
„Exzellent.“, meinte Darke lächelnd. Das Mädchen sank abermals in tiefen Schlaf. In ihren letzten Gedanken bemerkte sie, was das kribbeln in ihrem Bauch bedeutet hatte.
Sie hatte die Hölle gesehen.
„Sie kommt. Wird ja auch langsam Zeit.“, meinte Wisdom und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Es verging eine kurze Zeit, dann öffnete sich die Tür und das vercyberte Elfenmädchen trat hindurch.
„Ich bin hier.“, verkündete ihre Stimme und sie nickte den Anwesenden kurz zu.
„Ich nehme an, sie sind Juliette?“, fragte der dickliche Mann.
„Korrekt.“, meinte sie kurz, woraufhin Wisdom wieder mit Kichern begann.
„Juliette? Was für ein ungewöhnlicher Name! Und wo ist dein Romeo?“, lachte er in den Raum. Das Mädchen schaute ihn aus ihren leeren Augen heraus an, und eine betrübende Stille lag in dem Raum. Der rundliche Auftraggeber hüstelte sich und beendete so das Starrduell der Beiden.
„Wir sind nicht hier, um über Literatur zu reden, Mister Wisdom. Ich werde ihnen die Aufgabe noch einmal kurz erläutern.“
Er erhob sich müde und wanderte ein wenig unruhig durch den Raum. Als er gerade mit Reden beginnen wollte, hob Wisdom noch einmal den Finger und grinste.
„Sagen sie uns bitte immer die ganze Wahrheit. Sonst tu ich es.“
„Ja, ja, ist ja schon gut…“, meinte er genervt und begann mit den Ausführungen.
„Vor zwei Tagen bekamen wir Nachricht von unseren Leuten bei Aztec, die meinten, der Konzern hätte einen ganz großen Fisch am Haken. Nähere Untersuchungen brachten zu Tage, dass es sich bei diesem besonders dicken Fisch um ein Kind handelt, dessen Schulterblätter offenbar mit beweglichen, verlängerten Knorpelteilen bestückt sind, wie bei der Wirbelsäule. Aztec hat offensichtlich einen neuen Typ Metamensch entdeckt. Einen Engel.“
Wieder kehrte Ruhe in den Raum ein, bis Juliettes bleierne Stimme erklang.
„Sollen wir das Subjekt beschaffen oder vernichten?“
„Nun ja, es ist kompliziert, wenn die Sache an die Öffentlichkeit gerät, sollten die Menschen darauf vorbereitet sein, sonst könnte dieser Engel ihren Glauben erschüttern.“
Wisdom lachte leise und schlug mit der Handfläche auf den Tisch.
„Und sie würden wohl einsehen, dass ihr Christentum letztendlich doch nur ein Auswuchs wütender Magie ist und Jesus ein gottverdammter Hexenmeister war.“
Der rundliche Auftraggeber grinste ihn breit an.
„Sie liegen vollkommen richtig, Mister Wisdom. Es wäre perfekt, wenn sie das Kind lebendig zu uns bringen, aber die Hauptsache ist, dass es nicht in Konzernhand bleibt. Töten sie es, wenn es nicht anders geht.“
Juliette nickte metallen und erhob sich von ihrem Stuhl.
„Wie sieht es mit der Belohnung aus?“
„Zehntausend sofort, weitere 100k nach Erledigung des Auftrags, 200k, falls das Mädchen überlebt und hierher kommt.“
„Das ist ja alles schön und gut, Toni, wenn ich sie bei ihrem Vornamen nennen darf.“, bemerkte Wisdom lächelnd, „Aber klären sie uns doch noch über die letzte Runnergruppe und die Tatsache, dass wir nur zwei sind, auf.“
Auf Tonis Gesicht zeigte sich eine Angstfalte, dann grinste er wieder.
„Vor ihnen…“
„Richtig.“, fiel ihm Wisdom ins Wort, „Sie können nichts vor mir verbergen, also versuchen sie erst gar nicht erst.“
„In Ordnung. Wir haben in Angesicht der Dringlichkeit dieser Angelegenheit bereits gestern ein Team auf den Run angesetzt, aber es hat… versagt.“
Wisdoms Grinsen brachte ihn dazu, diese Aussage näher zu erläutern.
„Sie haben den Engel im Konzerngebäude nicht einmal mehr gefunden. Der Decker ist ihnen durchgebrannt, der Magier hat den Verstand verloren und den Rest der Gruppe geröstet. Wir rechnen mit dem Aufenthalt eines äußerst mächtigen Magus in dem Gebäude. Also gingen wir weg von der üblichen Taktik des gut geplanten Infiltrations-Runs. Meine Leute erkundigten sich nach dem besten Krieger in Seattle, wobei sie unweigerlich auf Juliette stießen.“
„Und ich…“, fiel ihm Wisdom abermals ins Wort, „…soll ihren kleinen Flattermann finden.“
„Richtig. Zudem sind zwei Leute wesentlich agiler als eine ganze Gruppe. Ich denke, für Runner von ihrem Kaliber dürfte es ein Kinderspiel werden.“
Juliette nickte nur kurz.
„Ich nehme an.“
Wisdom grinste breit über das ganze Gesicht.
„Nein, mein Lieber Toni, das wird kein Kinderspiel, ich rieche die Magie in der Luft, das wird kein Kinderspiel.“
Dann nickte er wild.
„Das wird nicht einmal mehr ein Spiel… Ich bin ja so was von dabei!!“
Dann kam das Jahr 2011, und wer nicht die letzten 50 Jahre in einem Keller gelebt hat, weiß, was geschah: Die Magie kehrte zurück. Überall in der Welt wurden Metamenschen geboren, Völker entstanden, die man davor nur aus alten Mythologien und Fantasybüchern kannte, Elfen, Orks, Trolle, Zwerge und noch seltsameres Getier fanden ihren Weg zurück in die Welt. Plötzlich begannen die Wissenschaftler, Dinge mit Magie zu erklären. Indianerstämme besannen sich auf die Kräfte der Natur und nahmen den Großteil Nordamerikas ein, nachdem sie die Regierung des Landes mit Vulkanausbrüchen, Tornados und Erdbeben bis auf die Knochen geängstigt hatten. Die Drachen erschienen abermals, und heute liegen die meisten Konzerne in ihren Klauen. Magier entpuppten sich nicht mehr als Scharlatane, sondern als Machtzentren, die es mit Armeen aufnehmen konnten. Nun ist das Jahr 2057, man hat sich ein wenig an die Veränderungen gewöhnt, aber neue Phänomene sind unerklärlich und bedrohlich geworden. Nun liegt die Welt tatsächlich im Chaos, aber es gibt genügend New Age-Propheten, die behaupten, all dies wäre erst der Anfang.
Der Wind umspielte Juliettes Haare, als die beiden durch die leeren Straßen Seattles wanderten. Es war morgens um sechs, eine Zeit, zu der nur die schlimmsten noch nicht schliefen oder schon wieder wach waren.
„Hey, Große.“, wandte sich Wisdom mit ernstem Blick an das Mädchen, „Willst du mir nicht wenigstens jetzt erzählen, wo dein Romeo ist?“
Sie schaute ihn an und ihr Gesicht zeigte keinerlei Emotion.
„Wirken sie einfach eine Geistessonde und finden sie es heraus.“
„Ich bin kein Magier…“, meinte er beiläufig, woraufhin ihn das Mädchen mit ihren durchdringenden verchromten Augen anblickte, die ihm verrieten, dass sie eine Erklärung erwartete.
„Ich bin nur ein Ki-Adept.“
„Ich glaube ihnen nicht.“, meinte ihre trockene Stimme. „Es ist eine Sache, Informationen und extreme Sinneswahrnehmungen zu haben. Aber Vorhersagungen, wie gerade bei dem Auftraggeber, sind Magie.“
„Nö.“, erwiderte Wisdom grinsend. „Die Falten im Gesicht dieses Fettwanstes haben seinen Namen gerade so herausgeschrieen. Seine Aura hat das nur noch bestätigt.“
Juliette blieb stehen und schaute ihrem Partner in die Augen.
„Dann sagen sie mir jetzt meinen Namen.“
Wisdom grinste sie an und schloss dabei sein gelbes Auge, was seinem Gesicht eine bedrohliche Note gab.
„Das, meine vercyberte Freundin, wäre Magie. Wie soll ich etwas anhand deiner Gedanken erkennen, was du selbst längst vergessen hast?“
Er ging summend weiter, und nach einem Augenblick folgte sie ihm bedächtig.
„Es gibt keinen Romeo.“
Der Adept grinste nur.
„Natürlich gibt es einen Romeo, Süße. Ein Mädchen wie du? Eine Maschine wie du? Ach, meine Kleine, es gibt immer einen Romeo! Der Stahl hat deine Emotionen gezügelt, selbst ich bin nicht imstande, viel aus dir zu lesen. Aber glaube mir, es wird wieder einen Romeo geben.“
Sie wollte diese Worte glauben, aber die mechanische Logik ihrer Schaltkreise schloss jenen Fall aus.
„Dazu bedürfte es einem Wunder.“, meinte sie nur kalt.
„Zum Glück…“, lachte Wisdom in die Nacht, ohne sie anzuschauen, „…ist die Magie schon vor Jahren in diese Welt zurückgekehrt! Es wäre nicht das erste Wunder, nicht wahr?“
Zu gern hätte Juliette ihm Recht gegeben, aber sie schwieg.
Die Pyramide flammte in der Innenstadt Seattles wie ein Leuchtfeuer am Horizont. Der Aztec-Konzern war sehr auf Stil bedacht gewesen, als er den Bau hatte errichten lassen, und zudem auch sehr weise. Es galt als sicherer Selbstmord, sich dem Anwesen mit unlauteren Absichten zu nähern. Wisdom und Juliette waren noch ungefähr 30 Meter vom Besuchereingang entfernt, als sich der Adept auf seinen Hosenboden fallen ließ und die Augen aufriss.
„Was tun sie da?“, erkundigte sich seine Partnerin und versuchte, nicht die Aufmerksamkeit des Wachpersonals zu wecken.
„Blick in die leeren Gesichter dieser Leute.“, antwortete er und zeigte lächelnd mit einem Finger auf die Wachleute. Juliette fiel auf, dass seine Fingernägel ungefähr doppelt so lange wie die ihren waren.
„Sie haben keinerlei eigenen Willen, daher werden sie nicht weit genug gekommen sein, um zu wissen, wo der Engel gehalten wird.“
Juliette erkannte die Gesichtszüge der Männer überhaupt nur durch ihre technisch verstärkten Augen, und doch redete Wisdom von ihnen, als würden sie vor ihm auf dem Seziertisch liegen.
„Aber sie hören Gerüchte. Sie wissen, wo in der Pyramide sie nicht hindürfen. Ich höre ihren kleinen Smalltalk untereinander, ich spüre ihre ängstlichen Auren, wenn sie über geheime Experimente reden. Jeder Zweifel in ihren Gedanken schließt einen Ort aus, an dem wir nicht suchen müssen. Gib mir zwei Minuten und ich sage dir, wo wir unseren Messias finden können.“
„Bist du schnell?“, fragte Wisdom grinsend, nachdem er die Situation ungefähr eine Minuten und 13 Sekunden sondiert hatte. Juliette strich sich das weiße Haar aus dem Gesicht, ignorierte die Stoppuhr irgendwo in dem Kabelsalat ihres Kopfes und nickte.
„Man ist der Meinung, ich sei die Schnellste. Drei der Konzernleute sind gerade auf dem Weg zu uns.“
„Ich weiß, mein großes Cybermädchen!“, lachte er mit dem Rücken zur Pyramide, „Und ebenso wie du weiß auch ich, in wie vielen Sekundenbruchteilen sie den ersten Schuss auf uns abgeben werden.“
Seine Augen leuchteten vor freudiger Erwartung.
„Ich bin schnell, könnte aber nicht mit dir mithalten.“, meinte er, während sein Körper beiläufig einem Schuss auswich und dabei vor innerer, magischer Energie zu leuchten schien. Drei große Gestalten rannten nun auf das Duo zu.
„68. Stock, 187. Fenster von links. Der beste Eingang. Aber du musst mich tragen.“
Juliette nickte und legte den Mantel ab. Das erste Mal kam ihr ganzer Körper zum Vorschein. Er war zwar das, was man als äußerst gut proportioniert bezeichnen würde, allerdings waren ihre Glieder fast schon zu gut geformt. Wisdom roch das Titanium in ihren Knochen, den Chrom zwischen den Muskelsträngen und das magische Material Orichalkum, welches überall auf ihrer Haut in Formen von leichten Adern injiziert war.
„Es ist gut, mit jemandem zu arbeiten, für den ich nicht die Ritterin spielen muss.“, meinte sie, als der breite Griff ihres Schwertes auf dem Rücken erschien. Die Klinge war ca. einen Meter lang und 8 cm breit, ein uraltes Relikt aus Schottland, und zudem magischer Natur, wie Wisdom erkannte. Die Waffe leuchtete im Astralraum in einem matten Rot. Nun lächelte auch er.
„Ich fühle mich geehrt, Juliette von Seattle. Und jetzt lass uns diesen Run beginnen!“
Juliettes Füße schlugen an ihrem Ausgangspunkt einen kleinen Krater in den Boden, als sie losrannte. Wisdom hing auf ihrem Rücken, was ein lustiges Bild abgab, aber das schien die Cyberelfe nicht zu beeinflussen. Als der Kugelhagel der Sicherheits-Orks an ihrem vorherigen Standpunkt die Straße aus dem Fundament riss, erklomm das Mädchen gerade die Aztec-Pyramide, einhundert Meter hinter den Wachen. Sie hatten den Schemen, der sie passiert hatte, nicht einmal mehr wahrgenommen.
„Sie kommen.“, meinte der Magus Darke, scheinbar belustigt. Das Mädchen in dem riesigen Bottich vor ihm blickte misstrauisch zu dem Schwarzhaarigen herab. Vom Aussehen her hätte man sie auf ein Alter von 13 oder 14 Jahren geschätzt, aber in ihren Augen brannte eine Weisheit, die auf eine lange Lebenserfahrung zurückschließen ließ.
„Werden sie mich von dir befreien?“
Darke lächelte.
„Sofern deine Seele dann noch an Ort und Stelle ist, mein kleiner Engel, besteht diese Chance durchaus.“
„Warum willst du diesen Körper?“, fragte sie verwirrt und blickte an sich herab.
„Warum wollte wohl der Junge aus dem Märchen die goldene Gans für sich haben?“
„Weil er gierig war.“, meinte sie abfällig.
Darke ging nachdenklich einige Schritte und blieb dann doch wieder stehen, um sich noch einmal umzudrehen.
„Was, meinst du, hätte er getan, wenn man ihm die Möglichkeit gegeben hätte, zu einer goldenen Gans zu werden, die sich ihre Wünsche selbst erfüllen kann?“
Angst zeigte sich in ihren Augen und sie senkte den Kopf.
„Gegen sie war der Junge in dem Grimm-Märchen ein Heiliger.“, murmelte sie abfällig, obwohl das Gespräch nur in den Köpfen der beiden ablief.
„Mag sein.“, antwortete Darke lächelnd, „Aber du bist ja auch keine Gans. Und ich lege keinen Wert darauf, ein Heiliger zu sein. Es gibt Leute, die der Meinung sind, ich sei im tiefsten Abyss geboren.“
Das Mädchen wollte diese Möglichkeit nicht vollkommen ausschließen.
Die Panzerglasscheibe in ungefähr 200 Meter Höhe zerbarst unter einem leichten Druck von Juliettes Finger und die Glasscherben verloren sich weiter draußen im Herbstwind. Wisdom rollte sich von ihrem Rücken und ließ seine zu einer einzigen Faust verbundenen Finger wie einen Hammer auf den Wachtroll unter dem Fenster herabfallen. Die riesenhafte Statur ging bewusstlos zu Boden und noch bevor der Troll den Flur mithilfe der Schwerkraft erreichte, kletterte der Seher an ihm herab und sondierte die Lage. Sie waren in einem leeren Bürokomplex der Pyramide, einige synthetische Topfpflanzen schmückten den Raum, aber sonst war niemand zu sehen.
„Ist es nicht ungewöhnlich, in dieser Höhe nach einem geheim gehaltenen Projekt zu suchen?“, fragte Juliette, und ihr Chromkörper landete geschmeidig auf dem Kunststoffboden.
„Durchaus.“, meinte Wisdom, „Die Wachleute waren ebenfalls darüber verwundert, und ich fürchte, aus diesem Grund hat das andere Team versagt. Beeilen wir uns, du warst zwar schnell genug, um nicht von den Sensoren der Pyramidenaußenseite wahrgenommen zu werden, aber die zerstörte Scheibe selbst ist vor einer Kamera nicht gut zu verstecken. In zwei Minuten und 14 Sekunden wird der Alarm losbrechen.“
Juliette nickte und begab sich zu der Tür.
„In zwei Minuten haben wir diese Pyramide längst verlassen.“
„Nein.“, stellte Wisdom fest, als sei es eine Tatsache, „Das wäre ja ein Kinderspiel gewesen.“
Juliette lächelte und schleuderte die verschlossene Tür mit einem Handrückenschlag meterweit durch den Flur dahinter.
Gruumsh zählte die Pickel in seinem Gesicht und schaute dann resigniert in das Waschbecken hinunter. Der Anzug passte ihm nicht so recht, er war selbst für einen Ork missgebildet. Leise Tränen liefen seine Wangen herab und er hielt sich die Hände vors Gesicht. Er verfluchte die Welt, die Goblinisierung, die ihn in das verwandelt hatte, was er war und vor allem seine Eltern. Sie hatten immer einen schlechten Humor gehabt, aber ihr Orkkind „Gruumsh“ zu nennen, war nun wirklich ein viel zu schlechter Scherz. Das Leben war schlecht, als Sicherheitsmann bei Aztechnology waren die Aufstiegschance auch stark begrenzt und irgendwie hatte er auch bei den Frauen nie Glück gehabt. Kein Wunder. Wer wollte schon einen 2-Meter-Ork mit viel zu groß geratenen Zähnen? Er beschloss, seinem elenden Dasein ein Ende zu setzen und nahm vorsichtig und mit zitternder Hand seine Dienstwaffe aus dem Halfter. Eine Toilette war zwar nicht gerade ein besonders dramatischer Ort für einen Selbstmord, aber sie würde ihren Dienst erfüllen. Zögernd bewegte er die Pistole zu seinem Kopf.
„Bitte, ihr Götter, falls es euch gibt, gebt mir ein Zeichen, sonst wird es zu spät sein.“, dachte er, aber nichts geschah.
Als er gerade mit dem Leben abschloss und sich den Lauf der Beretta unters Kinn drückte, hörte er ein lautes Krachen, und als er sich umdrehte, erkannte er verwirrt, wie eine Elfe durch die Wand links neben ihm brach und ihm die Waffe aus der Hand schlug. Hinter ihr folgte ein Mensch mit seltsamen Tätowierungen, der ihn mitleidig anschaute.
„Lass den Mist.“, meinte der Mensch lächelnd, „Niemals die Hoffnung verlieren!“, lachte er.
Er wies mit der Hand auf die Wand hinter sich, woraufhin die Elfe jene mit einem Tritt pulverisierte. Dann rannte das seltsame Gespann weiter, durch die Wand rechts neben ihm, ohne auch nur daran zu denken, eine Tür zu verwenden. Kopfschüttelnd hob Gruumsh die Waffe wieder auf. Dann stoppte er. Auf der Seite der Toilette, die das Elfenmädchen soeben zerstört hatte, musste offensichtlich die Damentoilette gewesen sein, denn eine Orkfrau schaute ihn entsetzt an. Gruumsh lächelte verschmitzt. Eine Reaktion, die er sich angewöhnt hatte, wenn man ihm mit Misstrauen begegnete, obwohl diese Mimik wahrscheinlich besonders nachteilhaft war, weil seine viel zu großen Hauer so noch mehr zum Vorschein kamen. Dann erkannte er, dass auch die Orkfrau eine Pistole in der Hand hatte. Und sie lächelte verschmitzt. Ihre Zähne waren zwar nicht viel kleiner als seine eigenen, aber sonst war sie für Orkverhältnisse gar nicht mal so besonders hässlich. Gruumsh ließ die Beretta fallen und dachte an die Worte des seltsam tätowierten Menschen.
„Niemals die Hoffnung verlieren!“
Gruumsh beschloss, sich diesem Rat anzunehmen. Er lächelte und bewegte sich zu der sympathischen Orkfrau, um sie zu trösten.
Juliette und Wisdom schnellten durch die weiß tapezierten Gänge der Pyramide, sämtliche Sicherheitskameras und andere Vorrichtungen ignorierend.
“Da vorn kommt ein langer Korridor.“, meinte Wisdom und zeigte mit dem Finger auf eine Abzweigung einige Meter vor den Beiden. „Wir müssen uns beeilen, die Sicherheit wird bald aktiv werden.“
Einige Räume weiter rammte Juliette einem verwirrten Mann ihr Schwert in den Rücken, während der Adept seinem Ebenbild auf der anderen Seite der Tür den Ellebogen vors Kinn donnerte. Plötzlich erstarrte Wisdom und wies die Elfe mit einer leichten, schnellen Handbewegung an, den Raum zu verlassen. Sie zögerte keine Sekunde, und als sie die Tür hinter sich schloss, spürte sie plötzlich die unnatürliche Hitze der Türklinke. Als Juliette die Pforte auf ein Wort des Adepten wieder öffnete, trat der Geruch von verbranntem Kunststoff in ihre Nase. Der Boden, die Decke, und ebenso die Wände des Raumes waren vollständig schwarz gerußt, ein Häufchen Asche war das einzige Überbleibsel eines Schreibtisches, während von den Leichen der Wachmänner nur noch verkohlte Skelette übrig geblieben waren. Wisdoms Körper war vollkommen unversehrt, aber überall stieg Dampf von seiner Haut auf, als würde er glühen. Seine Hand war gen Himmel gestreckt, und erst mithilfe ihrer Infarot-Augen erkannte die verchromte Elfe den Grund dafür. In der Hand des Adepten zappelte ein unsichtbarer Magier, der wohl auch für dieses Inferno zuständig war. In seinen Augen lag Panik, und er schleuderte einen Zauber nach dem anderen auf Wisdom, doch die Magie prallte von dem Menschen ab wie Regen von einer Betonwand. Juliette dachte das erste Mal darüber nach, wie der Adept so unglaublich stark geworden war. Er war nicht nur besser als ein Klotz am Bein, langsam zweifelte die Elfe sogar daran, dass sie ihn selbst im Kampf übertrumpfen könnte.
„Der ist aber widerstandsfähig!“, meinte Wisdom leichtfertig, während sein goldenes Auge das Gesicht des Zwerges ebenso wenig verließ wie das rote. Ein Fremder hätte den Eindruck gehabt, der Adept hätte den Zwerg verspeisen wollen und nun nur darüber nachgedacht, an welcher Stelle er wohl zuerst zubeißen sollte. Schließlich klappte der in Rage geratene Kleinwüchsige dann doch zusammen, die übertriebene Magie hatte ihm das Bewusstsein geraubt.
„Ich weiß nun genau, wo der Engel ist.“, meinte Wisdom und ließ den schlaffen Körper fallen.
Juliette nickte und ging auf die Tür zu. Als sie bemerkte, dass Wisdom ihr nicht folgte, blieb sie stehen und schaute zu dem Adepten. Sein Gesicht zeigte eine seltsame Emotion, irgendwo zwischen Interesse, Angst, Selbstsicherheit und absolutem Wahnsinn.
„Ein Mann namens Darke ist bei ihm. Schon mal was über ihn gehört?“
Juliette hatte etwas über ihn gehört. Mehr als ihr lieb war.
„Nur Gerüchte.“
Wisdom lachte laut und griff, unsichtbar für ungeübte Augen, mit einem schnellen Sprung einen Geist aus der Luft. Juliette sah den Watcher zwar nicht, hatte aber genügend Erfahrung mit diesen magischen Kameras, um sich sicher zu sein, dass sie zwar nicht direkt gefährlich waren, wohl aber äußerst gefährliche Magier rufen konnten.
„Der hat dem Zwerg bescheid gesagt.“, meinte Wisdom mit spielerischer Überlegung in den Zügen, und die Elfe beobachtete, wie sich die Muskeln seines Armes anspannten, um das Astralwesen nicht entkommen zu lassen. Dann rammte der Adept sein Gebiss in die Luft über seinem Arm, stieß aber offensichtlich auf Widerstand. Er spuckte etwas Unsichtbares in den Raum, und seine Muskeln entspannten sich.
„Eigentlich kann ich den Geschmack nicht ab, aber es ist wie eine Droge!“, lachte er und verließ den Raum. „Beeilen wir uns. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Das Mädchen beobachtete, wie Darke auf die Mitte des großen Podestes stieg, während die vier Magier die Ecken des Vierecks einnahmen. Die Anlage war mit Kerzenwachs und Kreide bearbeitet worden, und jeder der Zauberer hielt nun einen gebogenen Opferdolch in der Hand. Der Erzmagier mit dem schwarzen Haar lächelte das Mädchen in der Glassäule an.
„Hast du Angst, meine Kleine?“
„Nein.“, meinte sie sicher, „Nicht vor dir. Nur davor, dass sie nicht mehr rechtzeitig ankommt.“
Darkes Lächeln verschwand.
„Beeilt euch.“, meinte er zu den glatzköpfigen Akolythen unter sich, „Lasst uns beginnen.“
Diese begannen daraufhin sofort, mit alten aztekischen Stimmen ein Requiem zu singen. Das Mädchen in dem Bottich riss die Hände zu ihrem Kopf, die Noten schmerzten in ihrem Hirn. Nun lächelte Darke wieder.
„Bis jetzt hat noch niemand meiner Blutmagie widerstanden. Sehen wir, ob du diese Kette durchbrechen kannst.“
Das Mädchen hob unter Schmerzen ihren Kopf, und ihre goldenen Haare wirbelten wild in der grünen Flüssigkeit umher.
„Ich muss… nicht widerstehen….“, meinte sie mit Anstrengung im Gesicht, „Ich muss nur… durchhalten.“, ergänzte sie, als die vier aztekischen Magier die Dolche in ihr eigenes Herz rammten.
Sie schrie.
Darke grinste bösartig.
Und aus dem Rücken des Kindes wuchsen zwei winzige Schwingen hervor.
Die Wand hinter den Magiern zerbarst und Juliettes Schemen schnellte hervor, mit dem riesigen Schwert in der Rückhand.
Darke begann, einen Zauber zu wirken, als hätte er den Überfall vorhergesehen. Das Blutopfer seiner Akolythen wirkte wie ein gewaltiger Fokus, die rote Flüssigkeit wirbelte vom Boden herauf in dünnen Bahnen um den Körper des Magus. Juliettes Klinge hatte den Tod der Akolythen beschleunigt, und als sie sich gerade dem Erzmagier zuwenden wollte, sah sie, wie dieser mit den Fingern auf sie zeigte. Selbst ihre Schaltkreise spürten die Magie, als der Zauber losbrach. In diesem Moment rollte sich Wisdom über Juliettes Schulter, und die Wucht des Zaubers traf seinen Körper. Der junge Mann wurde zurückgeschleudert und schrie, wobei es auch ein Lachen hätte sein können.
Darkes Augen verfinsterte sich, als er erkannte, dass der Adept seinem Zauber widerstanden hatte. Wisdom zitterte beim Aufstehen noch immer, aber auf seinem Gesicht zeigte sich ein Lächeln. Als er aufsah, erkannte er Darkes Hand direkt an seiner Stirn, die tiefschwarzen Augen des Magiers glitzerten mordlustig.
„Du bist an den Falschen geraten.“
Das Mädchen in dem Bottich litt schreckliche Schmerzen, als sie spürte, wie sich ihre Seele vom Körper löste. Juliette war von der finsteren Magie wie gelähmt gewesen, erkannte aber die Gefahr für Wisdom. Die Zeit würde nicht für eine koordinierte Aktion ausreichen. Verzweifelt warf sie sich gegen den Körper ihres Partners und schleuderte damit sowohl ihn als auch Darke nach hinten. Der Magier verlor seinen Zauber und Juliette fiel ein Stein vom Herzen, die stärkste Emotion seit sehr langer Zeit. Dann fiel ihr auf, dass die Blutsäule, die Darke beschworen hatte, nun um sie kreiste, sie hatte sich ohne nachzudenken hinein geworfen. Im nächsten Moment verlor sie die Kontrolle über ihren Körper und das Gesicht des aztekischen Magiers verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Das Mädchen mit den Engelsflügeln lächelte, als ihre Seele den Körper verließ.
Ein blutrotes Licht überflutete den Raum.
Als Juliette ihre Augen öffnete, schnappte sie zuerst nach Luft und versuchte dann krampfhaft, in dem blendend hellen Raum etwas zu erkennen. Ihre Infarotsicht schien nicht zu funktionieren, aber Panik überkam sie erst, als sie realisierte, dass auch der Blitzkompensator seine Dienste eingestellt hatte. Als sie aufstehen wollte, kam ihr dieses leichte Unterfangen wie ein unmögliches Ziel vor. Das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, musste sie für eine gewöhnliche Bewegung Kraft aufwenden. Panik. Sie hatte Panik verspürt. Ein Netzwerk aus Drüsen, Kabeln und Programmen hätte dies verhindern müssen. Dann sah sie ihren Körper, wie er einige Meter neben ihr reglos auf dem Boden lag, und die Erkenntnis dämmerte in ihrem Kopf.
Darke erhob sich. Sein Kopf brodelte vor Wut und die Luft um ihn wurde unwillkürlich von seiner magischen Energie ergriffen. Die schwarzen Locken des Magus erhoben sich wie bei einer Katze, als er den Staub von seiner Robe abstreifte und sich auf den am Boden liegenden Wisdom zu bewegte, wie eine Hyäne um das Aas streifte. Der Adept öffnete die Augen und rang sich ein Lächeln ab.
„Was zur Hölle war… das?“
„Das spielt für dich keine Rolle mehr…“, grunzte der Magier mit bösartigem Blick, „Find dich damit ab, dass ihr dafür verantwortlich seid, und ich dich nun dafür zu Tode quälen werde.“
Wisdom lächelte, als er das Höllenfeuer erkannte, welches Darke im Astralraum wob. Hinter dem Magier erhob sich die Statur des Engels. Es war ein junges Mädchen, und ihre Schwingen waren gerade einmal einen Meter lang, was die Erhabenheit aber kaum schmälerte. Dann riss Wisdom seine Augen auf. Er erkannte etwas im Gesicht des Mädchens, dass er seit einigen Stunden vergeblich gesucht hatte.
„Sarah.“, meinte er mit einem Lächeln, und Darke schaute ihn verwirrt an.
„Ihr richtiger Name ist Sarah. Und ich kann noch nicht sterben. Ich muss noch einer Juliette helfen, ihren Romeo zu finden.“
Der Adept konzentrierte seine Magie auf die zahlreichen magischen Wunden, er ignorierte die Schmerzen und überwand so auch die Tatsache, dass sich sein Körper physisch kaum mehr bewegen konnte. Ein Sprung brachte ihn über Darkes Kopf hinweg, und der Magier folgte ihm, und mit seinen Händen kamen auch die Gesten zur Vollendung des Zaubers. Wisdom ergriff das Engelmädchen und schleuderte sie aus dem Fenster hinaus.
„Entschuldigung…“, meinte er mit letzter Kraft zu Darke, „Ich hatte heute morgen eine Eingebung. Sie war vollkommen richtig.“
Der Magier schrie und das Höllenfeuer hüllte den tätowierten Körper des Sehers komplett ein. Wisdom spürte, wie der Zauber seine Resistenz durchdrang und roch kurz darauf verbranntes Fleisch, als er sich direkt hinter dem Engel von der Pyramide fallen ließ.
Die Nacht war kühl und ruhig, die Sterne schienen auf die Erde herab, die Schlote der riesigen Konzernfabriken schienen an jenem Tag zu schweigen. Die beiden Körper glitten beinahe widerstandslos über die blau-goldene Außenwand des Aztec-Baus, der Boden war nur eine weite Illusion, entfernt und unwirklich. Die Flammen, die Wisdom umhüllt hatten, gaben ihm den Anschein eines Kometen, der die Erde vernichten wollte. Das Engelmädchen hatte die Augen geöffnet und lächelte den Adepten an.
„Danke… mein Freund…“, meinte sie, und obwohl der Fall sämtliche Geräusche hätte übertönen müssen, verstand der Seher genau, was sie ihm mitteilen wollte. Er lächelte, als die Flammen sein Gesicht verbrannten.
„Kein Problem… Sarah. Ich habe es dir gesagt…“
Dann verstummte er und Sarah umschloss den brennenden Körper. Die Wirkung des Höllenfeuers ließ langsam nach, aber sie war fatal gewesen.
„Ja… Wisdom… du hast es mir gesagt… Es wäre nicht…“
Ihr Blick wanderte hinauf zu den Sternen.
„…das erste Wunder.“
Dann breitete sie die Schwingen aus und sprang ab. Der Engel verschwand in der Kulisse des nächtlichen Seattles. Wisdoms verbrannter Körper lieferte dem Verstand keinerlei Empfindungen mehr, aber er war glücklich, als er sich mit letzter Kraft um Sarahs Taille klammerte.
„Ich sterbe nicht. Wir finden deinen Romeo…“
Dann übermannte ihn die Bewusstlosigkeit.
Gruumsh verließ die Aztec-Pyramide an diesem Tag mit guter Laune. Er hatte eine Verabredung. Das hatte einen schönen klang: Gruumsh, der 2-Meter-Ork mit viel zu großen Hauern, hatte eine Verabredung. Er summte auf dem Heimweg eine fröhliche Melodie und wirbelte seine Aktentasche hin und her.
Eigentlich schreib ich sowas ja ins Atelier, aber ich hab so das Gefühl, dass es da niemand lesen würde ._. (Falls die Mods anderen Meinung sind, kann mans ja verschieben)
Shadowrun
Der erste Engel
Eine Stadt im Norden des amerikanischen Kontinents um 2055.
Es hätte auch jeder andere Ort sein können.
Die junge Frau glitt durch die Straßen Seattles, und ihre silberlegierten Füße hinterließen kein einziges Geräusch. Sie hatte lange weiße Haare, vor langer Zeit mochten sie einmal blond gewesen sein, und ihre Lippen prangten wie Chrom-Kirschen in dem hellgrauen Gesicht mit den majestätisch zugespitzten Ohren. Ihre Gedanken waren kaum vorhanden. Die große Brücke, die in den Schatten der Nacht verhangen war, beeindruckte sie ebenso wenig wie der angenehme kühle Wind vom Meer. Ihre Bewegung war stets sicher programmiert, sie würde den Treffpunkt zur richtigen Zeit erreichen. Die Sensoren der Elfe vernahmen Herzschläge verschiedener Personen von einigen Seiten des Weges und sie stoppte ihre Schritte. Drei junge Männer und eine Frau verließen ihre Verstecke und umstellten das Mädchen, mit einem hinterhältigen Grinsen auf dem Gesicht. Irgendwann hatte sie diese Art zu lächeln einmal gehasst.
„Hey, Kleine, was treibst du dich so spät noch draußen rum?“
Sie antwortete nicht und ihre metallen-silbernen Augen beobachteten den Redner beiläufig, ebenso wie sie auch die anderen Drei im Blick hatte. Die Frau der kleinen Gang trat hervor und warf mit einem herablassenden Gesicht eine synthetische Zigarette auf den Boden. Irgendwann hatte das einsame Elfenmädchen diesen Geruch einmal verabscheut.
„Ist wohl ne Nutte. Sonst würde sie hier nicht in so nem dämlichen, weiten Mantel rumlaufen.“
„Wollen sie mich aufhalten?“, fragte das Mädchen mit den silbernen Haaren ausdruckslos, und ihre Stimme klang bleiern.
„Du bist gut!“, lachte einer der Banditen, „Wenn wir dich nur aufhalten wollten, hätten wir dich längst umgebrach…“
Ihre Reflexe reagierten, bevor das letzte Bisschen ihres Verstandes die Todesdrohung auch nur verarbeitet hatte. Das Schwert surrte leise in seiner Hülle, bevor es den Kopf des Redners abtrennte und seinen Nebenmann zweiteilte. Die Frau sprang zurück, weshalb sie bei dem ersten Angriff des Mädchens nur beide Arme verlor, erst die zweite Attacke nahm ihr das Leben. Der letzte Angreifer wollte gerade schreien, als sich die schwere, metallene Klinge des mittelalterlichen Schwertes in seine Kehle bohrte. Der kalte, emotionslose Blick der jungen Elfe war schon nicht mehr auf ihn gerichtet, als sein Blut in einer Fontäne an dem Gesicht des Mädchens vorbeischoss. Sie spürte die satte rote Farbe und die wohlige Wärme. Irgendwann hatte sie Blut einmal nicht ausstehen können.
Das Schwert verschwand wieder unter dem Mantel und sie setzte ihren Weg fort. Sie musste sich nicht beeilen, die akademischen fünf Sekunden waren eingehalten.
Der alte Mann tippte unruhig mit seinen Fingern auf den Tisch und die Anspannung der Situation zwängte ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn.
„Seid ihr euch sicher, was die Leute angeht?“, fragte er einige schwarz gekleidete Orks neben sich.
„Ja, Boss.“, antwortete einer der Bodyguards, „Die Besten, die wir gefunden haben.“
„Hm.“, meinte der rundliche Chef und ließ seine Finger ineinander gleiten, „Wir werden sehen. Ich hoffe, sie irren sich nicht. Der Papst wird gar nicht glücklich sein, wenn diese Aktion fehlschlägt.“
Dann vernahm er ein leises Kichern aus einer Ecke des Raumes, die er zuvor nicht einmal mehr wahrgenommen hatte.
„Wir arbeiten für den Papa höchstpersönlich? Was für eine Ironie, jetzt begibt sich selbst die Kirche in die Schatten!“
Der Dickliche zuckte zusammen, und die Orks richteten ihre Waffen auf den Mensch, der aus dem Schatten trat. Statt einer richtigen Kleidung trug er nur eine viel zu weite Hose, die mit einem lockeren, aber äußerst breiten Gürtel zusammengehalten wurde, zudem war sein ganzer Körper mit bunten Tätowierungen verziert. Man sah mystische Gestalten, Fabelwesen, aber allen voran Darstellungen von Sinnesorganen, unzählige Augen, Ohren, Münder und Hände prangten auf der Haut des Fremden, so dass es unwillkürlich den Anschein hatte, er würde tatsächlich alles wahrnehmen. Selbst sein Gesicht war so gestochen worden, dass der junge Mann nun mit fünf Augen in den Raum schaute. Zu seinem leisen Lachen gesellte sich ein zurückhaltendes Klatschen. Einer der Orks wies die anderen an, ihre Waffen ruhen zu lassen, und flüsterte dem runden Mann etwas ins Ohr, woraufhin sich dieser unwillkürlich verschluckte.
„Wie bitte? Dieser Freak…?“
„Ja!“, fiel ihm der Tätowierte mit einer äußerst hohen Stimme ins Wort, „Dieser Freak ist der Mann, der euren Engel finden wird!“
Er verfiel in ein lautes Lachen, und der breite Mann drückte sich wütend auf den Tisch.
„Woher weißt du über den Engel?! Im ganzen Vatikan…“
„Jaja, Dickerchen, bla, bla, bla… Es wissen immer nur drei Leute im ganzen Vatikan darüber bescheid, aber in dem Moment, in dem einer von ihnen vor mir steht, haben mir tausend Zeichen bereits verraten, worum es geht, und schon…“
Langsam drückte er vier Finger seiner Hand einzeln in die Höhe.
„…wissen vier Leute davon.“
Das Grinsen seiner Augen war einschüchternd, und der schwitzende Mann fiel in seinen Stuhl zurück.
„Nun gut. Sie sind der Erste, lassen sie mich erklären, worum es geht, oder wissen sie das etwa auch schon?“
„Wollen sie diese Frage wirklich beantwortet haben?“, seufzte er lachend in den Raum, und seine verschiedenfarbigen Augen leuchteten, eines gelb, das andere rot.
„Ich weiß es tatsächlich, ich weiß sogar, welches Buch ihre Tochter immer vorgelesen haben möchte! Man nennt mich doch nicht umsonst ‚Wisdom’, den Seher! Wo bleibt meine Partnerin?“
Die Welt ist in den letzten 60 Jahren nur schlimmer geworden. Die Firmen dieser Welt gaben sich nicht länger mit der Kontrolle über die Köpfe der Menschen zufrieden, nach dem Jahr 2000 begannen sie, sich zu gewaltigen Allianzen zusammenzuschließen, die man Megacons, Riesenkonzerne, nannte. Stellen sie sich ein Monopoly-Spiel vor. Alle Straßen sind auf dem Niveau einer hypermodernen Schlossallee und gehören zudem nur etwa zwölf Leuten. Das Problem: Es gibt Milliarden von Spielern. Im Klartext war die Welt also in Konzernhand. Dann begann die Erde, sich gegen uns zu wehren, Sturmfluten und Erdbeben vernichteten halbe Kontinente, und auch die Technik der Menschen richtete sich gegen ihre Schöpfer. Ungefähr ein Dutzend Atomkraftwerke explodierten um 2006 rum, und die Seuche VITAS war ein guter synthetischer Ersatz für die mittelalterliche Pest. Staaten gingen unter, neue tauchten auf. Ganze Branchen wurden von Konzerngeldern aufgekauft, in Japan erfand man Cybertechnologie, die Kunst, Fleisch durch Chrom zu ersetzen. Das Computernetz wich nach einem weltweiten Absturz durch einen einzigen Killervirus der Matrix, einem Netzwerk, das über ein Interface und eine Tatstatur hinausgeht. Der User ist ein Teil des PCs geworden. Es entstanden Legenden und die Zeitrechnung näherte sich unaufhaltsam dem Jahr 2011, dem Jahr, das im mexikanischen Kalender als Zeit der Umwälzung prophezeit wurde. Und die Welt dachte, sie würde bereits im Chaos liegen.
Das kleine Mädchen erwachte und blickte blinzelnd durch die grünliche Flüssigkeit hindurch. Das Gesicht ihres Gegenübers war weder alt noch jung, aber seine tiefschwarzen Augen zeugten von gewaltiger Weisheit, gaben ihr allerdings auch ein Kribbeln in den Bauch, das sie einfach nicht einordnen konnte. Die langen, lockigen und ebenso tiefschwarzen Haare stellten sich leicht auf, als der Mann lächelte.
„Weißt du meinen Namen?“, schallte seine Frage im Kopf des Mädchens wieder, obwohl er seine Lippen nicht bewegt hatte.
„Ja.“, antwortete sie, „Dein Name ist Darke. Ich habe ihn in meinen Alpträumen gehört.“
„Exzellent.“, meinte Darke lächelnd. Das Mädchen sank abermals in tiefen Schlaf. In ihren letzten Gedanken bemerkte sie, was das kribbeln in ihrem Bauch bedeutet hatte.
Sie hatte die Hölle gesehen.
„Sie kommt. Wird ja auch langsam Zeit.“, meinte Wisdom und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Es verging eine kurze Zeit, dann öffnete sich die Tür und das vercyberte Elfenmädchen trat hindurch.
„Ich bin hier.“, verkündete ihre Stimme und sie nickte den Anwesenden kurz zu.
„Ich nehme an, sie sind Juliette?“, fragte der dickliche Mann.
„Korrekt.“, meinte sie kurz, woraufhin Wisdom wieder mit Kichern begann.
„Juliette? Was für ein ungewöhnlicher Name! Und wo ist dein Romeo?“, lachte er in den Raum. Das Mädchen schaute ihn aus ihren leeren Augen heraus an, und eine betrübende Stille lag in dem Raum. Der rundliche Auftraggeber hüstelte sich und beendete so das Starrduell der Beiden.
„Wir sind nicht hier, um über Literatur zu reden, Mister Wisdom. Ich werde ihnen die Aufgabe noch einmal kurz erläutern.“
Er erhob sich müde und wanderte ein wenig unruhig durch den Raum. Als er gerade mit Reden beginnen wollte, hob Wisdom noch einmal den Finger und grinste.
„Sagen sie uns bitte immer die ganze Wahrheit. Sonst tu ich es.“
„Ja, ja, ist ja schon gut…“, meinte er genervt und begann mit den Ausführungen.
„Vor zwei Tagen bekamen wir Nachricht von unseren Leuten bei Aztec, die meinten, der Konzern hätte einen ganz großen Fisch am Haken. Nähere Untersuchungen brachten zu Tage, dass es sich bei diesem besonders dicken Fisch um ein Kind handelt, dessen Schulterblätter offenbar mit beweglichen, verlängerten Knorpelteilen bestückt sind, wie bei der Wirbelsäule. Aztec hat offensichtlich einen neuen Typ Metamensch entdeckt. Einen Engel.“
Wieder kehrte Ruhe in den Raum ein, bis Juliettes bleierne Stimme erklang.
„Sollen wir das Subjekt beschaffen oder vernichten?“
„Nun ja, es ist kompliziert, wenn die Sache an die Öffentlichkeit gerät, sollten die Menschen darauf vorbereitet sein, sonst könnte dieser Engel ihren Glauben erschüttern.“
Wisdom lachte leise und schlug mit der Handfläche auf den Tisch.
„Und sie würden wohl einsehen, dass ihr Christentum letztendlich doch nur ein Auswuchs wütender Magie ist und Jesus ein gottverdammter Hexenmeister war.“
Der rundliche Auftraggeber grinste ihn breit an.
„Sie liegen vollkommen richtig, Mister Wisdom. Es wäre perfekt, wenn sie das Kind lebendig zu uns bringen, aber die Hauptsache ist, dass es nicht in Konzernhand bleibt. Töten sie es, wenn es nicht anders geht.“
Juliette nickte metallen und erhob sich von ihrem Stuhl.
„Wie sieht es mit der Belohnung aus?“
„Zehntausend sofort, weitere 100k nach Erledigung des Auftrags, 200k, falls das Mädchen überlebt und hierher kommt.“
„Das ist ja alles schön und gut, Toni, wenn ich sie bei ihrem Vornamen nennen darf.“, bemerkte Wisdom lächelnd, „Aber klären sie uns doch noch über die letzte Runnergruppe und die Tatsache, dass wir nur zwei sind, auf.“
Auf Tonis Gesicht zeigte sich eine Angstfalte, dann grinste er wieder.
„Vor ihnen…“
„Richtig.“, fiel ihm Wisdom ins Wort, „Sie können nichts vor mir verbergen, also versuchen sie erst gar nicht erst.“
„In Ordnung. Wir haben in Angesicht der Dringlichkeit dieser Angelegenheit bereits gestern ein Team auf den Run angesetzt, aber es hat… versagt.“
Wisdoms Grinsen brachte ihn dazu, diese Aussage näher zu erläutern.
„Sie haben den Engel im Konzerngebäude nicht einmal mehr gefunden. Der Decker ist ihnen durchgebrannt, der Magier hat den Verstand verloren und den Rest der Gruppe geröstet. Wir rechnen mit dem Aufenthalt eines äußerst mächtigen Magus in dem Gebäude. Also gingen wir weg von der üblichen Taktik des gut geplanten Infiltrations-Runs. Meine Leute erkundigten sich nach dem besten Krieger in Seattle, wobei sie unweigerlich auf Juliette stießen.“
„Und ich…“, fiel ihm Wisdom abermals ins Wort, „…soll ihren kleinen Flattermann finden.“
„Richtig. Zudem sind zwei Leute wesentlich agiler als eine ganze Gruppe. Ich denke, für Runner von ihrem Kaliber dürfte es ein Kinderspiel werden.“
Juliette nickte nur kurz.
„Ich nehme an.“
Wisdom grinste breit über das ganze Gesicht.
„Nein, mein Lieber Toni, das wird kein Kinderspiel, ich rieche die Magie in der Luft, das wird kein Kinderspiel.“
Dann nickte er wild.
„Das wird nicht einmal mehr ein Spiel… Ich bin ja so was von dabei!!“
Dann kam das Jahr 2011, und wer nicht die letzten 50 Jahre in einem Keller gelebt hat, weiß, was geschah: Die Magie kehrte zurück. Überall in der Welt wurden Metamenschen geboren, Völker entstanden, die man davor nur aus alten Mythologien und Fantasybüchern kannte, Elfen, Orks, Trolle, Zwerge und noch seltsameres Getier fanden ihren Weg zurück in die Welt. Plötzlich begannen die Wissenschaftler, Dinge mit Magie zu erklären. Indianerstämme besannen sich auf die Kräfte der Natur und nahmen den Großteil Nordamerikas ein, nachdem sie die Regierung des Landes mit Vulkanausbrüchen, Tornados und Erdbeben bis auf die Knochen geängstigt hatten. Die Drachen erschienen abermals, und heute liegen die meisten Konzerne in ihren Klauen. Magier entpuppten sich nicht mehr als Scharlatane, sondern als Machtzentren, die es mit Armeen aufnehmen konnten. Nun ist das Jahr 2057, man hat sich ein wenig an die Veränderungen gewöhnt, aber neue Phänomene sind unerklärlich und bedrohlich geworden. Nun liegt die Welt tatsächlich im Chaos, aber es gibt genügend New Age-Propheten, die behaupten, all dies wäre erst der Anfang.
Der Wind umspielte Juliettes Haare, als die beiden durch die leeren Straßen Seattles wanderten. Es war morgens um sechs, eine Zeit, zu der nur die schlimmsten noch nicht schliefen oder schon wieder wach waren.
„Hey, Große.“, wandte sich Wisdom mit ernstem Blick an das Mädchen, „Willst du mir nicht wenigstens jetzt erzählen, wo dein Romeo ist?“
Sie schaute ihn an und ihr Gesicht zeigte keinerlei Emotion.
„Wirken sie einfach eine Geistessonde und finden sie es heraus.“
„Ich bin kein Magier…“, meinte er beiläufig, woraufhin ihn das Mädchen mit ihren durchdringenden verchromten Augen anblickte, die ihm verrieten, dass sie eine Erklärung erwartete.
„Ich bin nur ein Ki-Adept.“
„Ich glaube ihnen nicht.“, meinte ihre trockene Stimme. „Es ist eine Sache, Informationen und extreme Sinneswahrnehmungen zu haben. Aber Vorhersagungen, wie gerade bei dem Auftraggeber, sind Magie.“
„Nö.“, erwiderte Wisdom grinsend. „Die Falten im Gesicht dieses Fettwanstes haben seinen Namen gerade so herausgeschrieen. Seine Aura hat das nur noch bestätigt.“
Juliette blieb stehen und schaute ihrem Partner in die Augen.
„Dann sagen sie mir jetzt meinen Namen.“
Wisdom grinste sie an und schloss dabei sein gelbes Auge, was seinem Gesicht eine bedrohliche Note gab.
„Das, meine vercyberte Freundin, wäre Magie. Wie soll ich etwas anhand deiner Gedanken erkennen, was du selbst längst vergessen hast?“
Er ging summend weiter, und nach einem Augenblick folgte sie ihm bedächtig.
„Es gibt keinen Romeo.“
Der Adept grinste nur.
„Natürlich gibt es einen Romeo, Süße. Ein Mädchen wie du? Eine Maschine wie du? Ach, meine Kleine, es gibt immer einen Romeo! Der Stahl hat deine Emotionen gezügelt, selbst ich bin nicht imstande, viel aus dir zu lesen. Aber glaube mir, es wird wieder einen Romeo geben.“
Sie wollte diese Worte glauben, aber die mechanische Logik ihrer Schaltkreise schloss jenen Fall aus.
„Dazu bedürfte es einem Wunder.“, meinte sie nur kalt.
„Zum Glück…“, lachte Wisdom in die Nacht, ohne sie anzuschauen, „…ist die Magie schon vor Jahren in diese Welt zurückgekehrt! Es wäre nicht das erste Wunder, nicht wahr?“
Zu gern hätte Juliette ihm Recht gegeben, aber sie schwieg.
Die Pyramide flammte in der Innenstadt Seattles wie ein Leuchtfeuer am Horizont. Der Aztec-Konzern war sehr auf Stil bedacht gewesen, als er den Bau hatte errichten lassen, und zudem auch sehr weise. Es galt als sicherer Selbstmord, sich dem Anwesen mit unlauteren Absichten zu nähern. Wisdom und Juliette waren noch ungefähr 30 Meter vom Besuchereingang entfernt, als sich der Adept auf seinen Hosenboden fallen ließ und die Augen aufriss.
„Was tun sie da?“, erkundigte sich seine Partnerin und versuchte, nicht die Aufmerksamkeit des Wachpersonals zu wecken.
„Blick in die leeren Gesichter dieser Leute.“, antwortete er und zeigte lächelnd mit einem Finger auf die Wachleute. Juliette fiel auf, dass seine Fingernägel ungefähr doppelt so lange wie die ihren waren.
„Sie haben keinerlei eigenen Willen, daher werden sie nicht weit genug gekommen sein, um zu wissen, wo der Engel gehalten wird.“
Juliette erkannte die Gesichtszüge der Männer überhaupt nur durch ihre technisch verstärkten Augen, und doch redete Wisdom von ihnen, als würden sie vor ihm auf dem Seziertisch liegen.
„Aber sie hören Gerüchte. Sie wissen, wo in der Pyramide sie nicht hindürfen. Ich höre ihren kleinen Smalltalk untereinander, ich spüre ihre ängstlichen Auren, wenn sie über geheime Experimente reden. Jeder Zweifel in ihren Gedanken schließt einen Ort aus, an dem wir nicht suchen müssen. Gib mir zwei Minuten und ich sage dir, wo wir unseren Messias finden können.“
„Bist du schnell?“, fragte Wisdom grinsend, nachdem er die Situation ungefähr eine Minuten und 13 Sekunden sondiert hatte. Juliette strich sich das weiße Haar aus dem Gesicht, ignorierte die Stoppuhr irgendwo in dem Kabelsalat ihres Kopfes und nickte.
„Man ist der Meinung, ich sei die Schnellste. Drei der Konzernleute sind gerade auf dem Weg zu uns.“
„Ich weiß, mein großes Cybermädchen!“, lachte er mit dem Rücken zur Pyramide, „Und ebenso wie du weiß auch ich, in wie vielen Sekundenbruchteilen sie den ersten Schuss auf uns abgeben werden.“
Seine Augen leuchteten vor freudiger Erwartung.
„Ich bin schnell, könnte aber nicht mit dir mithalten.“, meinte er, während sein Körper beiläufig einem Schuss auswich und dabei vor innerer, magischer Energie zu leuchten schien. Drei große Gestalten rannten nun auf das Duo zu.
„68. Stock, 187. Fenster von links. Der beste Eingang. Aber du musst mich tragen.“
Juliette nickte und legte den Mantel ab. Das erste Mal kam ihr ganzer Körper zum Vorschein. Er war zwar das, was man als äußerst gut proportioniert bezeichnen würde, allerdings waren ihre Glieder fast schon zu gut geformt. Wisdom roch das Titanium in ihren Knochen, den Chrom zwischen den Muskelsträngen und das magische Material Orichalkum, welches überall auf ihrer Haut in Formen von leichten Adern injiziert war.
„Es ist gut, mit jemandem zu arbeiten, für den ich nicht die Ritterin spielen muss.“, meinte sie, als der breite Griff ihres Schwertes auf dem Rücken erschien. Die Klinge war ca. einen Meter lang und 8 cm breit, ein uraltes Relikt aus Schottland, und zudem magischer Natur, wie Wisdom erkannte. Die Waffe leuchtete im Astralraum in einem matten Rot. Nun lächelte auch er.
„Ich fühle mich geehrt, Juliette von Seattle. Und jetzt lass uns diesen Run beginnen!“
Juliettes Füße schlugen an ihrem Ausgangspunkt einen kleinen Krater in den Boden, als sie losrannte. Wisdom hing auf ihrem Rücken, was ein lustiges Bild abgab, aber das schien die Cyberelfe nicht zu beeinflussen. Als der Kugelhagel der Sicherheits-Orks an ihrem vorherigen Standpunkt die Straße aus dem Fundament riss, erklomm das Mädchen gerade die Aztec-Pyramide, einhundert Meter hinter den Wachen. Sie hatten den Schemen, der sie passiert hatte, nicht einmal mehr wahrgenommen.
„Sie kommen.“, meinte der Magus Darke, scheinbar belustigt. Das Mädchen in dem riesigen Bottich vor ihm blickte misstrauisch zu dem Schwarzhaarigen herab. Vom Aussehen her hätte man sie auf ein Alter von 13 oder 14 Jahren geschätzt, aber in ihren Augen brannte eine Weisheit, die auf eine lange Lebenserfahrung zurückschließen ließ.
„Werden sie mich von dir befreien?“
Darke lächelte.
„Sofern deine Seele dann noch an Ort und Stelle ist, mein kleiner Engel, besteht diese Chance durchaus.“
„Warum willst du diesen Körper?“, fragte sie verwirrt und blickte an sich herab.
„Warum wollte wohl der Junge aus dem Märchen die goldene Gans für sich haben?“
„Weil er gierig war.“, meinte sie abfällig.
Darke ging nachdenklich einige Schritte und blieb dann doch wieder stehen, um sich noch einmal umzudrehen.
„Was, meinst du, hätte er getan, wenn man ihm die Möglichkeit gegeben hätte, zu einer goldenen Gans zu werden, die sich ihre Wünsche selbst erfüllen kann?“
Angst zeigte sich in ihren Augen und sie senkte den Kopf.
„Gegen sie war der Junge in dem Grimm-Märchen ein Heiliger.“, murmelte sie abfällig, obwohl das Gespräch nur in den Köpfen der beiden ablief.
„Mag sein.“, antwortete Darke lächelnd, „Aber du bist ja auch keine Gans. Und ich lege keinen Wert darauf, ein Heiliger zu sein. Es gibt Leute, die der Meinung sind, ich sei im tiefsten Abyss geboren.“
Das Mädchen wollte diese Möglichkeit nicht vollkommen ausschließen.
Die Panzerglasscheibe in ungefähr 200 Meter Höhe zerbarst unter einem leichten Druck von Juliettes Finger und die Glasscherben verloren sich weiter draußen im Herbstwind. Wisdom rollte sich von ihrem Rücken und ließ seine zu einer einzigen Faust verbundenen Finger wie einen Hammer auf den Wachtroll unter dem Fenster herabfallen. Die riesenhafte Statur ging bewusstlos zu Boden und noch bevor der Troll den Flur mithilfe der Schwerkraft erreichte, kletterte der Seher an ihm herab und sondierte die Lage. Sie waren in einem leeren Bürokomplex der Pyramide, einige synthetische Topfpflanzen schmückten den Raum, aber sonst war niemand zu sehen.
„Ist es nicht ungewöhnlich, in dieser Höhe nach einem geheim gehaltenen Projekt zu suchen?“, fragte Juliette, und ihr Chromkörper landete geschmeidig auf dem Kunststoffboden.
„Durchaus.“, meinte Wisdom, „Die Wachleute waren ebenfalls darüber verwundert, und ich fürchte, aus diesem Grund hat das andere Team versagt. Beeilen wir uns, du warst zwar schnell genug, um nicht von den Sensoren der Pyramidenaußenseite wahrgenommen zu werden, aber die zerstörte Scheibe selbst ist vor einer Kamera nicht gut zu verstecken. In zwei Minuten und 14 Sekunden wird der Alarm losbrechen.“
Juliette nickte und begab sich zu der Tür.
„In zwei Minuten haben wir diese Pyramide längst verlassen.“
„Nein.“, stellte Wisdom fest, als sei es eine Tatsache, „Das wäre ja ein Kinderspiel gewesen.“
Juliette lächelte und schleuderte die verschlossene Tür mit einem Handrückenschlag meterweit durch den Flur dahinter.
Gruumsh zählte die Pickel in seinem Gesicht und schaute dann resigniert in das Waschbecken hinunter. Der Anzug passte ihm nicht so recht, er war selbst für einen Ork missgebildet. Leise Tränen liefen seine Wangen herab und er hielt sich die Hände vors Gesicht. Er verfluchte die Welt, die Goblinisierung, die ihn in das verwandelt hatte, was er war und vor allem seine Eltern. Sie hatten immer einen schlechten Humor gehabt, aber ihr Orkkind „Gruumsh“ zu nennen, war nun wirklich ein viel zu schlechter Scherz. Das Leben war schlecht, als Sicherheitsmann bei Aztechnology waren die Aufstiegschance auch stark begrenzt und irgendwie hatte er auch bei den Frauen nie Glück gehabt. Kein Wunder. Wer wollte schon einen 2-Meter-Ork mit viel zu groß geratenen Zähnen? Er beschloss, seinem elenden Dasein ein Ende zu setzen und nahm vorsichtig und mit zitternder Hand seine Dienstwaffe aus dem Halfter. Eine Toilette war zwar nicht gerade ein besonders dramatischer Ort für einen Selbstmord, aber sie würde ihren Dienst erfüllen. Zögernd bewegte er die Pistole zu seinem Kopf.
„Bitte, ihr Götter, falls es euch gibt, gebt mir ein Zeichen, sonst wird es zu spät sein.“, dachte er, aber nichts geschah.
Als er gerade mit dem Leben abschloss und sich den Lauf der Beretta unters Kinn drückte, hörte er ein lautes Krachen, und als er sich umdrehte, erkannte er verwirrt, wie eine Elfe durch die Wand links neben ihm brach und ihm die Waffe aus der Hand schlug. Hinter ihr folgte ein Mensch mit seltsamen Tätowierungen, der ihn mitleidig anschaute.
„Lass den Mist.“, meinte der Mensch lächelnd, „Niemals die Hoffnung verlieren!“, lachte er.
Er wies mit der Hand auf die Wand hinter sich, woraufhin die Elfe jene mit einem Tritt pulverisierte. Dann rannte das seltsame Gespann weiter, durch die Wand rechts neben ihm, ohne auch nur daran zu denken, eine Tür zu verwenden. Kopfschüttelnd hob Gruumsh die Waffe wieder auf. Dann stoppte er. Auf der Seite der Toilette, die das Elfenmädchen soeben zerstört hatte, musste offensichtlich die Damentoilette gewesen sein, denn eine Orkfrau schaute ihn entsetzt an. Gruumsh lächelte verschmitzt. Eine Reaktion, die er sich angewöhnt hatte, wenn man ihm mit Misstrauen begegnete, obwohl diese Mimik wahrscheinlich besonders nachteilhaft war, weil seine viel zu großen Hauer so noch mehr zum Vorschein kamen. Dann erkannte er, dass auch die Orkfrau eine Pistole in der Hand hatte. Und sie lächelte verschmitzt. Ihre Zähne waren zwar nicht viel kleiner als seine eigenen, aber sonst war sie für Orkverhältnisse gar nicht mal so besonders hässlich. Gruumsh ließ die Beretta fallen und dachte an die Worte des seltsam tätowierten Menschen.
„Niemals die Hoffnung verlieren!“
Gruumsh beschloss, sich diesem Rat anzunehmen. Er lächelte und bewegte sich zu der sympathischen Orkfrau, um sie zu trösten.
Juliette und Wisdom schnellten durch die weiß tapezierten Gänge der Pyramide, sämtliche Sicherheitskameras und andere Vorrichtungen ignorierend.
“Da vorn kommt ein langer Korridor.“, meinte Wisdom und zeigte mit dem Finger auf eine Abzweigung einige Meter vor den Beiden. „Wir müssen uns beeilen, die Sicherheit wird bald aktiv werden.“
Einige Räume weiter rammte Juliette einem verwirrten Mann ihr Schwert in den Rücken, während der Adept seinem Ebenbild auf der anderen Seite der Tür den Ellebogen vors Kinn donnerte. Plötzlich erstarrte Wisdom und wies die Elfe mit einer leichten, schnellen Handbewegung an, den Raum zu verlassen. Sie zögerte keine Sekunde, und als sie die Tür hinter sich schloss, spürte sie plötzlich die unnatürliche Hitze der Türklinke. Als Juliette die Pforte auf ein Wort des Adepten wieder öffnete, trat der Geruch von verbranntem Kunststoff in ihre Nase. Der Boden, die Decke, und ebenso die Wände des Raumes waren vollständig schwarz gerußt, ein Häufchen Asche war das einzige Überbleibsel eines Schreibtisches, während von den Leichen der Wachmänner nur noch verkohlte Skelette übrig geblieben waren. Wisdoms Körper war vollkommen unversehrt, aber überall stieg Dampf von seiner Haut auf, als würde er glühen. Seine Hand war gen Himmel gestreckt, und erst mithilfe ihrer Infarot-Augen erkannte die verchromte Elfe den Grund dafür. In der Hand des Adepten zappelte ein unsichtbarer Magier, der wohl auch für dieses Inferno zuständig war. In seinen Augen lag Panik, und er schleuderte einen Zauber nach dem anderen auf Wisdom, doch die Magie prallte von dem Menschen ab wie Regen von einer Betonwand. Juliette dachte das erste Mal darüber nach, wie der Adept so unglaublich stark geworden war. Er war nicht nur besser als ein Klotz am Bein, langsam zweifelte die Elfe sogar daran, dass sie ihn selbst im Kampf übertrumpfen könnte.
„Der ist aber widerstandsfähig!“, meinte Wisdom leichtfertig, während sein goldenes Auge das Gesicht des Zwerges ebenso wenig verließ wie das rote. Ein Fremder hätte den Eindruck gehabt, der Adept hätte den Zwerg verspeisen wollen und nun nur darüber nachgedacht, an welcher Stelle er wohl zuerst zubeißen sollte. Schließlich klappte der in Rage geratene Kleinwüchsige dann doch zusammen, die übertriebene Magie hatte ihm das Bewusstsein geraubt.
„Ich weiß nun genau, wo der Engel ist.“, meinte Wisdom und ließ den schlaffen Körper fallen.
Juliette nickte und ging auf die Tür zu. Als sie bemerkte, dass Wisdom ihr nicht folgte, blieb sie stehen und schaute zu dem Adepten. Sein Gesicht zeigte eine seltsame Emotion, irgendwo zwischen Interesse, Angst, Selbstsicherheit und absolutem Wahnsinn.
„Ein Mann namens Darke ist bei ihm. Schon mal was über ihn gehört?“
Juliette hatte etwas über ihn gehört. Mehr als ihr lieb war.
„Nur Gerüchte.“
Wisdom lachte laut und griff, unsichtbar für ungeübte Augen, mit einem schnellen Sprung einen Geist aus der Luft. Juliette sah den Watcher zwar nicht, hatte aber genügend Erfahrung mit diesen magischen Kameras, um sich sicher zu sein, dass sie zwar nicht direkt gefährlich waren, wohl aber äußerst gefährliche Magier rufen konnten.
„Der hat dem Zwerg bescheid gesagt.“, meinte Wisdom mit spielerischer Überlegung in den Zügen, und die Elfe beobachtete, wie sich die Muskeln seines Armes anspannten, um das Astralwesen nicht entkommen zu lassen. Dann rammte der Adept sein Gebiss in die Luft über seinem Arm, stieß aber offensichtlich auf Widerstand. Er spuckte etwas Unsichtbares in den Raum, und seine Muskeln entspannten sich.
„Eigentlich kann ich den Geschmack nicht ab, aber es ist wie eine Droge!“, lachte er und verließ den Raum. „Beeilen wir uns. Es bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Das Mädchen beobachtete, wie Darke auf die Mitte des großen Podestes stieg, während die vier Magier die Ecken des Vierecks einnahmen. Die Anlage war mit Kerzenwachs und Kreide bearbeitet worden, und jeder der Zauberer hielt nun einen gebogenen Opferdolch in der Hand. Der Erzmagier mit dem schwarzen Haar lächelte das Mädchen in der Glassäule an.
„Hast du Angst, meine Kleine?“
„Nein.“, meinte sie sicher, „Nicht vor dir. Nur davor, dass sie nicht mehr rechtzeitig ankommt.“
Darkes Lächeln verschwand.
„Beeilt euch.“, meinte er zu den glatzköpfigen Akolythen unter sich, „Lasst uns beginnen.“
Diese begannen daraufhin sofort, mit alten aztekischen Stimmen ein Requiem zu singen. Das Mädchen in dem Bottich riss die Hände zu ihrem Kopf, die Noten schmerzten in ihrem Hirn. Nun lächelte Darke wieder.
„Bis jetzt hat noch niemand meiner Blutmagie widerstanden. Sehen wir, ob du diese Kette durchbrechen kannst.“
Das Mädchen hob unter Schmerzen ihren Kopf, und ihre goldenen Haare wirbelten wild in der grünen Flüssigkeit umher.
„Ich muss… nicht widerstehen….“, meinte sie mit Anstrengung im Gesicht, „Ich muss nur… durchhalten.“, ergänzte sie, als die vier aztekischen Magier die Dolche in ihr eigenes Herz rammten.
Sie schrie.
Darke grinste bösartig.
Und aus dem Rücken des Kindes wuchsen zwei winzige Schwingen hervor.
Die Wand hinter den Magiern zerbarst und Juliettes Schemen schnellte hervor, mit dem riesigen Schwert in der Rückhand.
Darke begann, einen Zauber zu wirken, als hätte er den Überfall vorhergesehen. Das Blutopfer seiner Akolythen wirkte wie ein gewaltiger Fokus, die rote Flüssigkeit wirbelte vom Boden herauf in dünnen Bahnen um den Körper des Magus. Juliettes Klinge hatte den Tod der Akolythen beschleunigt, und als sie sich gerade dem Erzmagier zuwenden wollte, sah sie, wie dieser mit den Fingern auf sie zeigte. Selbst ihre Schaltkreise spürten die Magie, als der Zauber losbrach. In diesem Moment rollte sich Wisdom über Juliettes Schulter, und die Wucht des Zaubers traf seinen Körper. Der junge Mann wurde zurückgeschleudert und schrie, wobei es auch ein Lachen hätte sein können.
Darkes Augen verfinsterte sich, als er erkannte, dass der Adept seinem Zauber widerstanden hatte. Wisdom zitterte beim Aufstehen noch immer, aber auf seinem Gesicht zeigte sich ein Lächeln. Als er aufsah, erkannte er Darkes Hand direkt an seiner Stirn, die tiefschwarzen Augen des Magiers glitzerten mordlustig.
„Du bist an den Falschen geraten.“
Das Mädchen in dem Bottich litt schreckliche Schmerzen, als sie spürte, wie sich ihre Seele vom Körper löste. Juliette war von der finsteren Magie wie gelähmt gewesen, erkannte aber die Gefahr für Wisdom. Die Zeit würde nicht für eine koordinierte Aktion ausreichen. Verzweifelt warf sie sich gegen den Körper ihres Partners und schleuderte damit sowohl ihn als auch Darke nach hinten. Der Magier verlor seinen Zauber und Juliette fiel ein Stein vom Herzen, die stärkste Emotion seit sehr langer Zeit. Dann fiel ihr auf, dass die Blutsäule, die Darke beschworen hatte, nun um sie kreiste, sie hatte sich ohne nachzudenken hinein geworfen. Im nächsten Moment verlor sie die Kontrolle über ihren Körper und das Gesicht des aztekischen Magiers verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Das Mädchen mit den Engelsflügeln lächelte, als ihre Seele den Körper verließ.
Ein blutrotes Licht überflutete den Raum.
Als Juliette ihre Augen öffnete, schnappte sie zuerst nach Luft und versuchte dann krampfhaft, in dem blendend hellen Raum etwas zu erkennen. Ihre Infarotsicht schien nicht zu funktionieren, aber Panik überkam sie erst, als sie realisierte, dass auch der Blitzkompensator seine Dienste eingestellt hatte. Als sie aufstehen wollte, kam ihr dieses leichte Unterfangen wie ein unmögliches Ziel vor. Das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, musste sie für eine gewöhnliche Bewegung Kraft aufwenden. Panik. Sie hatte Panik verspürt. Ein Netzwerk aus Drüsen, Kabeln und Programmen hätte dies verhindern müssen. Dann sah sie ihren Körper, wie er einige Meter neben ihr reglos auf dem Boden lag, und die Erkenntnis dämmerte in ihrem Kopf.
Darke erhob sich. Sein Kopf brodelte vor Wut und die Luft um ihn wurde unwillkürlich von seiner magischen Energie ergriffen. Die schwarzen Locken des Magus erhoben sich wie bei einer Katze, als er den Staub von seiner Robe abstreifte und sich auf den am Boden liegenden Wisdom zu bewegte, wie eine Hyäne um das Aas streifte. Der Adept öffnete die Augen und rang sich ein Lächeln ab.
„Was zur Hölle war… das?“
„Das spielt für dich keine Rolle mehr…“, grunzte der Magier mit bösartigem Blick, „Find dich damit ab, dass ihr dafür verantwortlich seid, und ich dich nun dafür zu Tode quälen werde.“
Wisdom lächelte, als er das Höllenfeuer erkannte, welches Darke im Astralraum wob. Hinter dem Magier erhob sich die Statur des Engels. Es war ein junges Mädchen, und ihre Schwingen waren gerade einmal einen Meter lang, was die Erhabenheit aber kaum schmälerte. Dann riss Wisdom seine Augen auf. Er erkannte etwas im Gesicht des Mädchens, dass er seit einigen Stunden vergeblich gesucht hatte.
„Sarah.“, meinte er mit einem Lächeln, und Darke schaute ihn verwirrt an.
„Ihr richtiger Name ist Sarah. Und ich kann noch nicht sterben. Ich muss noch einer Juliette helfen, ihren Romeo zu finden.“
Der Adept konzentrierte seine Magie auf die zahlreichen magischen Wunden, er ignorierte die Schmerzen und überwand so auch die Tatsache, dass sich sein Körper physisch kaum mehr bewegen konnte. Ein Sprung brachte ihn über Darkes Kopf hinweg, und der Magier folgte ihm, und mit seinen Händen kamen auch die Gesten zur Vollendung des Zaubers. Wisdom ergriff das Engelmädchen und schleuderte sie aus dem Fenster hinaus.
„Entschuldigung…“, meinte er mit letzter Kraft zu Darke, „Ich hatte heute morgen eine Eingebung. Sie war vollkommen richtig.“
Der Magier schrie und das Höllenfeuer hüllte den tätowierten Körper des Sehers komplett ein. Wisdom spürte, wie der Zauber seine Resistenz durchdrang und roch kurz darauf verbranntes Fleisch, als er sich direkt hinter dem Engel von der Pyramide fallen ließ.
Die Nacht war kühl und ruhig, die Sterne schienen auf die Erde herab, die Schlote der riesigen Konzernfabriken schienen an jenem Tag zu schweigen. Die beiden Körper glitten beinahe widerstandslos über die blau-goldene Außenwand des Aztec-Baus, der Boden war nur eine weite Illusion, entfernt und unwirklich. Die Flammen, die Wisdom umhüllt hatten, gaben ihm den Anschein eines Kometen, der die Erde vernichten wollte. Das Engelmädchen hatte die Augen geöffnet und lächelte den Adepten an.
„Danke… mein Freund…“, meinte sie, und obwohl der Fall sämtliche Geräusche hätte übertönen müssen, verstand der Seher genau, was sie ihm mitteilen wollte. Er lächelte, als die Flammen sein Gesicht verbrannten.
„Kein Problem… Sarah. Ich habe es dir gesagt…“
Dann verstummte er und Sarah umschloss den brennenden Körper. Die Wirkung des Höllenfeuers ließ langsam nach, aber sie war fatal gewesen.
„Ja… Wisdom… du hast es mir gesagt… Es wäre nicht…“
Ihr Blick wanderte hinauf zu den Sternen.
„…das erste Wunder.“
Dann breitete sie die Schwingen aus und sprang ab. Der Engel verschwand in der Kulisse des nächtlichen Seattles. Wisdoms verbrannter Körper lieferte dem Verstand keinerlei Empfindungen mehr, aber er war glücklich, als er sich mit letzter Kraft um Sarahs Taille klammerte.
„Ich sterbe nicht. Wir finden deinen Romeo…“
Dann übermannte ihn die Bewusstlosigkeit.
Gruumsh verließ die Aztec-Pyramide an diesem Tag mit guter Laune. Er hatte eine Verabredung. Das hatte einen schönen klang: Gruumsh, der 2-Meter-Ork mit viel zu großen Hauern, hatte eine Verabredung. Er summte auf dem Heimweg eine fröhliche Melodie und wirbelte seine Aktentasche hin und her.