Dr. Alzheim
16.10.2005, 15:20
Der Karren hatte sich in Bewegung gesetzt. Ein Soldat der Stadtwache lenkte den Karren, der von einem Pferd gezogen wurde. Ich selbst stand hinten, auf der Ladefläche des Karrens. Die Hände hatte man mir auf den Rücken gefesselt, an den Ellbogen links und rechts mich mit Seilen an den seitlichen Gattern festgeschnürt, damit man mich dem Volk als jene, der hingerichtet werden sollte, auch gut präsentieren konnte. Und es brachte den wohl so gewollten Erfolg.
Das Volk, das den Weg des Karrens zum Schafott säumte, brüllte und schrie für mich größtenteils unverständliches. Sie warfen mit faulem Gemüse - Tomaten, Salat, Kohl; all dies wurde auf mich geworfen und traf mich an Kopf, Schultern, Oberkörper. Immer wieder die Schreie des Volkes, von denen ich immer weniger verstehen konnte. Sie schrien zu laut.
Der Karren erreichte das Schafott, wo man mich vom Karren löste und die Stufen hinauf zum Henker führte, der mit einem Schleifstein seine Axt schärfte. Ein Gesandter des Königshauses verlas einige Worte, woraufhin man mich zu knien zwang und meinen Kopf auf eine Art Stumpf legte. Ich schloss die Augen und dachte ob meines Verbrechens, weshalb man mich zum Tode verurteilte. Mein Verbrechen... ich war ich.
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Ich war seit drei Jahren in diesem Internat. Hier sollte stets Leistungsdruck und Kontrolle durch das Aufsichtspersonal herrschen, doch hatte ich einen für mich erreichbaren Ort gefunden, an dem ich ich sein konnte. Auch heute hatten es meine sogenannten Klassenkameradinnen wieder getan. Mein Schrank war durchwühlt, meine Sachen mit Farbe beschmiert, meine Hefte zerrissen und mein Bett mit Erbrochenem versaut. Seit wann dies so war?
In dieses Internat war ich nicht wegen meiner Intelligenz oder meiner guten Noten gekommen, sondern deshalb, weil meine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren und ich keine weiteren Verwandten hatte, die sich hätten um mich kümmern können. Aber mein Wissen war es wohl, weshalb man mich derart behandelte. Wobei behandeln wohl für Schlägereien der falsche Ausdruck war. Gerade heute während der großen Pause hatten sie mich wieder zu acht zusammengeschlagen und auf mich eingetreten, so als hätte ich es so gewollt.
Aber dafür hatte ich meinen geheimen Ort, der eigentlich so geheim nicht war: Das Dach des Internatsgebäudes, über dem 12. Stock. Hier stand ich in meiner Schuluniform immer, um einmal am Tag die Ruhe und den Frieden genießen zu können, den dieser Ort bot. Unebene Flächen mit Teer gedichteten Daches, vereinzelte metallene Platten, der Kamin und am Boden liegende, dicke Drähte des Blitzableiters machten den Hauptteil des Bildes aus, welches wohl an Trostlosigkeit nicht zu übertreffen war. Nur... nur diesmal wollte ich an einen anderen Ort - zu meinen Eltern. Nur noch ein Schritt trennte mich davon, den Weg zu meinen Eltern entlang zu schreiten. Nur knapp 30 Meter lang war er...
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Wenn ich an meine Schulzeit zurück denke, kommt mir nicht all zu viel positives in den Sinn. Ich hatte das Glück – oder Pech – zu den von der Leistung her besseren Schülern zu gehören. Gebracht hat es mir recht viel: Gute Noten, eine Auszeichnung vom Bürgermeister... und Schläge. Schläge meiner Mitschüler und jenen aus Parallelklassen. Es schien fast eine Art Gruppensport zu sein, Außenseiter zusammenzuschlagen, dachten sie vielleicht. Geholfen hat mir zu meiner Schulzeit niemand. Weder sogenannte „Freunde“ – die wohl nur hinter meinem Schulwissen her waren, was Hausaufgaben betraf – noch die Pausenaufsichten, die immer in einer Ecke standen und eine Zigarette nach der anderen rauchten.
Was solche Erfahrungen aus einem Menschen machen können, ließt man immer wieder in der Zeitung. Hier ein Jugendlicher, der sich von einer Brücke stürzte, dort jemand, der sich den ganzen Tag in seinem Zimmer am Computer aufhält, hier ein Mädchen, das sich den Finger in den Hals steckt, nachdem es den halben Kühlschrank leergegessen hat, dort eines, das sich mit Rasierklingen die Arme ritzt... alles immer wieder Zeichen dafür, wie Menschen andere Menschen aus reinem Vergnügen demütigen, peinigen und fertig machen. So auch meine damalige Schulklasse. Lange Zeit hatte ich mir allerlei Gedanken gemacht. Gedanken, mein Leben zu beenden, mich beim Baden zu ertränken, aus dem Fenster zu springen, mich mit einem Küchenmesser zu erstechen und dergleichen. Auch hatte ich mich schier eine Ewigkeit in meinem Zimmer aufgehalten und lediglich dann Kontakt mit Menschen gehabt, wenn ich einkaufen war. Bis... ja bis ich den Führerschein machte und mir einen schwarzen Kombi kaufte. Auch hatte ich mir im Internet allerlei schwarze Klamotten bestellt und sogar ne Sonnenbrille, obwohl ich vorher nie eine getragen hatte. War unnötig gewesen.
Nun steige ich aus meinem Wagen aus. Die Fahrt war vorüber und ich stand vor einer Grillhütte, nicht all zu weit vor meinem Wohnort gelegen. Ich zog mir noch meinen langen, schwarzen Mantel über, es war recht kalt geworden diese Nacht. Der Atem gefror einem kurz nachdem er einem aus dem Munde trat, wenn man atmete oder Worte sprach. Ich musste leicht grinsen, hatte ich mir bislang doch nie über derartige Nebensächlichkeiten Gedanken gemacht. Ich griff noch nach dem kleinem Päckchen für den Geschenkesack. Dies war etwas, das sie sich für dieses Treffen ausgedacht hatten – der Stimmung wegen. Das Päckchen in der Hand haltend schloss ich meinen Wagen ab, ließ den Schlüssel in meine Hosentasche gleiten und machte mich auf, die Grillhütte zu betreten. Ich öffnete die hölzerne Tür und blickte in den Raum, in dessen Zentrum ein langer, gedeckter Tisch stand. An der linken Wand war bereits das Buffet angerichtet worden, vereinzelt tranken sie schon Bier und Wein – kurzum: Alle miteinander waren sie in bester Feierlaune. Man grüßte mich, bot mit einen Platz an und auch die Abnahme meines Mantels. Ich legte ihn selbst ab am Kleiderhaken und behielt das Päckchen in der linken. An einem freiem Platz am Kopfende nahm ich Platz und überblickte die Runde: 23 Leute saßen außer mir an der Tafel. Gut, einige freie Stühle hatte es, doch das fehlen der Gläser machte mir klar, dass alle Plätze nun besetzt und die Feierlichkeit ihren Anfang nehmen würde. Popmusik hatte man zur besseren Stimmung auflegt.
Ich kam mir komisch vor, als ich als erster mich am Buffet bediente. Das Päckchen behielt ich immer in meiner Nähe, stets über meine linke Schulter blickend, ob nicht jemand kam und mich ansprechen würde. Wenn dem so sein würde, würde man sich sicherlich einen Spaß mit mir erlauben. Auf der anderen Seite hatte ich bislang meinen Namen nicht genannt. Hatte ja auch keiner gefragt. Und genau das kam mir mehr als recht. Das Buffet verließ ich nach einer Weile mit einem Teller voll Käse, Schinken und Hackbällchen. Ich aß genüsslich, als auch die anderen merkten, dass es ein Buffet hatte, das es zu vertilgen galt. Innerlich konnte ich mir ein Kichern nicht verkneifen, als sie sich schier um das Buffet zu streiten begannen. Besser kam es jedoch später, als sie alle am Tisch saßen und sich am erbeutetem Essen labten wie es Fliegen an einem Hundehaufen im Spätsommer taten. Als der erste von ihnen sich über leichte Übelkeit zu beklagen begann. Einige machten ihre Scherze, bis schließlich einer nach dem anderem über Magenkrämpfe klagte. Angstzustände, Atemnot, starke Hustenanfälle und ein Drücken in ihren Hälsen quälte sie alle. Viele fielen von ihren Stühlen zu Boden, versuchten sich krampfhaft wieder aufzurichten, während andere versuchten, aufzustehen und im vorderem Bereich der Hütte das Telefon zu erreichen. Andere versuchten es mit ihren Mobiltelefonen, doch waren ihre Hände zu zittrig, um es ruhig zu halten, geschweige denn etwas zu erkennen. Schließlich sollte es durch Sauerstoffmangel zu Sehstörungen kommen. Sie haben alles verschwommen gesehen. Den Tisch, das darauf befindliche Porzellan, die Schrift auf ihren Mobiltelefonen, die anderen Gäste dieses Treffens, schlicht und ergreifend alles. Das Finale gestaltete sich in der Form, dass sie allesamt mehr oder weniger regungslos am Boden oder auf ihren Stühlen sitzend vornüber gelehnt dasaßen und nur noch in die Richtung schauen konnten, die für sie ohne Bewegung ersichtlich war. Hören würden sie alles, sehen jedoch nur verschwommen. Nur eine knappe Viertelstunde würde dieser Zustand anhalten, ehe ihr Herz langsamer und langsamer schlagen würde, ihnen das Atmen noch schwerer fallen und letztlich ganz unmöglich für sie werden würde.
Und in diesem Moment stand ich auf. Mein Päckchen hatte ich beim Buffet stehen lassen. Es war geöffnet worden und beinhaltete nun noch die Reste der Glückskekse, die ich eigenhändig angefertigt hatte. Ja, alle hatten sie über die Kekse gelacht und die Sprüche, die ihnen ein nahe stehendes Unglück prophezeihten. Wer hätte gedacht, dass sich derart einfach meine Rache umsetzen lassen würde? Es war lediglich ein bei chefkoch.de gefundenes Rezept nebst Zutaten und etwas nach Mandeln riechendes Gift erforderlich. Und damit hatte ich es ihnen angenehmer gemacht als sie es für mich zu meiner Schulzeit taten. Aber halt: Ein letzter Keks war noch übrig geblieben. Ein einzelner, letzter Keks, umgeben von Papierschnipseln und Krümeln der anderen Kekse lag noch vollkommen verloren da, darauf wartend, verzehrt zu werden. Es wäre nur gerecht, den Keks von seinem trostlosem Dasein zu erlösen.
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Die Welt ist voller Fragen, die die Menschheit auf Ewig beschäftigen. Fragen über die Art und Weise, wie sich praktisch aus dem Nichts das Universum bildete und darin die Erde, Fragen darüber, wie sich auf der Erde wiederum aus dem Nichts heraus Leben bis zum heutigem Stand entwickeln konnte und auch Fragen über den Sinn unseres Daseins. Die letzte Frage konnte bislang nicht beantwortet werden, obgleich alles doch so naheliegend ist. Zumindest nach Meinung von vielen Wissenschaftlern, Forschern und Entdeckern. Viele Aussagen rationalisieren das Leben als einen Prozess des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung, nur um die vorangegangenen Prozesse immer und immer wieder zu wiederholen. Mit dem Urknall soll alles begonnen haben, weiter ging es, als sich mehrere Meteoriten trafen und die Erde bildeten, die von einem Gasgemisch umgeben war und im Innern die enorme Hitze des Aufpralls birgt. Alles ist auf das Finden, den Kontakt und die Fortpflanzung ausgelegt. Selbst bei einem Schriftsteller, der mit einem Stift auf Papier schreibt, führt eine Fortpflanzung herbei. Auch Bauarbeiter vollbringen dies, indem sie Steine zusammen bringen und daraus Häuser errichten. Oder auch Konditoren, die aus zahlreichen Zutaten wahre Köstlichkeiten entstehen lassen. Selbst jene, die nichts tun, führen eine Fortpflanzung herbei, da es in irgendeiner Form Unterlagen über sie gibt, die stetig weitergeführt werden.
Stellt dieser Prozess des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung wirklich den Sinn unseres Lebens dar? Sind wir lediglich Teil einer gewaltigen Brutmaschinerie, die in sich selbst ihrem Arbeitsprozess der Vervielfältigung und Fortpflanzung folgt? Diese Fragen hatte ich mir lange Jahre gestellt, eine Antwort jedoch blieb mir verwehrt. Immer wenn ich dachte, eine andere Antwort gefunden zu haben, kehrte ich wieder zur ursprünglichen Thematik des Prozesses des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung zurück. Alles schien hier einzumünden. Und was nichts mit der Thematik zu tun hatte, stellte sich in meinen Augen lediglich als Dekoration des irdischen Seins heraus, ohne jegliche Form gravierender Bedeutung oder Einflussnahme auf den Prozess des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung. Ist der Sinn unseres Lebens lediglich der Form, dass wir uns nur finden, dann Kontakt haben und uns fortpflanzen, nur um am Ende zu sterben und dass unsere Nachfahren dieses Schema bis zur Unendlichkeit wiederholen? Und ist es vorherbestimmt, dass jene, die den Prozess nicht folgen, von der Gesellschaft isoliert werden und den Tod finden? Letztlich noch vergessen werden? Dass sich niemand mehr an sie erinnern wird? Ist es wichtig, dass sich die Nachwelt an einen Menschen erinnert, der zu einem bestimmtem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte lebte oder ist das, was allgemeinhin als Vermächtnis eines Menschen bezeichnet wird, lediglich belanglos im Rahmen des Prozesses des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung?
Ich wollte diesem Prozess nicht folgen. Ich wollte niemanden finden, doch man zwang mich dazu. Ich wollte keinerlei Kontakt, doch man zwang mich dazu. Ich wollte den Prozess der Fortpflanzung nicht erfüllen, doch man zwang mich dazu. Man zwang mich an einem Punkt meines Lebens, dem ewigem Prozess des Lebens zu folgen und entbehrte ihm somit die Bedeutung als Sinn des Lebens. Warum also sollte ich mein Dasein auf dieser Welt weiter führen, wenn man mein Leben seinem Sinn beraubt hatte?
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Geschrieben habe ich die ersten beiden Anfang September, die letzten beiden im Krankenhaus, das ich in den letzten drei Septemberwochen bewohnen durfte. DJ n meinte, ich sollte sie hier vorstellen, die vier Häppchen. Wie findet ihr sie?
Das Volk, das den Weg des Karrens zum Schafott säumte, brüllte und schrie für mich größtenteils unverständliches. Sie warfen mit faulem Gemüse - Tomaten, Salat, Kohl; all dies wurde auf mich geworfen und traf mich an Kopf, Schultern, Oberkörper. Immer wieder die Schreie des Volkes, von denen ich immer weniger verstehen konnte. Sie schrien zu laut.
Der Karren erreichte das Schafott, wo man mich vom Karren löste und die Stufen hinauf zum Henker führte, der mit einem Schleifstein seine Axt schärfte. Ein Gesandter des Königshauses verlas einige Worte, woraufhin man mich zu knien zwang und meinen Kopf auf eine Art Stumpf legte. Ich schloss die Augen und dachte ob meines Verbrechens, weshalb man mich zum Tode verurteilte. Mein Verbrechen... ich war ich.
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Ich war seit drei Jahren in diesem Internat. Hier sollte stets Leistungsdruck und Kontrolle durch das Aufsichtspersonal herrschen, doch hatte ich einen für mich erreichbaren Ort gefunden, an dem ich ich sein konnte. Auch heute hatten es meine sogenannten Klassenkameradinnen wieder getan. Mein Schrank war durchwühlt, meine Sachen mit Farbe beschmiert, meine Hefte zerrissen und mein Bett mit Erbrochenem versaut. Seit wann dies so war?
In dieses Internat war ich nicht wegen meiner Intelligenz oder meiner guten Noten gekommen, sondern deshalb, weil meine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren und ich keine weiteren Verwandten hatte, die sich hätten um mich kümmern können. Aber mein Wissen war es wohl, weshalb man mich derart behandelte. Wobei behandeln wohl für Schlägereien der falsche Ausdruck war. Gerade heute während der großen Pause hatten sie mich wieder zu acht zusammengeschlagen und auf mich eingetreten, so als hätte ich es so gewollt.
Aber dafür hatte ich meinen geheimen Ort, der eigentlich so geheim nicht war: Das Dach des Internatsgebäudes, über dem 12. Stock. Hier stand ich in meiner Schuluniform immer, um einmal am Tag die Ruhe und den Frieden genießen zu können, den dieser Ort bot. Unebene Flächen mit Teer gedichteten Daches, vereinzelte metallene Platten, der Kamin und am Boden liegende, dicke Drähte des Blitzableiters machten den Hauptteil des Bildes aus, welches wohl an Trostlosigkeit nicht zu übertreffen war. Nur... nur diesmal wollte ich an einen anderen Ort - zu meinen Eltern. Nur noch ein Schritt trennte mich davon, den Weg zu meinen Eltern entlang zu schreiten. Nur knapp 30 Meter lang war er...
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Wenn ich an meine Schulzeit zurück denke, kommt mir nicht all zu viel positives in den Sinn. Ich hatte das Glück – oder Pech – zu den von der Leistung her besseren Schülern zu gehören. Gebracht hat es mir recht viel: Gute Noten, eine Auszeichnung vom Bürgermeister... und Schläge. Schläge meiner Mitschüler und jenen aus Parallelklassen. Es schien fast eine Art Gruppensport zu sein, Außenseiter zusammenzuschlagen, dachten sie vielleicht. Geholfen hat mir zu meiner Schulzeit niemand. Weder sogenannte „Freunde“ – die wohl nur hinter meinem Schulwissen her waren, was Hausaufgaben betraf – noch die Pausenaufsichten, die immer in einer Ecke standen und eine Zigarette nach der anderen rauchten.
Was solche Erfahrungen aus einem Menschen machen können, ließt man immer wieder in der Zeitung. Hier ein Jugendlicher, der sich von einer Brücke stürzte, dort jemand, der sich den ganzen Tag in seinem Zimmer am Computer aufhält, hier ein Mädchen, das sich den Finger in den Hals steckt, nachdem es den halben Kühlschrank leergegessen hat, dort eines, das sich mit Rasierklingen die Arme ritzt... alles immer wieder Zeichen dafür, wie Menschen andere Menschen aus reinem Vergnügen demütigen, peinigen und fertig machen. So auch meine damalige Schulklasse. Lange Zeit hatte ich mir allerlei Gedanken gemacht. Gedanken, mein Leben zu beenden, mich beim Baden zu ertränken, aus dem Fenster zu springen, mich mit einem Küchenmesser zu erstechen und dergleichen. Auch hatte ich mich schier eine Ewigkeit in meinem Zimmer aufgehalten und lediglich dann Kontakt mit Menschen gehabt, wenn ich einkaufen war. Bis... ja bis ich den Führerschein machte und mir einen schwarzen Kombi kaufte. Auch hatte ich mir im Internet allerlei schwarze Klamotten bestellt und sogar ne Sonnenbrille, obwohl ich vorher nie eine getragen hatte. War unnötig gewesen.
Nun steige ich aus meinem Wagen aus. Die Fahrt war vorüber und ich stand vor einer Grillhütte, nicht all zu weit vor meinem Wohnort gelegen. Ich zog mir noch meinen langen, schwarzen Mantel über, es war recht kalt geworden diese Nacht. Der Atem gefror einem kurz nachdem er einem aus dem Munde trat, wenn man atmete oder Worte sprach. Ich musste leicht grinsen, hatte ich mir bislang doch nie über derartige Nebensächlichkeiten Gedanken gemacht. Ich griff noch nach dem kleinem Päckchen für den Geschenkesack. Dies war etwas, das sie sich für dieses Treffen ausgedacht hatten – der Stimmung wegen. Das Päckchen in der Hand haltend schloss ich meinen Wagen ab, ließ den Schlüssel in meine Hosentasche gleiten und machte mich auf, die Grillhütte zu betreten. Ich öffnete die hölzerne Tür und blickte in den Raum, in dessen Zentrum ein langer, gedeckter Tisch stand. An der linken Wand war bereits das Buffet angerichtet worden, vereinzelt tranken sie schon Bier und Wein – kurzum: Alle miteinander waren sie in bester Feierlaune. Man grüßte mich, bot mit einen Platz an und auch die Abnahme meines Mantels. Ich legte ihn selbst ab am Kleiderhaken und behielt das Päckchen in der linken. An einem freiem Platz am Kopfende nahm ich Platz und überblickte die Runde: 23 Leute saßen außer mir an der Tafel. Gut, einige freie Stühle hatte es, doch das fehlen der Gläser machte mir klar, dass alle Plätze nun besetzt und die Feierlichkeit ihren Anfang nehmen würde. Popmusik hatte man zur besseren Stimmung auflegt.
Ich kam mir komisch vor, als ich als erster mich am Buffet bediente. Das Päckchen behielt ich immer in meiner Nähe, stets über meine linke Schulter blickend, ob nicht jemand kam und mich ansprechen würde. Wenn dem so sein würde, würde man sich sicherlich einen Spaß mit mir erlauben. Auf der anderen Seite hatte ich bislang meinen Namen nicht genannt. Hatte ja auch keiner gefragt. Und genau das kam mir mehr als recht. Das Buffet verließ ich nach einer Weile mit einem Teller voll Käse, Schinken und Hackbällchen. Ich aß genüsslich, als auch die anderen merkten, dass es ein Buffet hatte, das es zu vertilgen galt. Innerlich konnte ich mir ein Kichern nicht verkneifen, als sie sich schier um das Buffet zu streiten begannen. Besser kam es jedoch später, als sie alle am Tisch saßen und sich am erbeutetem Essen labten wie es Fliegen an einem Hundehaufen im Spätsommer taten. Als der erste von ihnen sich über leichte Übelkeit zu beklagen begann. Einige machten ihre Scherze, bis schließlich einer nach dem anderem über Magenkrämpfe klagte. Angstzustände, Atemnot, starke Hustenanfälle und ein Drücken in ihren Hälsen quälte sie alle. Viele fielen von ihren Stühlen zu Boden, versuchten sich krampfhaft wieder aufzurichten, während andere versuchten, aufzustehen und im vorderem Bereich der Hütte das Telefon zu erreichen. Andere versuchten es mit ihren Mobiltelefonen, doch waren ihre Hände zu zittrig, um es ruhig zu halten, geschweige denn etwas zu erkennen. Schließlich sollte es durch Sauerstoffmangel zu Sehstörungen kommen. Sie haben alles verschwommen gesehen. Den Tisch, das darauf befindliche Porzellan, die Schrift auf ihren Mobiltelefonen, die anderen Gäste dieses Treffens, schlicht und ergreifend alles. Das Finale gestaltete sich in der Form, dass sie allesamt mehr oder weniger regungslos am Boden oder auf ihren Stühlen sitzend vornüber gelehnt dasaßen und nur noch in die Richtung schauen konnten, die für sie ohne Bewegung ersichtlich war. Hören würden sie alles, sehen jedoch nur verschwommen. Nur eine knappe Viertelstunde würde dieser Zustand anhalten, ehe ihr Herz langsamer und langsamer schlagen würde, ihnen das Atmen noch schwerer fallen und letztlich ganz unmöglich für sie werden würde.
Und in diesem Moment stand ich auf. Mein Päckchen hatte ich beim Buffet stehen lassen. Es war geöffnet worden und beinhaltete nun noch die Reste der Glückskekse, die ich eigenhändig angefertigt hatte. Ja, alle hatten sie über die Kekse gelacht und die Sprüche, die ihnen ein nahe stehendes Unglück prophezeihten. Wer hätte gedacht, dass sich derart einfach meine Rache umsetzen lassen würde? Es war lediglich ein bei chefkoch.de gefundenes Rezept nebst Zutaten und etwas nach Mandeln riechendes Gift erforderlich. Und damit hatte ich es ihnen angenehmer gemacht als sie es für mich zu meiner Schulzeit taten. Aber halt: Ein letzter Keks war noch übrig geblieben. Ein einzelner, letzter Keks, umgeben von Papierschnipseln und Krümeln der anderen Kekse lag noch vollkommen verloren da, darauf wartend, verzehrt zu werden. Es wäre nur gerecht, den Keks von seinem trostlosem Dasein zu erlösen.
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Die Welt ist voller Fragen, die die Menschheit auf Ewig beschäftigen. Fragen über die Art und Weise, wie sich praktisch aus dem Nichts das Universum bildete und darin die Erde, Fragen darüber, wie sich auf der Erde wiederum aus dem Nichts heraus Leben bis zum heutigem Stand entwickeln konnte und auch Fragen über den Sinn unseres Daseins. Die letzte Frage konnte bislang nicht beantwortet werden, obgleich alles doch so naheliegend ist. Zumindest nach Meinung von vielen Wissenschaftlern, Forschern und Entdeckern. Viele Aussagen rationalisieren das Leben als einen Prozess des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung, nur um die vorangegangenen Prozesse immer und immer wieder zu wiederholen. Mit dem Urknall soll alles begonnen haben, weiter ging es, als sich mehrere Meteoriten trafen und die Erde bildeten, die von einem Gasgemisch umgeben war und im Innern die enorme Hitze des Aufpralls birgt. Alles ist auf das Finden, den Kontakt und die Fortpflanzung ausgelegt. Selbst bei einem Schriftsteller, der mit einem Stift auf Papier schreibt, führt eine Fortpflanzung herbei. Auch Bauarbeiter vollbringen dies, indem sie Steine zusammen bringen und daraus Häuser errichten. Oder auch Konditoren, die aus zahlreichen Zutaten wahre Köstlichkeiten entstehen lassen. Selbst jene, die nichts tun, führen eine Fortpflanzung herbei, da es in irgendeiner Form Unterlagen über sie gibt, die stetig weitergeführt werden.
Stellt dieser Prozess des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung wirklich den Sinn unseres Lebens dar? Sind wir lediglich Teil einer gewaltigen Brutmaschinerie, die in sich selbst ihrem Arbeitsprozess der Vervielfältigung und Fortpflanzung folgt? Diese Fragen hatte ich mir lange Jahre gestellt, eine Antwort jedoch blieb mir verwehrt. Immer wenn ich dachte, eine andere Antwort gefunden zu haben, kehrte ich wieder zur ursprünglichen Thematik des Prozesses des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung zurück. Alles schien hier einzumünden. Und was nichts mit der Thematik zu tun hatte, stellte sich in meinen Augen lediglich als Dekoration des irdischen Seins heraus, ohne jegliche Form gravierender Bedeutung oder Einflussnahme auf den Prozess des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung. Ist der Sinn unseres Lebens lediglich der Form, dass wir uns nur finden, dann Kontakt haben und uns fortpflanzen, nur um am Ende zu sterben und dass unsere Nachfahren dieses Schema bis zur Unendlichkeit wiederholen? Und ist es vorherbestimmt, dass jene, die den Prozess nicht folgen, von der Gesellschaft isoliert werden und den Tod finden? Letztlich noch vergessen werden? Dass sich niemand mehr an sie erinnern wird? Ist es wichtig, dass sich die Nachwelt an einen Menschen erinnert, der zu einem bestimmtem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte lebte oder ist das, was allgemeinhin als Vermächtnis eines Menschen bezeichnet wird, lediglich belanglos im Rahmen des Prozesses des Findens, des Kontakts und der Fortpflanzung?
Ich wollte diesem Prozess nicht folgen. Ich wollte niemanden finden, doch man zwang mich dazu. Ich wollte keinerlei Kontakt, doch man zwang mich dazu. Ich wollte den Prozess der Fortpflanzung nicht erfüllen, doch man zwang mich dazu. Man zwang mich an einem Punkt meines Lebens, dem ewigem Prozess des Lebens zu folgen und entbehrte ihm somit die Bedeutung als Sinn des Lebens. Warum also sollte ich mein Dasein auf dieser Welt weiter führen, wenn man mein Leben seinem Sinn beraubt hatte?
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Geschrieben habe ich die ersten beiden Anfang September, die letzten beiden im Krankenhaus, das ich in den letzten drei Septemberwochen bewohnen durfte. DJ n meinte, ich sollte sie hier vorstellen, die vier Häppchen. Wie findet ihr sie?