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Stan
06.10.2005, 18:41
Der Fall des Herrn Drescher


1

Nichts hatte ihm Glück gebracht. Kein Umstand seiner Geburt, keine Glückszahl – nichts. Er hatte einfach geraten. Drei, Siebzehn, Elf, Siebenunddreißig, Zwanzig und Vierzehn. Diese sechs aus der Luft gegriffenen Zahlen führten ihn zu zwanzig Millionen Euro.
Als er von seinem Gewinn erfuhr, war er geschockt, hielt es für einen schlechten Scherz, dachte ein Bekannter würde einen Streich spielen. Als er aber nach einer Menge Papierkram zur Bank ging und das Geld auf seinem Kontoauszug sah, begann er zu realisieren, dass er tatsächlich gewonnen hatte. Er jauchzte, hob einige tausend Euro ab und kaufte sich die Dinge die er schon lange haben wollte: Den neuen Flachbild-Fernseher, die Stereo-Anlage mit Boxen so groß wie ein Schreibtisch und den modernen Rechner, den er lange vor dem Schaufenster stehend bewundert hatte.


2

„Du hast gewonnen?“
„Ja, glaub’ mir doch.“
„Das ist ja der Wahnsinn. Was willst du mit dem ganzen Geld machen?“
„Ich weiß noch nicht. Ein Haus wäre sicherlich nicht schlecht. Ich denke ich werde morgen kündigen und dann nie wieder arbeiten. Was für ein Traum. Ich kann dieses Geschenk noch nicht fassen. Gleich ruf ich Paul an und erzähl ihm, dass ich morgen nicht zur Arbeit komme.“
„Ich freu mich so für dich. Du hast das Glück nach so langem Alltag verdient.“
„Danke. Irgendwann lade ich euch alle schick zum Essen ein. Freu dich auf deine Geschenke zu Weihnachten. Sie werden großartig.“
„Ich freu mich schon. Du, ich muss jetzt aber los. Nicht jeder hat so viel Freizeit wie du und kann in seinem Geld baden.“
„Es kann auch nicht jeder einen Traumberuf haben wie du und seine eigenen Bücher schreiben.“
„Stimmt wohl. Viel Spaß noch.“
„Dir auch.“


„Schneider?“
„Ja, Paul, ich bin’s. Du wirst nicht glauben, was passiert ist, ich-“
„Ich erlebe gerade den schönsten Moment meines Lebens.“
„Schöner als der mein gestriger Tag kann er nicht sein.“
„Oh, doch. Glaube mir. Ich war 12 Stunden am Stück arbeiten und liege endlich entspannt in der Badewanne und lese mal wieder im Zarathustra. Es gibt nichts wundervolleres als seichtes, warmes Wasser und daneben das Tiefe Meer Nietzsches. Für morgen habe ich mir frei genommen, Montag geht’s dann wieder richtig los.“
„Ich habe im Lotto gewonnen! Zwanzig Millionen!“
„Verarsch mich nicht.“
„Im Ernst.“
„Du mit deinen blöden Scherzen.“
„Soll ich dir meinen Konto-Auszug faxen?“
„Das will ich sehen. Du schuldest mir ein Bier, wenn du nicht 20 Millionen auf dem Konto hast.“
„Ich kann dir eine ganze Brauerei kaufen, wenn du willst! Warte, das Fax kommt.“
„Tatsächlich. Das ist ja unglaublich! Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Wirklich klasse!“
„Ja. Kaum zu glauben, so was passiert sonst nur Anderen. Ich habe es aber gerade eilig ich muss noch viel erledigen – Papierkram und so. Ich wollt dir nur bescheid geben, dass ich morgen nicht zur Arbeit kommen werde. Und übermorgen auch nicht. Und generell nie wieder!“
„Hehe, so was habe ich schon kommen sehen. Aber überleg es dir gut. Arbeit kann ein guter Ausgleich sein.“
„Ach, auf die Schinderei kann ich verzichten. Sehr gut sogar!. Ich muss los, wir reden die Tage noch einmal.“
„Ja, einen schönen Tag noch.“
„Tschüß.“



3

Nach nur kurzer Zeit des Suchens hatte der Millionär ein Haus gefunden in das er Einziehen wollte, allerdings passte ihm die Farbe noch nicht. Der zu dunkle Ton der Fassade musste aufgehellt werden, also bestellte er einige Maler und Dekorateure zu sich. Als die Schaffenden das Gebäude erreichten, beriet er sich mit einem jüngeren Kreativen, in welcher Farbe das Haus gestrichen sein sollte.

„Ich rate ihnen zu einem neutralen gelben oder weißen Ton, alles andere wäre sehr aggressiv und würde in starkem Kontrast zu der grünen Umgebung stehen. Es ist Geschmackssache, ich würde ihnen zu gelb raten.“
„Ich tendiere zu weiß. Wie heißt es so schön? Über Geschmäcker sollte man nicht streiten.“
Der Schaffende beäugte sein Gegenüber.
„Das stimmt. Man kann über Geschmack nicht streiten. Denn der Geschmack ist nichts anderes als die Moral – eine Einstellung. Ein subjektives Gefühl, dass sich nur schwerlich begründen, aber schon gar nicht vergleichen lässt. Der Unterschied zwischen beiden Dingen ist allerdings, dass die Menschen überzeugt sind, nach ihrer Moral müsse jeder Handeln, während sie beim Geschmack bereits herausgefunden haben, dass jeder einen eigenen Geschmack hat und es keinen falschen oder richtigen gibt.“
„Was? Ja, vielleicht haben sie Recht. Ich nehme gelb.“

Sich auf dem Rückweg von der Besichtigung seines zukünftigen Hauses befindend, wurde der Lottogewinner seines Weges müde und setzte sich auf eine Parkbank. Vorbei liefen viele Menschen und nach einer Weile auch ein Kind mit seiner Mutter. Die Mutter streifte etwas gelangweilt über den Weg während das Kind jedes bisschen Natur in sich aufsog und hier und da einen Baumstamm geradezu ehrfürchtig anfasste. Als die beiden den Sitzenden schon passiert hatten, stieß das Kind einen Freudeschrei aus, stürzte sich auf den Boden und hielt triumphierend einen Geldschein in die Luft. Es begann zu lachen und zu springen und verkündete, dass es sich erst einmal ein großes Eis von dem gefundenen Geld kaufen wolle.
Das Kind schien ihm fern und unwirklich.


4

Gewohnheit bedeutet nötige Steigerung. Wenn man zu Beginn noch schnell trunken wird, so braucht man bald immer mehr. Aus Bier wird Wein, aus Wein wird Wodka und so steigert es sich immer weiter. Das Vergnügen muss immer teurer erkauft werden, bis es irgendwann unbezahlbar ist. Doch wehe dem, der sich alles leisten kann, der empfindet immer neue Steigerungen als Vergnügen, Höhen ohne Spitze. Endlose Berge die immer weiter erklommen werden müssen und von denen aus man andere schupsen muss – oder selbst fällt. Doch bleibt man nur eine kurze Weile auf einer Klippe stehen - so ist man nicht glücklicher als einer der ganz unten weilt.


5

Kopfschmerzen. Hämmernde Kopfschmerzen. Es pocht, es vibriert. Das Bett scheint hart, der Boden wirkt weich. Die Beine sind Stahlklötze; der Wecker schreit, ist eine Sirene. Beim Aufstehen ein Tritt auf die Fernbedienung der neuen Anlage. Das Schicksal pocht an die Pforte. Jeder Ton ein Hammerschlag, der Schädel birst, zerspringt ins Zimmer, verteilt sich auf dem neuen Teppich. Der schöne Teppich. Erst das Schlagen der Musik ausschalten, dann das Schlagen im eigenen Kopf. Sich ablenken. Fernsehen. Zu laut, zu grell. Der Rechner. Das Brummen des Kühlers ächzt wie eine Kettensäge. Sie zerteilt den Schädel erneut. Das Gehirn purzelt aus dem Kopf, dreht sich um die Einrichtung. Alles ausschalten. Mein Staat bin ich. Aus mir kommt alles.


6

„Glück ist nie ewig. Egal was es ist, mit der Zeit verrinnt es; vielleicht hat man bei dem einen Dinge Glück und es verrinnt erst nach der eigenen Lebzeit, doch gibt man dem Ding oder dem Zustand nur genug Zeit, so vergeht er. Die Sterblichkeit des Menschen ist der einzige Faktor der dazu führen - dazu verführen - könnte ein Glück ewig zu nennen.
Das Leben hatte einen göttlichen Einfall, die Gerechtigkeit des Glückes. Dieser sorgt dafür, dass Glück nicht angeboren sein kann, dieser sorgt dafür, dass eine einzige Tat ein Leben nicht mit Glückseligkeit erfüllen kann. Er sorgt dafür, dass jedes Glück mit der Zeit vergeht, aber auch umgekehrt: dass jeder Schmerz vergeht. Der Mensch, er passt sich an jede Situation innerhalb kürzester Zeit an, so gibt es kein dauerndes Glück und kein dauerndes Unglück. Das Glück kann, das Glück muss!, Tag für Tag, Stunde für Stunde und Moment für Moment neu erkämpft werden. Hedonistische Adaption heißt Gerechtigkeit des Glückes. Heißt aber genauso ewiger Kampf.“

Sesquipedalis
07.10.2005, 19:42
Wow!
Ich muss sagen, die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Sehr guter Schreibstil, soweit keine Rechtschreibfehler die ich gesehen habe, interessantes Thema, gut umgesetzt.
Die Dialoge an einigen Stellen nicht ganz natürlich, aber hauptsächlich sehr gut.
Etwas unlogisch: Der Paul erzählt, dass er gerade nach 12 Stunden Arbeit badet und trotzdem kann er das Fax lesen. Naja...
Aber, wie gesagt, gesamteindruck ist genial. Wirklich, wirklich absolut genial.
Ja.

NeoInferno
09.10.2005, 10:44
Hi Stan,

wirklich gute Geschichte, die sich langsam aufbaut, am Ende jedoch zu viel preisgibt. Sprachlich wie stilistisch gibt's nichts zu meckern, tolle Bildsprache, angemessenes Sprachniveau, einige schön surreale Stellen wie diese hier:

„Das stimmt. Man kann über Geschmack nicht streiten. Denn der Geschmack ist nichts anderes als die Moral – eine Einstellung. Ein subjektives Gefühl, dass sich nur schwerlich begründen, aber schon gar nicht vergleichen lässt. Der Unterschied zwischen beiden Dingen ist allerdings, dass die Menschen überzeugt sind, nach ihrer Moral müsse jeder Handeln, während sie beim Geschmack bereits herausgefunden haben, dass jeder einen eigenen Geschmack hat und es keinen falschen oder richtigen gibt.“
„Was? Ja, vielleicht haben sie Recht. Ich nehme gelb.“
Hat mich sehr amüsiert ;)

"Das Kind schien ihm fern und unwirklich."
- Bis hier ist die Geschichte schön feinfühlig subtil und sollte entweder so fortgeführt werden, oder hier Enden (imho durchaus eine Option). Danach beginnst du, die Geschichte zu erklären, was das Vorherige etwas entzaubert und dem Leser das Denken abnimmt. Teil 5 ist nocheinmal sprachlich sehr schön, aber prinzipiell bleiben (5. exklusive) alle Folgeabsätze Quasi-Analysen. Mag ich gar nicht. Hattest du Angst, man könnte die Geschichte nicht verstehen oder wolltest du einfach mit aller Deutlichkeit auf die abschließende Intention aus 6.) hinweisen?

Deine Stellungnahme würde mich interessieren.

So long,
Neo

Stan
09.10.2005, 22:16
@ Sesquipedalis: Danke für die Kritik. Die Dialoge vermissen wohl wirklich noch Authenzität, dass ist eine meiner größten Schwächen. Und die Fax-Szene ist tatsächlich unlogisch. Muss ich demnächst irgendwie ausbessern.

@ NeoInferno: Ursprünglich bestand die Geschichte nur aus dem abstrakten Kern Kapitel 6. Danach kamen die Kapitel 1, 2, 5, 4 und 3 (in der Reienfolge) hinzu. Es ging mir um den Kern-Gedanken, die Subtilität entstand daraus, dass ich genau wusste, worauf ich hinarbeite und dadurch viel andeuten konnte.
Die Geschichte ist so eindeutig, weil der Gedanke der hedonistischen Adaption schon lange in mir herumgeistert und ich ihn eindeutig zu Papier bringen wollte. Vielelicht hat mich auch die geradezu abschreckende Unverständlichkeit Kants dazu getrieben unverschnörkelt zu schreiben. ;)

NeoInferno
10.10.2005, 09:14
Das erklärt es natürlich. Trotzdem finde *ich persönlich* Geschichten besser, wo man selbst am Ende sagt: Diesen und jenen Schluss kann ich für mich persönlich aus der Geschichte ziehen, obwohl das so gar nicht offen drin steht (irgendwo zwischen den Zeilen sollte es dann doch stehen, sonst interpretiert man ins nichts). Und deine Geschichte hätte ohne Erklärung genau diesen Effekt erreicht.

Übrigens danke, dass du mich auf das Thema gestoßen hast, unter dem Namen kannte ichs nicht, sehr gehaltvoll, um drüber nachzudenken. Ist das eigentlich eine allgemein anerkannte Tatsache oder eher eine philosophische Ansichtssache? Hedonismus war ja eindeutig nur eine Philosophische Richtung unter vielen (wenngleich eine sehr interessante). Jedoch scheint mir dieses Prinzip so allgemeingültig.

Stan
10.10.2005, 12:32
Ich bin durch meinem Philosophie-Lehrer drauf gestoßen und wirklich wissenschaftlich bewiesen ist es nicht - wie auch? Allerdings gibt es Studien die imo sehr deutlich darauf hinzeigen.