Mopry
12.08.2005, 10:54
Ein Jahr
Frühling
Er schaut aus dem Fenster. Vor ihm liegt der große Kirchhof. Ein alter, knorriger Baum streckt seine Äste majestätisch gen Himmel. Am ganzen Baum sprießen Knospen. Um den Baum herum stehen vereinzelt grüne Büsche, deren Knospen sich teilweise schon zu blassrosa Blüten entfalten. Die Sonne beleuchtet die Landschaft hell und fröhlich und spendet eine angenehm laue Wärme. Die sonst so düster wirkende Kirche wird durch das weiße Licht der Sonne erhellt. Sein schwarzer Anzug passt im Grunde gar nicht zu seiner Stimmung. Alle redeten immer von Zweifeln und Ängsten vor der Hochzeit, doch er ist sich ganz sicher: Sie ist die Liebe seines Lebens. Diese Hochzeit ist garantiert kein Fehler. Er lächelt fröhlich in den Spiegel und geht dann zur Tür.
Er hatte sie vor fast genau einem Jahr in einer Eisdiele in der Innenstadt kennen gelernt. Sie war mit Freundinnen dort gewesen. Ihm war sie sofort durch ihre erfrischend muntere Art aufgefallen. Ihr Lachen war es, was es ihm von Anfang an angetan hatte.
Danach hatten sie sich ein paar Mal getroffen und schon bald waren sie zusammen gezogen.
Gerade will er die Türklinke herunterdrücken, da klopft es an der Tür. Er hält kurze Zeit inne, öffnet dann und sieht in das Gesicht seines besten Freundes, der heute sein Trauzeuge ist. „Und, wie geht’s?“, fragt der Trauzeuge grinsend. Der Mann sieht erneut zum Fenster, beschaut sich zufrieden die Landschaft, die durch das wunderbare Wetter so schön erscheint. Er sieht zwei Vögel am Fenster vorbei fliegen. Sie zwitschern fröhlich.
Er sieht seinen Freund an und gemeinsam durchschreiten sie die hohe Tür und gehen den langen Gang entlang.
Als er sie in dem Brautkleid sieht kann er kaum fassen, wie schön sie ist. Sie werden zum Altar geführt und er kann den Blick nicht von ihr abwenden.
Der Pastor richtet zuerst das Wort an die Gemeinde. Er spricht von ewiger, bedingungsloser Liebe, er redet auch über das schöne Wetter, dann spricht er von Regen und Zusammenhalt. Lächelnd stellt er seine Fragen. Beide antworten mit ja und zur Belohnung darf er sie nun küssen.
Dieser Moment ist so wunderschön, dass er sich wünscht, sein ganzes restliches Leben möge nur noch aus diesem einen Moment bestehen.
Nach der Trauung gehen alle Anwesenden gemeinsam in ein Lokal, welches sich in nächster Nähe der Kirche befindet. Es wird gegessen, getrunken und gelacht. Man macht Scherze, trinkt ein ums andere Mal auf das Wohl des Brautpaares und lobt das schöne Wetter.
Er hat die ganze Zeit einzig und allein Augen für sie. Immer wieder bewundert er ihre Anmut, ihre Gewandtheit, ihre Sicherheit bei allem, was sie tut. Und vor allem bewundert er ihr wunderschönes Lachen. Er möchte den Blick nie wieder von ihr abwenden. Doch warum schaut sie nicht zu ihm?
Sie redet mit seiner und ihrer Verwandtschaft, macht Scherze, lacht über die immer gleichen Witze ihres älteren Bruders und nimmt hin- und wieder einen Schluck aus ihrem Glas mit Sekt.
Schließlich werden die Fotos gemacht. Immer wieder küssen sie sich für die Fotos. Er genießt jeden einzelnen Kuss mit ihr und freut sich, sobald wieder jemand seine Kamera herausholt. Nur sie sieht zunehmend genervt aus. Ihr Lächeln ist von Foto zu Foto unechter und friert mit der Zeit zu einer unzufriedenen Miene ein.
Doch er macht sich aus alledem nichts. Er ist vor Glück blind für alles, was an diesem perfekten Tag unperfekt ist.
Sommer
Er sieht aus seinem Fenster. Der Apfelbaum im Garten des Einfamilienhauses, in dem er und seine Frau jetzt wohnen, steht in voller Blüte. Auch die Blumen und Büsche in ihrem kleinen Garten blühen wunderschön. Die Sonne brennt unerbittlich heiß auf die Welt nieder. Kein Wölkchen trübt den klaren Himmel. Hin und wieder krächzt müde ein Vogel. Sie ist noch nicht zu Hause. Normalerweise kommt sie immer schon am Nachmittag von der Arbeit, aber heute muss sie länger arbeiten. Schade, denkt er, wo er doch heute früher nach Hause konnte.
Er sieht dem Treiben auf der Straße zu. Alle Leute sind sichtlich müde, träge durch die heiße Sonne. Nur ein junges Pärchen, das unter seinem Fenster vorbei geht scheint die Hitze nicht weiter schlimm zu finden. Der Junge ist im T-Shirt und in kurzer Hose, seine Freundin in knappem Mini-Rock und Bauchfreiem Top unterwegs. Sein Arm ist um ihre Schultern gelegt und in der Hand hält er ihr ein Eis vor das Gesicht, von dem beide nach und nach nahmen. Sie sahen sehr vergnügt und glücklich aus. Er redet auf sie ein und sie lacht anscheinend über jedes seiner Worte. Langsam verschwinden sie in der Menge.
Er sieht den beiden melancholisch nach. Wie er die Zeit doch vermisst, in der es zwischen ihm und seiner Frau genau so war. Jetzt ist ihr Verhältnis routiniert, sie sogar teilweise lieblos geworden.
Anders als in anderen Ehen hat sie und nicht er auf einmal keine Zeit mehr für ihren Partner. Sie konzentriert sich mittlerweile sehr auf ihre Karriere.
Er sieht ein altes Ehepaar gemeinsam über die Straße gehen. Die alte Frau stützt ihren Mann, der trotz seines Gehwägelchens sichtliche Schwierigkeiten beim Laufen hat. Ein Auto kommt viel zu schnell angefahren. Es fährt die alte Frau hart an, sie fällt auf den Boden, reißt ihren Mann dabei mit sich. Der Mann richtet sich langsam und mühsam auf, doch er fällt sofort wieder hin. Er startet noch zwei weitere Versuche aufzustehen, beide misslingen. Niemand hilft dem Mann. Jetzt dreht der Alte sich zu seiner ebenfalls am Boden liegenden Frau. Sie bewegt sich nicht mehr. Am Kopf blutet sie.
Der alte Mann versucht alles, um seine Frau aufzuwecken, doch nicht gelingt ihm. Mittlerweile kommen Passanten, die dem Mann helfen wollen. Sie richten ihn auf, zerren ihn, der sich schreiend und weinend mit Händen und Füßen wehrt, von seiner toten Frau weg. Der Fahrer des Wagens hat die Polizei gerufen.
Er wendet seinen Blick von dem Geschehen ab, sieht den anderen Menschen auf der Straße zu. Es gehen fast nur Paare in der Stadt herum an diesem Nachmittag. Hauptsächlich sind es junge Paare die eng miteinander spazieren gehen. An einem dieser Paare stört ihn etwas. Er erkennt von weitem nicht viel und kann nicht genau sagen, was es ist, doch etwas stört ihn. Schnell kramt er aus einem seiner Schränke ein Fernglas heraus. Das Glas ist schon sehr alt, aber es ist gut. Er hatte es sich als Kind gekauft, hatte monatelang sein Taschengeld gespart um es sich leisten zu können. Er setzt sich das Glas vor die Augen und erkennt sofort gestochen scharf jedes Gesicht der Menschen auf der Straße, als stünden sie direkt vor ihm. Er sucht nach dem Paar, was ihn vorhin so gestört hat. Lange schweift sein Blick durch die Straße, viele Gesichter ziehen verschwommen vor seinem Auge vorbei, in einer Geschwindigkeit, in der er nicht jedes erkennen kann, doch dann auf einmal erscheint ein Gesicht, das er kennt. Er kennt es nur zu gut…
Schnell schwenkt er das Glas zurück, lässt es ruhig stehen, sieht in das Gesicht. Es ist eine Frau, eine sehr schöne Frau. Es ist seine Frau.
Sie geht mit einem Mann zusammen durch die Stadt, den er nicht kennt. Sie lacht und sieht sehr glücklich aus. Der Mann legt einen Arm um sie und drückt ihr einen Kuss auf die Wange.
Herbst
Er sitzt wieder alleine im Wohnzimmer vor dem Kamin und starrt ins Feuer. Seine Frau sagte, sie müsse länger arbeiten, aber er weiß, sie ist bei ihrem Geliebten. Anfangs hatte er sich noch gesträubt, daran zu glauben, doch er hat mittlerweile die Gewissheit. Draußen regnet es und ist kalt. Es ist erst sechs Uhr am Abend, trotzdem macht die Sonne bereits Anstalten unterzugehen. Das Kaminfeuer knistert. In der Hand hält der Mann ein Glas, gefüllt mit Whiskey. Er sitzt in seinem Lehnsessel zurückgelehnt und sinnt unter der Wirkung des Alkohols über die Beziehung zu seiner Frau nach.
Tiefe Verzweiflung nagt an ihm und im Kopf malt er sich grausame Dinge aus.
Er würde seiner Frau nie im Leben etwas antun können, dazu liebt er sie viel zu sehr, doch in seiner Phantasie denkt er sich volltrunken aus, wie er sie und ihren Liebhaber brutal umbringen könnte.
In Gedanken erwischt er die beiden im Bett und dann lässt seine Allmachts-Phantasie alles zu…
Schreiend würde seine Frau sich an die Wand hinter dem Bett drücken, der Mann würde, wenn er es wirklich wert war, dass seine Frau ihn mehr liebt als ihren Mann, sich vor sie stellen um sie zu schützen, doch er würde keine Gnade erfahren…
Der Betrunkene Mann sieht vor seinem geistigen Auge Blut fließen, viel Blut, denn er hat seiner Frau die Kehle durchtrennt. Der Liebhaber versucht sich zu wehren, doch der Mann schneidet ihm mit einem Ruck das Genital ab, sodass auch der verblutet.
Der Mann lacht leise über seine Gedankenspiele, eine Regung geht dabei zuckend durch ihn, sodass ihm beinahe das Glas mit dem Whiskey herunter fällt. Etwas von der Flüssigkeit tropft auf die Fliesen.
Er hört, wie ein Schlüssel in das Schloss der Haustür fährt, sich dreht und die Tür aufspringen lässt.
„Schatz, ich bin wieder da!“, sagt sie unerträglich fröhlich. Er sagt nichts.
Sie geht mit lauten Schritten auf ihren teuren, teuren hochhackigen Schuhen durch das Haus und betritt das Wohnzimmer.
„Hast du also wieder getrunken!?“, sagt sie kalt. „Scheiße! Warum tust du uns das an!?? Du verdammter Säufer!!!“
Sie schreit, macht ihm Vorwürfe und seine Trauer und Beklemmung wandelt sich zu unbeschreiblicher Wut.
Er springt aus seinem Sessel.
„Und du!? Hast du ihn also wieder ge••••t, den lieben Mr. Unbekannt? Du hast ihn mir noch gar nicht vorgestellt. Wer ist er? Der Postbote? Der Klempner? Der Milchmann? Seit wann kennt ihr euch? Na, erzähl doch mal ein bisschen von diesem tollen Typen!“
Sie sieht ihn an, erschrocken, bringt nur stotternde Laute hervor.
„Ach ja, und wie ist der Sex mit ihm? Bläst du ihm immer einen? Fingert er dich? Beherrscht er das Kamasutra? Steht er eher auf Sado-Maso? Ist sein Schwanz auch schön lang? Los, raus mit der Sprache! Deinen Freundinnen hast du es doch sicherlich alles schon erzählt, warum nicht auch deinem Mann?“
„Du… du bist widerlich!“ brüllt sie und rennt wieder zur Haustür, öffnet sie, geht raus und lässt die Tür krachend wieder ins Schloss fallen.
Er setzt sich wieder auf den Sessel.
Wo wird sie jetzt wohl hingehen? Wahrscheinlich wieder zu ihrem Typen, sich an seiner Brust ausheulen, er würde sie einmal ordentlich durchnehmen und sie wäre wieder so fröhlich wie vorhin, als sie hereingekommen war. Dann würde sie die Nacht bei ihrem Liebhaber verbringen und morgen vielleicht wieder nach Hause kommen…
Winter
Der Schnee liegt zentimetertief auf den Straßen und den Dächern der Stadt. Seit Tagen wird überall Schnee geschippt und Salz gestreut.
Auf einem Gehweg mitten in der Stadt sitzt ein alter Mann, der seit Jahren obdachlos ist. Er hustet und versucht, sich zu wärmen, in dem er seinen dampfenden Atem in seine Hände haucht. Viele Leute gehen an ihm vorbei doch niemand hat Mitleid und wirft etwas Geld in den Becher, den er aufgestellt hat.
Ein Mann geht an ihm vorbei, der Obdachlose folgt ihn mit seinem Blick, bis in eine alte, verlassene Lagerhalle. Der Alte schaut noch eine Weile zu der Halle, doch der Mann kommt nicht wieder hinaus. Nach ungefähr einer Stunde schläft der Alte hustend ein.
Der Mann hat einen Entschluss gefasst.
Seine Frau war seit jenem Abend im Herbst nicht mehr wieder gekommen. Sie war wohl bei ihrem Typen geblieben. Genau weiß er es nicht, denn seit jenem Abend geht niemand mehr an ihr Handy, doch vor einigen Tagen ist ihm per Post ein Scheidungsformular zugekommen, dass er nun unterschreiben soll.
Doch er will es nicht unterschreiben. Ein Mal, nur ein einziges Mal in dieser ganzen, verdammten Ehe soll sie mal nicht ihren Willen bekommen.
Dafür würde er schon sorgen…
Er sieht sich um- niemand beobachtet ihn, es ist auch längst niemand mehr auf der Straße, außer einem kleinen, alten Mann, der dort auf der Straße eingeschlafen ist.
Der Mann setzt seinen mitgebrachten Rucksack ab.
Er erinnert sich, vor dieser Lagerhalle hat er sie zum ersten Mal geküsst. In der Lagerhalle waren sie wenige Momente später dann noch weiter gegangen und hatten ihre erste gemeinsame Nach zwischen den gestapelten Kisten verlebt. Verrückt…
Es entstand daraus eine sehr leidenschaftliche Liebe.
Bei dem Gedanken überlegte er, kommt Leidenschaft eigentlich von Leiden, oder Leiden von Leidenschaft?
Aber genau deshalb muss es hier passieren, genau deshalb, über diesen Kisten.
Er holt einige Dinge aus seinem Rucksack. Er würde es sich nie eingestehen, doch er spürte, wie Tränen seine Wange hinunter rannen.
Er nahm einen tiefen Schluck aus der mitgebrachten Whiskeyflasche. Leise fing er an, vor sich hin zu singen, während er alles vorbereitete.
„Johnny Walker… jetzt bist du wieder da… Johnny Walker, ich zahl dich gleich in bar… Johnny Walker, du hast mich nie enttäuscht… Johnny, du bist mein bester Freund…“
Er nimmt noch einen Schluck, spürt, wie der Whiskey den Hals hinunter läuft und ihm immer wärmer wird.
„Ich hab’s versucht, ich komm nicht ohne dich aus. Wozu auch? Du gefällst mir ja. Kein Mensch hört mir so gut zu wie du. Und Johnny, du lachst mich auch nie aus.“
Oben an der Decke verlaufen Metallstangen, an denen die kaputten Lampen befestigt sind, die früher dazu da waren, die Halle zu erhellen.
Er wirft das starke Seil, das er mitgebracht hat darüber, klettert auf einen Turm von Kisten, um alles so zu befestigen, wie er das wollte. Dann bindet er in das untere Ende des Seiles eine Schlinge. Von oben sieht er seinen Abschiedsbrief, direkt neben der Whiskeyflasche. Er legt sich die Schlinge um den Hals.
Dann springt er von den Kisten…
Frühling
Er schaut aus dem Fenster. Vor ihm liegt der große Kirchhof. Ein alter, knorriger Baum streckt seine Äste majestätisch gen Himmel. Am ganzen Baum sprießen Knospen. Um den Baum herum stehen vereinzelt grüne Büsche, deren Knospen sich teilweise schon zu blassrosa Blüten entfalten. Die Sonne beleuchtet die Landschaft hell und fröhlich und spendet eine angenehm laue Wärme. Die sonst so düster wirkende Kirche wird durch das weiße Licht der Sonne erhellt. Sein schwarzer Anzug passt im Grunde gar nicht zu seiner Stimmung. Alle redeten immer von Zweifeln und Ängsten vor der Hochzeit, doch er ist sich ganz sicher: Sie ist die Liebe seines Lebens. Diese Hochzeit ist garantiert kein Fehler. Er lächelt fröhlich in den Spiegel und geht dann zur Tür.
Er hatte sie vor fast genau einem Jahr in einer Eisdiele in der Innenstadt kennen gelernt. Sie war mit Freundinnen dort gewesen. Ihm war sie sofort durch ihre erfrischend muntere Art aufgefallen. Ihr Lachen war es, was es ihm von Anfang an angetan hatte.
Danach hatten sie sich ein paar Mal getroffen und schon bald waren sie zusammen gezogen.
Gerade will er die Türklinke herunterdrücken, da klopft es an der Tür. Er hält kurze Zeit inne, öffnet dann und sieht in das Gesicht seines besten Freundes, der heute sein Trauzeuge ist. „Und, wie geht’s?“, fragt der Trauzeuge grinsend. Der Mann sieht erneut zum Fenster, beschaut sich zufrieden die Landschaft, die durch das wunderbare Wetter so schön erscheint. Er sieht zwei Vögel am Fenster vorbei fliegen. Sie zwitschern fröhlich.
Er sieht seinen Freund an und gemeinsam durchschreiten sie die hohe Tür und gehen den langen Gang entlang.
Als er sie in dem Brautkleid sieht kann er kaum fassen, wie schön sie ist. Sie werden zum Altar geführt und er kann den Blick nicht von ihr abwenden.
Der Pastor richtet zuerst das Wort an die Gemeinde. Er spricht von ewiger, bedingungsloser Liebe, er redet auch über das schöne Wetter, dann spricht er von Regen und Zusammenhalt. Lächelnd stellt er seine Fragen. Beide antworten mit ja und zur Belohnung darf er sie nun küssen.
Dieser Moment ist so wunderschön, dass er sich wünscht, sein ganzes restliches Leben möge nur noch aus diesem einen Moment bestehen.
Nach der Trauung gehen alle Anwesenden gemeinsam in ein Lokal, welches sich in nächster Nähe der Kirche befindet. Es wird gegessen, getrunken und gelacht. Man macht Scherze, trinkt ein ums andere Mal auf das Wohl des Brautpaares und lobt das schöne Wetter.
Er hat die ganze Zeit einzig und allein Augen für sie. Immer wieder bewundert er ihre Anmut, ihre Gewandtheit, ihre Sicherheit bei allem, was sie tut. Und vor allem bewundert er ihr wunderschönes Lachen. Er möchte den Blick nie wieder von ihr abwenden. Doch warum schaut sie nicht zu ihm?
Sie redet mit seiner und ihrer Verwandtschaft, macht Scherze, lacht über die immer gleichen Witze ihres älteren Bruders und nimmt hin- und wieder einen Schluck aus ihrem Glas mit Sekt.
Schließlich werden die Fotos gemacht. Immer wieder küssen sie sich für die Fotos. Er genießt jeden einzelnen Kuss mit ihr und freut sich, sobald wieder jemand seine Kamera herausholt. Nur sie sieht zunehmend genervt aus. Ihr Lächeln ist von Foto zu Foto unechter und friert mit der Zeit zu einer unzufriedenen Miene ein.
Doch er macht sich aus alledem nichts. Er ist vor Glück blind für alles, was an diesem perfekten Tag unperfekt ist.
Sommer
Er sieht aus seinem Fenster. Der Apfelbaum im Garten des Einfamilienhauses, in dem er und seine Frau jetzt wohnen, steht in voller Blüte. Auch die Blumen und Büsche in ihrem kleinen Garten blühen wunderschön. Die Sonne brennt unerbittlich heiß auf die Welt nieder. Kein Wölkchen trübt den klaren Himmel. Hin und wieder krächzt müde ein Vogel. Sie ist noch nicht zu Hause. Normalerweise kommt sie immer schon am Nachmittag von der Arbeit, aber heute muss sie länger arbeiten. Schade, denkt er, wo er doch heute früher nach Hause konnte.
Er sieht dem Treiben auf der Straße zu. Alle Leute sind sichtlich müde, träge durch die heiße Sonne. Nur ein junges Pärchen, das unter seinem Fenster vorbei geht scheint die Hitze nicht weiter schlimm zu finden. Der Junge ist im T-Shirt und in kurzer Hose, seine Freundin in knappem Mini-Rock und Bauchfreiem Top unterwegs. Sein Arm ist um ihre Schultern gelegt und in der Hand hält er ihr ein Eis vor das Gesicht, von dem beide nach und nach nahmen. Sie sahen sehr vergnügt und glücklich aus. Er redet auf sie ein und sie lacht anscheinend über jedes seiner Worte. Langsam verschwinden sie in der Menge.
Er sieht den beiden melancholisch nach. Wie er die Zeit doch vermisst, in der es zwischen ihm und seiner Frau genau so war. Jetzt ist ihr Verhältnis routiniert, sie sogar teilweise lieblos geworden.
Anders als in anderen Ehen hat sie und nicht er auf einmal keine Zeit mehr für ihren Partner. Sie konzentriert sich mittlerweile sehr auf ihre Karriere.
Er sieht ein altes Ehepaar gemeinsam über die Straße gehen. Die alte Frau stützt ihren Mann, der trotz seines Gehwägelchens sichtliche Schwierigkeiten beim Laufen hat. Ein Auto kommt viel zu schnell angefahren. Es fährt die alte Frau hart an, sie fällt auf den Boden, reißt ihren Mann dabei mit sich. Der Mann richtet sich langsam und mühsam auf, doch er fällt sofort wieder hin. Er startet noch zwei weitere Versuche aufzustehen, beide misslingen. Niemand hilft dem Mann. Jetzt dreht der Alte sich zu seiner ebenfalls am Boden liegenden Frau. Sie bewegt sich nicht mehr. Am Kopf blutet sie.
Der alte Mann versucht alles, um seine Frau aufzuwecken, doch nicht gelingt ihm. Mittlerweile kommen Passanten, die dem Mann helfen wollen. Sie richten ihn auf, zerren ihn, der sich schreiend und weinend mit Händen und Füßen wehrt, von seiner toten Frau weg. Der Fahrer des Wagens hat die Polizei gerufen.
Er wendet seinen Blick von dem Geschehen ab, sieht den anderen Menschen auf der Straße zu. Es gehen fast nur Paare in der Stadt herum an diesem Nachmittag. Hauptsächlich sind es junge Paare die eng miteinander spazieren gehen. An einem dieser Paare stört ihn etwas. Er erkennt von weitem nicht viel und kann nicht genau sagen, was es ist, doch etwas stört ihn. Schnell kramt er aus einem seiner Schränke ein Fernglas heraus. Das Glas ist schon sehr alt, aber es ist gut. Er hatte es sich als Kind gekauft, hatte monatelang sein Taschengeld gespart um es sich leisten zu können. Er setzt sich das Glas vor die Augen und erkennt sofort gestochen scharf jedes Gesicht der Menschen auf der Straße, als stünden sie direkt vor ihm. Er sucht nach dem Paar, was ihn vorhin so gestört hat. Lange schweift sein Blick durch die Straße, viele Gesichter ziehen verschwommen vor seinem Auge vorbei, in einer Geschwindigkeit, in der er nicht jedes erkennen kann, doch dann auf einmal erscheint ein Gesicht, das er kennt. Er kennt es nur zu gut…
Schnell schwenkt er das Glas zurück, lässt es ruhig stehen, sieht in das Gesicht. Es ist eine Frau, eine sehr schöne Frau. Es ist seine Frau.
Sie geht mit einem Mann zusammen durch die Stadt, den er nicht kennt. Sie lacht und sieht sehr glücklich aus. Der Mann legt einen Arm um sie und drückt ihr einen Kuss auf die Wange.
Herbst
Er sitzt wieder alleine im Wohnzimmer vor dem Kamin und starrt ins Feuer. Seine Frau sagte, sie müsse länger arbeiten, aber er weiß, sie ist bei ihrem Geliebten. Anfangs hatte er sich noch gesträubt, daran zu glauben, doch er hat mittlerweile die Gewissheit. Draußen regnet es und ist kalt. Es ist erst sechs Uhr am Abend, trotzdem macht die Sonne bereits Anstalten unterzugehen. Das Kaminfeuer knistert. In der Hand hält der Mann ein Glas, gefüllt mit Whiskey. Er sitzt in seinem Lehnsessel zurückgelehnt und sinnt unter der Wirkung des Alkohols über die Beziehung zu seiner Frau nach.
Tiefe Verzweiflung nagt an ihm und im Kopf malt er sich grausame Dinge aus.
Er würde seiner Frau nie im Leben etwas antun können, dazu liebt er sie viel zu sehr, doch in seiner Phantasie denkt er sich volltrunken aus, wie er sie und ihren Liebhaber brutal umbringen könnte.
In Gedanken erwischt er die beiden im Bett und dann lässt seine Allmachts-Phantasie alles zu…
Schreiend würde seine Frau sich an die Wand hinter dem Bett drücken, der Mann würde, wenn er es wirklich wert war, dass seine Frau ihn mehr liebt als ihren Mann, sich vor sie stellen um sie zu schützen, doch er würde keine Gnade erfahren…
Der Betrunkene Mann sieht vor seinem geistigen Auge Blut fließen, viel Blut, denn er hat seiner Frau die Kehle durchtrennt. Der Liebhaber versucht sich zu wehren, doch der Mann schneidet ihm mit einem Ruck das Genital ab, sodass auch der verblutet.
Der Mann lacht leise über seine Gedankenspiele, eine Regung geht dabei zuckend durch ihn, sodass ihm beinahe das Glas mit dem Whiskey herunter fällt. Etwas von der Flüssigkeit tropft auf die Fliesen.
Er hört, wie ein Schlüssel in das Schloss der Haustür fährt, sich dreht und die Tür aufspringen lässt.
„Schatz, ich bin wieder da!“, sagt sie unerträglich fröhlich. Er sagt nichts.
Sie geht mit lauten Schritten auf ihren teuren, teuren hochhackigen Schuhen durch das Haus und betritt das Wohnzimmer.
„Hast du also wieder getrunken!?“, sagt sie kalt. „Scheiße! Warum tust du uns das an!?? Du verdammter Säufer!!!“
Sie schreit, macht ihm Vorwürfe und seine Trauer und Beklemmung wandelt sich zu unbeschreiblicher Wut.
Er springt aus seinem Sessel.
„Und du!? Hast du ihn also wieder ge••••t, den lieben Mr. Unbekannt? Du hast ihn mir noch gar nicht vorgestellt. Wer ist er? Der Postbote? Der Klempner? Der Milchmann? Seit wann kennt ihr euch? Na, erzähl doch mal ein bisschen von diesem tollen Typen!“
Sie sieht ihn an, erschrocken, bringt nur stotternde Laute hervor.
„Ach ja, und wie ist der Sex mit ihm? Bläst du ihm immer einen? Fingert er dich? Beherrscht er das Kamasutra? Steht er eher auf Sado-Maso? Ist sein Schwanz auch schön lang? Los, raus mit der Sprache! Deinen Freundinnen hast du es doch sicherlich alles schon erzählt, warum nicht auch deinem Mann?“
„Du… du bist widerlich!“ brüllt sie und rennt wieder zur Haustür, öffnet sie, geht raus und lässt die Tür krachend wieder ins Schloss fallen.
Er setzt sich wieder auf den Sessel.
Wo wird sie jetzt wohl hingehen? Wahrscheinlich wieder zu ihrem Typen, sich an seiner Brust ausheulen, er würde sie einmal ordentlich durchnehmen und sie wäre wieder so fröhlich wie vorhin, als sie hereingekommen war. Dann würde sie die Nacht bei ihrem Liebhaber verbringen und morgen vielleicht wieder nach Hause kommen…
Winter
Der Schnee liegt zentimetertief auf den Straßen und den Dächern der Stadt. Seit Tagen wird überall Schnee geschippt und Salz gestreut.
Auf einem Gehweg mitten in der Stadt sitzt ein alter Mann, der seit Jahren obdachlos ist. Er hustet und versucht, sich zu wärmen, in dem er seinen dampfenden Atem in seine Hände haucht. Viele Leute gehen an ihm vorbei doch niemand hat Mitleid und wirft etwas Geld in den Becher, den er aufgestellt hat.
Ein Mann geht an ihm vorbei, der Obdachlose folgt ihn mit seinem Blick, bis in eine alte, verlassene Lagerhalle. Der Alte schaut noch eine Weile zu der Halle, doch der Mann kommt nicht wieder hinaus. Nach ungefähr einer Stunde schläft der Alte hustend ein.
Der Mann hat einen Entschluss gefasst.
Seine Frau war seit jenem Abend im Herbst nicht mehr wieder gekommen. Sie war wohl bei ihrem Typen geblieben. Genau weiß er es nicht, denn seit jenem Abend geht niemand mehr an ihr Handy, doch vor einigen Tagen ist ihm per Post ein Scheidungsformular zugekommen, dass er nun unterschreiben soll.
Doch er will es nicht unterschreiben. Ein Mal, nur ein einziges Mal in dieser ganzen, verdammten Ehe soll sie mal nicht ihren Willen bekommen.
Dafür würde er schon sorgen…
Er sieht sich um- niemand beobachtet ihn, es ist auch längst niemand mehr auf der Straße, außer einem kleinen, alten Mann, der dort auf der Straße eingeschlafen ist.
Der Mann setzt seinen mitgebrachten Rucksack ab.
Er erinnert sich, vor dieser Lagerhalle hat er sie zum ersten Mal geküsst. In der Lagerhalle waren sie wenige Momente später dann noch weiter gegangen und hatten ihre erste gemeinsame Nach zwischen den gestapelten Kisten verlebt. Verrückt…
Es entstand daraus eine sehr leidenschaftliche Liebe.
Bei dem Gedanken überlegte er, kommt Leidenschaft eigentlich von Leiden, oder Leiden von Leidenschaft?
Aber genau deshalb muss es hier passieren, genau deshalb, über diesen Kisten.
Er holt einige Dinge aus seinem Rucksack. Er würde es sich nie eingestehen, doch er spürte, wie Tränen seine Wange hinunter rannen.
Er nahm einen tiefen Schluck aus der mitgebrachten Whiskeyflasche. Leise fing er an, vor sich hin zu singen, während er alles vorbereitete.
„Johnny Walker… jetzt bist du wieder da… Johnny Walker, ich zahl dich gleich in bar… Johnny Walker, du hast mich nie enttäuscht… Johnny, du bist mein bester Freund…“
Er nimmt noch einen Schluck, spürt, wie der Whiskey den Hals hinunter läuft und ihm immer wärmer wird.
„Ich hab’s versucht, ich komm nicht ohne dich aus. Wozu auch? Du gefällst mir ja. Kein Mensch hört mir so gut zu wie du. Und Johnny, du lachst mich auch nie aus.“
Oben an der Decke verlaufen Metallstangen, an denen die kaputten Lampen befestigt sind, die früher dazu da waren, die Halle zu erhellen.
Er wirft das starke Seil, das er mitgebracht hat darüber, klettert auf einen Turm von Kisten, um alles so zu befestigen, wie er das wollte. Dann bindet er in das untere Ende des Seiles eine Schlinge. Von oben sieht er seinen Abschiedsbrief, direkt neben der Whiskeyflasche. Er legt sich die Schlinge um den Hals.
Dann springt er von den Kisten…