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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Im Traum



Scarecrow
31.07.2005, 11:39
Du hast wieder geschrieen und geweint. Ich bin zu dir gelaufen, habe meine Stiefel in Eile und Vorsicht über die zersplitterten Fliesen gleiten lassen. Der Mond hat mir den Weg zu dir geleuchtet. Jetzt bin ich hier bei dir und sehe dich an. Dein von Tränen durchnässtes Gesicht, deine Augen, die in allzu weite Entfernung starren und etwas suchen, das es für dich nicht gibt. Deine Hände, wie sie schmächtig über deinem bebenden Körper ruhen und die löchrige Decke festhalten, die dich bedeckt.
Du siehst mich an und wieder nicht, dein Mund öffnet und schließt sich. Ich höre deinen Atem, wie er rasselnd aus deinen Lungen herausgepresst wird. Du hast Angst.
Ich nehme deine Hand in die meine und drücke sie sanft; der Ausdruck in deinem Gesicht verändert sich.
„Leon?“, fragst du.
„Ja, ich bin hier, Liebes“, flüstere ich dir zu und hauche einen flüchtigen Kuss auf deinen Handrücken.
„Leon...“, und du umarmst, drückst dich an mich. Ich spüre deine Tränen an meiner Haut.
„Da waren Männer, Leon. Sie haben alle getötet, das ganze Dorf. Leon, unser Dorf.“
„Beruhige dich, Anna, du hast nur schlecht geträumt.“
„Es liegt alles in Trümmern, nur mehr Ruinen, sie haben zerstört und getötet, Leon, diese Männer. Sie waren böse.“
Ich streiche dir sanft über den Kopf. „Alles in Ordnung, Liebes, du hast nur schlecht geschlafen.“
„Aber sie haben geschrieen. Und geweint.“
„Nein, du hast geweint“, ich lächle dich an, dein Mondgesicht und berühre sanft dein Gesicht. „Du warst das, weil du einen bösen Traum gehabt hast.“
„Ich habe es doch gehört...“
„Nein, Liebes, das war nur der Fernseher, ich habe ihn zu laut gedreht, es tut mir leid.“
Ich streiche dir durchs Haar und ein kurzes Lichterflackern erhellt dein Gesicht.
Wie schön du bist.
„Es war alles nur ein Traum?“, fragst du mich und starrst dabei durch mich durch in eine Entfernung, die ich nicht erfassen kann.
„Ja, Liebes, das war es. Nur ein Traum. Nichts weiter, als ein dummer, unwichtiger Traum in einer unbedeutenden Nacht.“
Jetzt lächelst du. Du strahlst förmlich im Dunkeln.
„Alles wieder gut?“, frage ich dich.
Du nickst. „Kann ich vielleicht noch etwas zu trinken haben?“
„Aber natürlich.“
Ich gehe hinaus, weiche Brocken und Löchern aus, betrete die Küche. Der Himmel ist klar und ich kann Sterne sehen. Ich hole eine Flasche aus dem Rucksack hervor, der auf dem Boden steht, schüttle sie. Noch etwas drinnen.
Nehme dann noch Tabletten heraus, die mir noch geblieben sind. Du wirst schlafen, Anna, der Fernseher wird wieder leiser sein.
Mit der Flasche gehe ich zurück zu dir. Du hast dich aufgesetzt.
„Hier, Liebes“, und gebe dir das Wasser. Du trinkst es in gierigen Schlücken, der weiße Verband an deinem Hals färbt sich wieder leicht rot.
Du trinkst aus, hältst die Flasche in die Luft. Lächelst. „Danke, Leon, vergiss nur bitte nicht den Fernseher.“
Ich gebe dir einen Kuss. „Natürlich nicht. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
„Schlaf gut, Anna.“
Ich stehe auf, will die Vorhänge zuziehen, aber der zersprengte Fensterrahmen ist im Weg. Der kurze Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass die Glutnester in den Ruinen der Nachbarhäuser noch immer nicht erloschen sind.
Dein Atem wird ruhiger. Wie schön du bist. Die Narben sind da unwichtig.
Etwas heult laut auf und kurz darauf kracht es. Ich hoffe, dass dein Fernseher bereits so leise ist, dass du es nicht mehr hörst.
Du wirst schlafen und hoffentlich nicht mehr so böse träumen. Träume doch von Schmetterlingen und der Sonne. Von Vater und Mutter, wie sie mit den Engeln tanzen.
Ich werde wieder in die Küche gehen und die Waffe neben meinem Rucksack aufnehmen. Mich dann wieder in Stellung legen. Es ist die Zeit der Melder.
Aber das ist unwichtig für dich, mein Liebes.
Wenn du mich brauchst, ruf nur. Ich werde da sein. Du weißt das.
Schlaf gut, Anna.

Lu Sonnengold
31.07.2005, 12:24
Die Geschiche fasziniert mich. Bringt mich dazu Fragen zu stellen. z.B. Wie lange kann Anna noch mit der Illusion alles ist ein Traum leben, daraus folgend wichtigere Fragen wie, wieviel Wahrheit will ich in meinem Leben? Ist es gut aus Schonung angelogen zu werden oder selbst zu lügen?

Ena-Christina

Scarecrow
31.07.2005, 20:23
Hallo Ena-Christina!

Freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Und du stellst genau die richtigen Fragen. Schön, dass du so darüber nachgedacht hast.

Grüße

schreiberling
07.08.2005, 15:11
moin moin

hat sich ziemlich viel verändert hier...
naja,zu deinem Text:
Gefällt mir eigentlich auch ganz gut. Eigentlich, weil ich ihn noch für zu offentsichtlich finde,mir hätte es besser gefallen wenn alles ein bisschen länger, ausführlicher, vielleicht mit ein bisschen mehr Gefühl und Illusion- Realität-Kontrast geschrieben hättest...
aber das ist nur mein Geschmack. Technisch ist er wunderschön- wenn auch wie gesagt viel zu kurz.

Scarecrow
07.08.2005, 20:32
ahoi schreiberling!

schön, dass sich noch jemand mit meinem text befasst hat!

Danke fürs lesen und kommentieren. Ja, die Länge wurde von vielen als Kritikpunkt genommen, leider is das ein Manko bei mir.
Ansonsten freut es mich, dass es dir gemundet hat.

Grüße!

La Cipolla
08.08.2005, 12:08
Wieder einmal ein Meisterstück, wobei ich die Namen weggelassen hätte, sie sind IMHO schrecklich unwichtig. Die Fragen kommen automatisch, man muss sie sich nicht stellen, das beweist, dass du mit deiner Geschichte erreicht hast, was du wolltest. (Hoff ich doch mal. :rolleyes: )
Wie schön Menschen doch Dinge verdrängen können.
Die Länge geht in Ordnung, ich finds eher noch zu lang. Und offensichtlich passt es bei einer solchen Geschichte besser, denn wenn sie die Menschen sogar ohne komplizierte Metaphern und son Zeug zum Überlegen bringt ist sowas meiner Meinung nach auch nicht wichtig.

NeoInferno
08.08.2005, 12:28
Hi,
ich finde die Geschichte ebenfalls sehr gut, nur hättest du diese "Wahrheit" als Schlussüberraschung aufheben sollen, damit der Text einen richtigen Aha-Effekt hat.
An sich wäre ich auch für etwas mehr Länge, weil sich die Geschichte sehr gut liest und gerade zu nach mehr Worten schreit.

Greetz,
Neo

kame85
08.08.2005, 12:43
Ich finde den Text nicht schlecht, wirklich. Hat mir einen kleinen Schauer über den Rücken laufen lassen. Deshalb finde ich es auch gut, dass du die "Wahrheit" NICHT als Schlussüberraschung aufgehoben hast, das hätte einfach nicht denselben Effekt gehabt. Ich meine, dann wäre ich zwar überrascht gewesen, aber das war's auch schon. So aber hatte es beinahe etwas Unheimliches. Was die Länge angeht, muss ich sagen: Wenn du so etwas schreiben kannst, solltest du mal was Längeres versuchen ;)

Cool
08.08.2005, 16:43
Mir gefällt der Text auch sehr gut. Die Länge passt meiner Meinung nach genau. Du wolltest deinem 1. Antwortpost nach zu schließen erreichen, dass sich einem bestimmte Fragen aufdrängen, und das hast du so acuh erreicht. Hättest du länger geschrieben würde das nur in die Länge gezogen wirken. Für den Effekt passt das genauso. Geschichten müssen nicht unbedingt immer lang sein.
Auch finde ich passt es so, dass man langsam in die Wahrheit eingeführt wird. Somit beschäftigt man sich schon während dem Lesen mit verschiedenen Fragen statt mit der Überraschung wenn es erst ganz am ende gekommen wäre. Außerdem fügt es sich so gut in den Text ein.
Meiner Meínung nach ein super Text den du ruhig so lassen kannst ^^

Scarecrow
08.08.2005, 21:48
wow...


Also einmal hallo an:
La Cipolla, NeoInferno, kame85 und cool!

Euch einen schönen Dank fürs lesen und euren Kommentar. Es freut mich wirklich, dass die kleine Geschichte auf durchwegs positive Resonanz trifft, wobei mich La Cipollas Kommentar ("Wieder mal ein Meisterstück") schon ein bisschen verlegen werden hat lassen :)
Endlich kommen auch einmal Meinungen, dass die Länge so passt und ja, ich wollte erreichen, dass man sich Fragen stellt und darüber nachdenkt, deshalb finde auch ich die Länge in ordnung. Schreit der Text tatsächlich so laut nach mehr Worten? Könnten mehr Worte nicht auch etwas zerstören?

Euch allen nochmal vielen Dank und schön, dass ich eure Gedanken anregen konnte!

Schöne Grüße!