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Scarecrow
28.06.2005, 18:04
Es ist schön mal wieder draußen zu sein.
Trotz des infernalen Regens, trotz der Luft, die von Trauer geschwängert ist. Der Friedhof liegt schweigend unter dem tobenden Firmament und alles erscheint mir irgendwie weit weg. Nur wenige haben sich eingefunden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Roman ist nicht nur mein Freund gewesen. Er war mehr ein Bruder für mich, jemand, der mich verstanden hatte. Und nun ist er tot. Der Pfarrer spricht Worte, nichts als Worte, die nicht ausdrücken können, was die Anwesenden empfinden. Worte, die zu schwach sind, um dieses Elend zu beschreiben, das diesem jungen Menschen widerfahren war.
Ich habe ihn geliebt. Meine Gedanken beginnen zu kreisen. Ich hebe den Blick zum Himmel. Der Regen tut wohl, fast so, als würde er versuchen, all meine Sorgen einfach wegzuwaschen. Ich kann nichts mehr dagegen tun. Ich sehe mich ...

*

... neben ihm stehen. Roman weiß seit zwei Monaten von der Krankheit, die ihn befallen hat und ihn Tag für Tag richtet. Manchmal geht der Prozess schneller voran, dann wieder in Schüben, oder eine Zeitlang gar nichts. Multiple Sklerose, sagen die Ärzte.
Der See im Park liegt ruhig vor uns, die Sonne, die gerade untergeht, taucht die Szene in ein tiefes Rot. Graugänse schwimmen vor uns und Kinder spielen lachend auf den Wiesen am Rand. Romans Hand ist nach hinten verkrümmt, sein Atem geht stoßweise. Er muss sich zusammenreißen, um nicht zu zittern. Mein Herz ist von Trauer umklammert, wenn ich ihn so sehe.
Ich höre ein Lachen und ein Ball rollt zu uns, der von den Kleinen kommt.
Romans Augen leuchten, er lächelt und will ihnen den Ball zurückschießen. Es ist so wunderbar, ihn in jener Begeisterung zu sehen, wie sie früher für den Fußball da war, aber als er das Leder kicken will, knicken ihm die Füße ein und er stolpert über den Ball. Ich höre ein Aufheulen und eile zu ihm. Die Kinder lachen, Romans Körper vibriert. Seine Zähne knirschen. Das Wasser steht ihm in den Augen.
„Ist dir was passiert?“, frage ich ihn.
„Nein“, bringt er unter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nur...“
Ich weiß, was er sagen will, noch bevor er es ausspricht.
„Ich wollt nur den Ball zurückschießen. Du weißt schon, wie früher...“ Seine Stimme bricht ab, wird zu einem heiseren Flüstern. „Ich schaff das nicht mehr.“
„Doch, du packst das.“ Ich knie mich nieder, hebe den Ball auf und gebe ihn den Kindern zurück. „Du wirst sehen, man kann dir helfen.“ Was soll ich denn sonst sagen?
„Peter“, haucht er. „Sie haben mir gesagt, dass es keine Chance auf Heilung gibt.“
„Sie...“
„Es wird nur schlimmer. Ich spür’s. Schau doch: ich knick ein, sobald ich mich schneller bewege.“
Er ist ein guter Fußballer gewesen.
„Es tut mir Leid.“ Er weiß, dass es ehrlich gemeint ist. Wir sind Brüder.
Nun lächelt er; zwischen den tränennassen Augen sehe ich Hoffnung aufglimmen.
„Aber du stehst zu mir? Immer?“, fragt er mich.
„Für immer.“
„Danke, Peter.“
Ich helfe Roman auf, dann klopfe ich ihm auf die Schultern. „Nur nicht aufgeben.“
„Solang ich noch die Sonne seh, besteht Hoffnung.“ Er grinst mich an und wir gehen den Weg langsam nach Hause.

Drei Wochen später. Ich steige die Stufen zu seinem Haus hinauf. Es ist schlimmer geworden. Er kann nicht mehr gehen und er sieht bereits um einiges schlechter. Roman ist verzweifelt, seine Eltern kümmern sich rührend um ihn und ich selbst besuche ihn so oft, wie es mir neben der Schule nur möglich ist.
Seine Mutter umarmt mich fest und hat Tränen in den Augen. „Roman ist gerade munter geworden. Er freut sich schon darauf, dich zu sehen.“ Sie führt mich, wie immer, zu seinem Zimmer und öffnet leise die Tür. „Peter ist da“, dann tritt sie zurück und ich gehe in den Raum.
Es riecht frisch und die Sonne strahlt durchs Fenster herein.
„Hallo Peter.“ Seine Stimme ist brüchig; von der einstmaligen Festigkeit ist nichts mehr da.
„Grüß dich, Roman, wie geht’s?“
„Das Rumliegen wird zur Qual.“
„Das kann ich mir denken.“ Ich ziehe den Stuhl zu seinem Bett heran.
„Wie war die Schule?“
„Ich hab auf BWL eine Zwei.“
Roman lächelt. „Gratuliere. Du warst schon immer gut darin, Rechtsformen zu erklären.“
Einen Moment lang höre ich nur seinen Atem, dann fragt er: „Ist Mutter aus dem Zimmer?“
Seine Frage ist wie ein Stich ins Herz. Ist es bereits so schlimm?
„Ja.“
„Die Tür zu?“
„Auch.“
„Peter?“
„Ja?“
„Ich hab Angst.“
Worte, aber können sie denn ausdrücken, wie er wirklich fühlt? Wie er leidet?
Dann gebe ich ihm die dümmste Antwort, für die ich mich sofort ohrfeigen könnte.
„Warum denn, Roman?“
Seine Stimme fällt ab, zu einem Flüstern, weniger noch, einem Hauch von einem Ton.
„Heute haben wir den Befund erhalten. Eine Art Prognose.“ Kurz hält er inne. „Die Krankheit schreitet voran, unaufhaltsam. Die Medikamente zeigen keine Wirkung. Bald werde ich meine Hände nicht mehr benutzen können.“
Mir ist zum Heulen zumute, versuche etwas Positives herauszubringen, aber kann es nicht. Was soll ich ihm den sagen? Ich will nicht mehr. Die erste Träne bahnt sich ihren Weg an meiner Wange hinunter und stirbt auf meinen Lippen. Ich schweige.
„Ich hab keine Kraft mehr, lediglich, wenn sich alles zusammenkrampft, ja, dann spüre ich meinen Körper noch“, flüstert Roman. „Ich seh die Sonne nicht mehr.“
Ich packe ihn an der Hand, die er mir entgegenhält. Er hat die Hoffnung aufgegeben. Seine Sonne, sein Glaube sind fort. Ich fühle mich elendig.
Tränen tropfen von meinem Kinn, eine von ihnen berührt seine Haut.
„Weinst du, Peter?“
„Aber wo denn.“ Meine Stimme ist leider nicht so sicher, wie ich es gern hätte.
„Doch, du weinst.“ Ich sehe, wie auch seine Augen wässrig werden.
„Die Welt ist so gemein. Das hast du nicht verdient. Warum du? Warum?“ Was rede ich? Gedanken kreisen, schlagen Purzelbäume, fühlen sich wirr an und drehen sich dann weiter.
„Die Ärzte, können sie dir nichts geben? Bitte ... irgendwas.“
Roman schüttelt den Kopf. „Multiple Sklerose ist nicht heilbar.“
Ich sinke vor seinem Bett auf den Boden, umklammere ihn, will ihn nicht mehr loslassen. Warum mein bester Freund? Seiner Beweglichkeit beraubt, gerade er, der begeisterte Fußballer. Er ist in die Kirche gegangen, war sehr gläubig. Hat regelmäßig gebetet. Warum er?
Schließlich bricht Roman die Stille, die eingetreten ist. Seine Stimme ist so schwach und ohne Hoffnung.
„Peter, beschreib mir bitte, wie es draußen aussieht.“
Mit der Rechten wische ich mir die Tränen aus den Augen, dann stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Mit schwankender Stimme beginne ich ihm zu erzählen, was ich sehen kann.

Einen Monat später liegt er auf der Intensivstation. Roman muss künstlich ernährt werden, er kann nicht mehr richtig sprechen. In zwei Wochen ist sein einundzwanzigster Geburtstag. Als ich von der Schule nach Hause komme, liegt ein Brief auf meinem Schreibtisch. Er ist von Roman. Ich öffne ihn und lese, dass er ihn bereits vor fünf Wochen geschrieben hat. Dann gehe ich Zeile für Zeile durch. Nach dem ersten Mal lese ich ihn noch ein zweites und drittes Mal.
Ich kann eine ganze Woche lang nicht schlafen, bin fast nicht ansprechbar und ich besuche Roman in dieser Zeit auch nicht.
Seine Worte hallen mir Tag und Nacht durch den Kopf, sie wollen mich nicht in Frieden lassen. Sein flehentlicher Brief, als er noch etwas gesehen und ihm sein Körper noch teilweise gehorcht hat.

Ich liege wach, träume schlecht, kann nicht mehr einschlafen. Worte, Worte, nichts als Worte. Und Roman. Warum? Warum nur? Kann er das von mir verlangen?

Zwei Nächte später offenbart sich mir die Antwort. Er kann.
Für Immer.
Morgen ist sein Geburtstag.


Ich sehe mich, wie ich im Krankenhaus neben ihm sitze, seine verkrampfte Hand halte und mit ihm spreche. Heute ist Roman einundzwanzig geworden.
„Ich hab darüber nachgedacht. Ich ... ich wollte zuerst nichts tun, aber das ist nicht richtig. Obwohl, ist es richtig, was du von mir willst?“
Roman kann mir nicht mehr antworten. Er bleibt stumm. Seine Augen starren ins Leere, aber er versteht mich, ich spüre es an dem Druck seiner Hand. Aus seinem Mund rinnt Speichel. Ich wische ihn mit der bloßen Hand weg.
„Es wird mir niemand glauben, niemand.“ Ich warte. Er drückt meinen Finger.
Ich weine. „Ich vermisse dich so sehr.“
Seine Augen sind ein einziger, traurig blauer Ozean.
„Ich liebe dich.“ Dann presst er so fest meine Hand, dass es weh tut. Eine Absolution.
Ich hole aus meinem Rucksack die Waffe hervor, die ich aus dem Schrank meines Vaters gestohlen habe. Es ist niemand anderer im Zimmer. Es gibt keine Zweifel, es ist recht so. Würde er noch reden können, würde er sagen: ‚Tu es, tu es. Befrei mich von diesem Leiden. Bitte.’ Aber seine Augen sagen mehr als tausend Worte.
„Ich liebe dich“, flüstere ich noch einmal, dann halte ich ihm die Pistole an die Stirn.

Das Nächste, an das ich mich erinnere ist, dass ich am Boden liege. Meine Hände sind auf den Rücken gedreht. Leute schreien. Jemand weint. Nicht nur ich.
Romans Blut ist in meinem Gesicht, auf meinen Händen. Alle laufen herum. Ärzte versuchen ihn wiederzubeleben, ich will schreien, dass sie aufhören und ihn ruhen lassen sollen. Ich bin zu schwach, weine, aber in Gedanken bin ich bei ihm, der endlich erlöst ist. Ich werde wieder ruhig schlafen können und Roman wird, egal wo er nun sein mag, endlich wieder laufen können. Alles andere ist unwichtig.

*

Der Regen hat nicht nachgelassen. Das ist Begräbnis vorbei. Nur wenige sind noch auf dem Friedhof, der Pfarrer hat längst das Grab verlassen. Ich stehe davor. Meine Hände zittern.
„Ich hab’s für dich getan. Weil du es mir gesagt hast“, sage ich zu dem Sarg, der mit Erde bedeckt ist. „Ich hoffe, du weißt nun, egal, wo du bist, dass ich es ernst gemeint habe. Für immer.“
Ich erhalte keine Antwort. Aber der Regen lässt nach. Ein Zeichen?
Jemand spricht mich an. Ich drehe mich um.
„Lassen Sie uns gehen, Herr Sehler.“
Ich nicke geistesabwesend, mache das Kreuzzeichen und atme tief ein.
Romans Weg endet hier. Vielleicht beginnt er woanders neu.
Mein altes Leben endet auch hier. Und mein neuer Weg beginnt jetzt. Es wird nicht leicht. Soviel ist sicher. Und doch weiß ich, dass Roman bei mir ist und mir Kraft geben wird.
Für immer.
Langsam drehe ich mich um und verlasse, von zwei Polizisten in Trauerkleidung flankiert, den Friedhof.