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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Morgentau



NeoInferno
22.03.2005, 11:54
Hi, bin leider immer noch offline, reicht gerade mal um folgende, diesmal etwas längere Geschichte zu posten. Ich hoffe die Länge schreckt euch nicht ab, viel Spass damit :)

Morgentau

„Wenn eine Großstadt reden könnte, was würde sie uns wohl erzählen?“

Große Städte erkennt man an den vielen Aussichtsplattformen, die gibt’s hier überall, große und kleine, aber immer mit einem Fernglas an einem Gestell, zum Durchgucken. Heute ist es nebelig und es nieselt leicht. Windig ist es auch, etwas, aber auch nur, weil wir hier so hoch oben sind. In die Stadt kommt der Wind nie, schließlich hat sie ihren eigenen Wind, grau und stickig ist er. Deshalb bin ich auch so gerne hier oben, über den Dingen irgendwie.

„Dass sie nicht frei atmen kann und gerne sein würde wie der Wald, mit Maikäfern und Morgentau, das würde sie sagen.“
Heute bist du mit dem Zug hergekommen, wolltest mal sehen wie ich lebe.
„Eigentlich lebe ich gar nicht da unten, sondern hier oben, unten verbringe ich nur ab und zu Zeit, vielleicht zu viel, aber nur, weil’s nicht anders geht.“, habe ich gesagt.
„Und Sonnenaufgänge sehen von hier oben besonders schön aus, die wirklich schönen sind aber selten, wegen dem Nebel, der irgendwie immer da ist, leider.“

Warum deine Oma so oft Pullover strickt, habe ich zuerst nicht verstanden. Du hast mit deinen Eltern, Großeltern und deinen Geschwistern zusammengelebt in einem Haus weit weg von hier, und an sich auch weit weg von allem, was ich kannte. Trotzdem hattet ihr immer genug zu essen, habt euch gefreut, wenn Küken geschlüpft sind in der Scheune, und im Kaffee schmeckte eure Milch auch viel besser als unsere. Im Winter habe ich dir oft beim Holzhacken geholfen, ihr musstet noch mit Holz heizen, und nach der Arbeit lagen wir dann vor eurem Kamin mit einer Tasse warmen Tee mit eurem Honig drin, und du hattest den Pullover von deiner Oma an und deinen Kopf an meine Schulter gelehnt. Erst als ich dich öfters besucht hatte, habe ich gemerkt, dass dein Pullover viel weicher ist, und wärmer, als alle, die es bei uns zu kaufen gibt. Du hast dann deine Oma gefragt, ob sie mir nicht auch einen stricken könnte. Sie lächelte nur, in ihrem Schaukelstuhl vor dem Kamin. Als ich dann eine Woche später wiederkam, hatte sie ihn schon fertig, habe ihn danach ganz oft getragen und mich irgendwie immer sicher gefühlt dabei.

In den Ferien war ich dann zwei Wochen lang bei euch, und dein Vater hat mir gezeigt, wie das geht, mit den Schafen. Um sechs ging die Sonne auf, und ich öffnete gerade mal die Augen, weil ich vom Krähen des Hahns wach geworden war. Eigentlich wollte ich mich zu dir umdrehen und weiterschlafen, aber du standst vor mir, fertig angezogen und mit frischgebrühtem Kaffee in der Hand, meintest mit einem Lächeln, ich sei das wohl nicht gewohnt in der Stadt, ich nickte verschlafen, stand dann auch auf.
Und aus dem Fenster sah ich den Sonnenaufgang und den Morgentau, dann hast du meine Hand genommen, aber nichts gesagt, weil mir kein Wort hätte erklären können, warum der Anblick so schön war und es in mir so warm wurde.
So standen wir dann, bis die Sonne ein kleines Stück höher war und du gesagt hast, ich könnte doch hier bleiben, bei dir.
„So einfach geht das leider nicht…“, habe ich gesagt. Dabei waren das irgendwie nicht meine Worte, weil ich wirklich nicht wusste, warum es nicht ging, hab’s nur gefühlt und war traurig deswegen.

Man muss die Schafe schon früh auf die Wiesen bringen, hat dein Vater gesagt, und dass der Mensch eigentlich egal sei und nur die Hunde wichtig sind. Und wie in einem dieser Filme brauchten die Hunde nicht einmal zu bellen, rannten nur die ganze Zeit um die Schafe herum und sahen dabei glücklich aus. Die Wiesen waren nicht weit weg von eurem Haus und die Hunde wussten, wo die Schafe hinsollten, dort haben wir uns dann einfach so ins Gras gelegt, und mir ist aufgefallen, dass ich eigentlich noch nie so richtig im Gras gelegen habe bisher, weil’s bei uns so wenig davon gibt. Du hast dich dann etwas über mich gebeugt, vor die Sonne, dein Gesicht war ganz nah über meinem, und hast geflüstert, dass du traurig bist, weil ich morgen schon wieder weg muss und deine Augen funkelten etwas. Da habe ich gedacht, es regnet hier deshalb so selten, weil du den ganzen Regen in deinen braunen Augen hast, sie funkelten nämlich auch sonst immer ein wenig, wegen dem Regen, bestimmt.
Ich bin dann etwas höher gekommen und habe dich geküsst, zum ersten Mal, in der Mittagssonne, und dir gesagt, ich komme wieder so oft ich kann und dass du mich auch mal besuchen sollst.

Abends saßen wir dann alle an einem Tisch und haben gegessen und gelacht, und deine Oma meinte, wenn mir mal wieder kalt wäre, würde sie mir gerne noch einen Pulli stricken, und ich fühlte irgendwie, dass es zu Hause wirklich viel kälter werden wird als hier und habe gelächelt und genickt.
Draußen war der Himmel so klar, wie er nur dort sein konnte, und er war nicht schwarz, sondern blau, als würde die Sonne sich nur kurz ausruhen und auf das Krähen des Hahns warten, um wiederzukommen. Als später alle schon schlafen waren, haben wir noch lange am Tisch gesessen und geredet, über mein Studium, und über deine Pläne, dass du mal Tierärztin werden willst, und warum sich eure Hunde und Katzen eigentlich nie streiten.
Irgendwann war dann das Feuer im Kamin aus, der Raum war aber trotzdem noch sehr hell, weil der Mond so voll und so weiß war. Wir haben dann einfach aus dem Fenster geguckt in die Sterne und nichts mehr gesagt, und ich habe gespürt, dass ich diese Wärme vermissen werde.
Am nächsten Morgen hast du mich dann alleine zum Bahnhof gebracht. Bevor ich in den Zug eingestiegen bin, haben wir uns lange umarmt, und ich sagte, dass du nicht traurig sein brauchst und ich bald wiederkomme, weil dein Vater mir doch zeigen wollte, wie das mit der Wolle geht. Ein letzter Kuss und ich stieg ein. Ich habe mich immer gefragt, wie lange du noch dort warst, und dem Zug nachgesehen hast, bis er verschwunden war, im Nebel.

Danach haben wir uns nur noch ein Mal gesehen. Ich sagte, dass ich bei einer großen Firma eingestellt wurde und sie dort sehr gut bezahlen, ich aber auch viel arbeiten muss und deswegen nicht mehr so viel Zeit habe, ich dich aber anrufe, so oft ich kann.
Ich habe dich nie wieder angerufen.

„Ja, Maikäfer und Morgentau, so was fehlt uns hier wirklich…“
Zehn Jahre später stehen wir nun hier auf dieser Aussichtsplattform, zum ersten Mal gemeinsam, und schauen in den Nebel, der die schlafende Stadt umhüllt.
Du sagst, dass dein Traum in Erfüllung gegangen ist, und du Tierärztin bist und eine kleine Tochter hast, Annie, und mit ihr und deinem Mann immer noch in dem alten Haus deiner Familie wohnst, mit den vielen Tieren im Hof.
Ich habe irgendwie vergessen für welche Firma ich hier arbeite und warum ich mich eigentlich nie wieder gemeldet habe. Dafür weis ich wieder, warum ich immer frühs zu dieser Aussichtsplattform komme und mir so gerne die Sonnenaufgänge ansehe.
Zehn Jahre lang habe ich nämlich nach dem Morgentau gesucht, hier oben, und erst jetzt begriffen, dass es nur einen Ort gab, an dem ich ihn hätte finden können.

schreiberling
22.03.2005, 21:07
hmm...
ich hatte mir schon überlegt, ob ich zu den Katzen was schreiben sollte, aber jetzt muss ichs wohl tun...

es ist natürlich mal wieder gelungen, die Rückblende ist wunderbar eingebaut...
die Sätze sind wahnsinnig lang, meistens so lang das sie wirklich schön sind ohne sich zu verlieren, nur einige, wenige, verlieren sich dann doch... sonst hast du ein Superhändchen dafür.
Ja,sonst,was will man sagen... mir fällt irgendwie "kitschig" ein, obwohl es das nicht trifft... es ist mehr als kitschig, weil kitschig für mich eigentlich in erster Linie trivial,alt,schnulzig, bedeutet. Aber eben dies ist es nicht, jeden Falls nicht so sehr dass es mich stören würde, noch nicht, wenns kitschiger wird... im Moment ist es mehr Herzschmerz mit Nachdenken.
Eigentlich sehr schön zu lesen abends.
aber pass auf,dass du nicht zu weit in deinen "kitsch" abgleitest... ;)