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schreiberling
19.03.2005, 20:51
Die Standuhr

Sie steht, die Standuhr, in der Ecke. Tick Tack.
Langsam, Tick Tack, läuft die Zeit durch sie. Und auch über die Wand hinter ihr, ganz grau ist sie schon. Und staubig ist die Standuhr, die alte.
Sie bläst in das Meer der Zeit, lässt jede einzelne Welle sanft gegen die Küste branden, jede einzelne Welle. Tick Tack.
Das ist ihre Aufgabe, einzig Sinn und Zweck ihres Daseins.
Na ja, eigentlich ist Sinn und Zweck ihres Daseins dem Opa eine Freude zu machen. Denn der hat die schon von seinem Opa, und der wieder von seinem Opa. Und der freut sich immer wenn er morgens bei seinem Kaffee die Zeitung liest und das leise Ticken ihm sagt, wie viel Zeit er noch hat, bis die anderen laut ins Zimmer stürmen, das Ticken verstummt, und sie nach Essen fordern.
Unweigerlich, Tag für Tag gibt sie die Zeit an, teilt die Minuten zärtlich, aber rigoros, in ihre 60 kleinen Untermieter. Beschwert über ihre Arbeitsweise hat sich noch keine Stunde, Minute oder Sekunde. Sie ist eine ordentliche Standuhr, etwas älter vielleicht, aber ordentlich. Und es waren viele Stunden, Minuten und Sekunden.
Nur die anderen die beschweren sich immer, die rennen ins Zimmer, rufen „so spät schon“ und setzen sich eilig. 487 neue Untermieter später springen sie dann wieder auf, die anderen, und schreien „oh, jetzt muss ich mich beeilen“ oder „jetzt komme ich zu spät“. Manchmal gucken sie sogar provozierend aufs Armgelenk, auf die junge, digitale Armbanduhr.
Sie behandeln die alte Standuhr als ob sie hässlich wäre, immer müssen sie gehen wenn sie sie sehen. Dabei würde die alte Standuhr ihnen gerne einen Gefallen tun und einmal lauter ticken, wenn sie weiß wann die anderen wieder weg müssen. Aber das geht ja nicht. Deswegen fühlt die alte Standuhr sich nicht wohl. Sogar hässlich fühlt sie sich in schweren Momenten. Die kommen zur Zeit immer öfter, langsam wird sie alt.
Egal ob es draußen regnet, schneit oder die Sonne scheint. Ja, sogar in der Nacht arbeitet sie. Tick Tack. Nur da bemüht sich leise zu ticken, tick tack, damit der Opa beim Schnarchen nicht gestört wird.
Aber jetzt, wo mal wieder der Mond milchig scheint, die Sterne wie winzige Milchtropfen perlen und sie siebenmal ticktack macht bevor der Opa wieder schnauft, jetzt hat sie Zeit nachzudenken. Sie nimmt sie sich einfach. Das hätte sie früher nie gemacht, jetzt darf sie das. Heute geht sie aber nicht ihrem Faible nach, dem Sternengucken. Wie romantisch, denkt sie sich sonst immer, dort oben gibt es keine Zeit. In solchen Momenten zählt sie einfach nur noch Opas Schnarcher, dann weiß sie wie viel Zeit vergangen ist.
Heute denkt sie über etwas anderes nach, etwas wichtiges. Alt bin ich, sagt sich die alte Standuhr, oft schmerzt der kleine Zeiger und auch das Uhrwerk verzieht sie sich immer wieder. Geölt werde ich sowieso nicht, nur wenn’s dem Opa mal einfällt. Und das tut es selten. Die anderen rennen vor mir davon. Die digitalen Uhren sind arrogant, mit denen kann man sich nicht mal unterhalten. Zeit habe ich auch keine. Das ist mein Leben. Das soll mein Leben sein.
Und so beschließt die alte Standuhr ihren Dienst zu verweigern. Ich will nicht mehr, sagt sie, ich will ab jetzt leben. Ein letztes schönes, aber leises, tick tack gibt sie noch von sich, dann verstummt sie wohlgefällig. Die sollen doch sehen wie sie ohne mich zurechtkommen. Ich gönne mir jetzt einfach mal die Ruhe, vielleicht mache ich auch Urlaub.
Am nächsten Morgen fällt dem Opa als erstes auf, dass die alte Standuhr nicht mehr tickt. Während er seine Zeitung liest und seinen Kaffee trinkt ist es stumm. Jetzt weiß er nicht mehr wann es Mittagessen gibt und die anderen ins Zimmer gerannt kommen.
Er überlegt sich was er denn nun tun könne, bis der erste herein gerannt kommt und ruft „oh, schon so spät“. Da berichtigt ihn der Opa und sagt dem anderen, dass die alte Standuhr heute still steht. Alle anderen kommen auch hinzu, und es wird diskutiert was denn mit der alten Standuhr getan wird. Die anderen sind dafür, sie nun endlich loszuwerden und sie auf den nächsten Sperrmüll zu entsorgen. Der Opa ist dagegen.
Beim nächsten Sperrmüll steht die alte Standuhr auf der Straße. Der Wind bläst den Staub ab.
Urlaub, freut sie sich.