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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Schnee und Schein



NeoInferno
01.03.2005, 22:27
Hier ein kleines Experiment von mir, gerade fertiggeschrieben, Kritik erwünscht.

Schnee und Schein

„…und das ist eine totalitäre Diktatur“

Schon seltsam. Satzfragmente reichen aus, um sich im Kopf seine eigenen Geschichten zusammenzubauen. Wenn man dann noch die Kameraperspektive korrigiert, hier und dort ein Licht an- oder ausschaltet und einige Szenen hinzufügt oder kürzt hat man eine ganz neue Welt, eine kleine bunte Welt mit einer Tür, die man nur öffnen kann, wenn man das Passwort kennt.

Ich denke nicht an Franco oder Mussolini, die haben kein Passwort für die Tür. Stattdessen denke ich daran, wie viel Strom man sparen könnte, wenn man diese 50 Watt Glühbirnen im Himmel durch Stromsparlampen ersetzt. Leider würde dann diese alte Holzhütte, die man von meinem Sitzplatz gerade noch so durch das Fenster sehen kann, nicht mehr so herrlich blau schimmern. Blau, weil es noch früh ist, und weil Schnee liegt, und weil (ich habe mich schon immer gefragt warum) der Schnee das Licht und die Schatten immer bläulich färben. Ich habe Angst, dass Stromsparlampen eine andere Farbe haben.

Seltsam. Wenn ich mich im Klassenraum umschaue sehe ich keinen Lehrer, der anhand einer Skizze die Merkmale des Totalitarismus erklärt und keine Schüler die sich eifrig Notizen machen. Ich sehe Leere. Wir alle haben so viel in unseren Heftern zu stehen, viele schlaue Definitionen, die wir für Tests und Klausuren bis früh, wo alles noch blau ist (aber nur wenn Schnee liegt), lernen, aber irgendwie sehe ich nichts hinter der Schrift. Ich meine, ich weis, ich habe etwas geschrieben. Und doch steht dort nichts, der Lehrer an der Tafel sagt nichts, die Schüler die sich melden und etwas sagen, sagen nichts.

Manchmal suche ich die Fernbedienung für unseren Klassenraum. Ich will den Ton lauter drehen, vielleicht auch noch etwas zurückspulen, um den Mond noch einmal zu sehen. Oder die Sterne, obwohl die so viel Energie verbrauchen, aber was kümmert es mich, ich bezahle die Stromrechnung nicht.

Und dann schneit es. Ich will auf Pause drücken, habe aber die Fernbedienung noch nicht gefunden. Ich würde mich ja melden, und nach ihr fragen, ich habe aber Angst, dass sich das ziemlich albern anhören würde. Man muss es sich nur vorstellen, ganz fest, dann vergeht die Zeit auch langsamer. Und dann siehst du Schneeflocke für Schneeflocke langsam auf dem Dach der alten Holzhütte landen. Du könntest sie zählen, dann könntest du eine Strichliste in deinem Hefter anfangen, um ihn endlich mit etwas zu füllen. Denn die Schneeflocken sind definitiv da, das andere Zeug in deinem Hefter nicht.

Schon seltsam, wie wir unsere Zeit verbringen. Die einen, indem sie nichts sagen, die anderen, indem sie eine Schnee-Inventur durchführen. Man könnte meinen, nichts sagen kann man auch im Schlaf, also wozu hier sitzen. Das erstaunliche ist, dass man in einer Nacht in seinen Träumen mehr redet, als in einem ganzen Schuljahr, dass dies nur niemand mitbekommt, weil wir das Sprechen an sich verlernt haben, und stattdessen irgendetwas anderes gelernt haben.

Und dann packe ich meine Sachen und gehe. Wenn man es nur will, vergeht die Zeit langsamer. Ich sehe wie der Lehrer mir verdutzt nachschaut und seinen Mund dazu bewegt, ganz langsam, und wie sich die Schüler nach mir umdrehen, aber nichts sagen. Ich kenne das Passwort für die Tür unseres Klassenraumes. Ich bin weg, und war eigentlich nie wirklich hier, habe immer nur so getan, wie der Lehrer nur so tut als würde er sprechen und die Schüler so tun als würden sie lernen.

Alles nur eine Scheinwelt, alles unecht, außer der Schnee. Ich forme mir einen Schneeball und packe ihn in meinen Rucksack. Wenn er morgen nicht getaut ist zeige ich ihn meinen Mitschülern, dann werden sie begreifen, und ihre Hefter wegwerfen.
Und anfangen zu leben.

Serpico
02.03.2005, 02:22
...was soll ich sagen, du sprichst mir aus der seele - nicht mit worten, sondern mit dem emotionalen gerüst in deinem schreiben ...ich habe beim lesen ein Adagietto von Gustav Mahler gehört, dessen noten er seiner frau als liebesbrief geschickt hat und ich wusste jetzt nicht, was ich schöner finden sollte, den text oder die musik ...ich möchte hierbei auf den begriff schönheit ganz explizit als ideal hinweisen - etwas, das über den dingen steht und sie nicht einfach beschreibt - mit schönheit beschreibt man keine dinge, dinge beschreiben die schönheit - diese romantische vorstellung kommt mir bei dieser geschichte, die zwar irgendwie keine eigentliche handlung hat, aber genau das wichtigste sagt (genauso, wie das ende von american beauty) ...es erinnert mich auch stark an mein "Kaffee Straße", in hinsicht auf das ende ...ich fühle mich ernsthaft berührt und komme auf einen berg an gedanken:

- ich sollte wirklich langsam mal zu ein paar texten hier im atelier musik machen
- ich fühle mich ermutigt, selber mal wieder bei Sambikisaru weiterzuschreiben
- es ist zwar nur ein gedanke, aber: stelle dir mal einen text von dir, schreiberling, zareen und mir vor - die emotionale dichte von dir, die eleganz und ausdrucksweise von schreiberling, die tiefe melancholie und fantasie von mir, die direktheit von zareen - nur ein gedanke, aber ich finde ihn verlockend


...ich danke dir

toho
02.03.2005, 06:09
Du könntest sie zählen, dann könntest du eine Strichliste in deinem Hefter anfangen, um ihn endlich mit etwas zu füllen. Denn die Schneeflocken sind definitiv da, das andere Zeug in deinem Hefter nicht.
Das war gerade das wahrste, was ich bisher hier gelesen habe.


Alles nur eine Scheinwelt, alles unecht, außer der Schnee. Ich forme mir einen Schneeball und packe ihn in meinen Rucksack. Wenn er morgen nicht getaut ist zeige ich ihn meinen Mitschülern, dann werden sie begreifen, und ihre Hefter wegwerfen.

Warum gibt es Menschen wie dich nicht öfter? Dann müsste es nicht solche Geschichten geben...aber das wäre auch irgendwie schrecklich^^

La Cipolla
02.03.2005, 07:15
Tut das mal (So ne Gemeinschaftsgeschichte), aber lassts nicht zu philosophisch werden, sonst bring sich hier noch einige Leute um. -.-°
Zum Text: Erstmal im vollem Ernst, ich find ihn absolut genial, die Frage ist nur, ob es so sinnig ist, einen Text über die Scheinrealität der Gesellschaft in einem Internetforum zu posten, erscheint mir irgendwie widersinnig. :rolleyes:

NeoInferno
02.03.2005, 14:37
Danke Leute,
vor allem Serpico's Kommentar liest sich fast noch poetischer als meine Geschichte, solche Kritiken erinnern einen wieder daran, warum man schreibt.

Als ich die Geschichte gestern abend/nacht schrieb, war sie eher als kleines Experiment gedacht, sie ist nicht besonders sorgfältig ausgearbeitet, sondern enstand aus dem Moment heraus, aus einem Strom an Gedanken und Erinnerungen. Ich hätte nicht gedacht, dass die derart positiv bewertet werden würde. Vor allem finde ich die Gratwanderung zwischen abstrakten, philosophischen Inhalten und einer fast realen Begebenheit sehr streitbar. Ich befürchte ich habe zu viel Schule eingebracht, bin vielleicht auch an der ein oder anderen Stelle zu trivial geworden, aber anders ließ sich das leider nicht lösen. Vielleicht sehe ich das aber falsch und gerade die Kombination wertet die Geschichte auf.
Als Autor hat man eh nicht die nötige Distanz zum Werk, um objektiv werten zu können.

Und ihr werdet lachen, aber diese Szene ist quasi autobiografisch, in diesem Raum sitze ich wirklich an diesem Platz und sehe aus dem Fenster das, was ich beschrieben habe.
Nur mache ich mir da nicht solche Gedanken, dazu hab ich schließlich keine Zeit wenn ich aus dem Fenster schaue (wirklich ein schöner Anblick) ;)

Zur Gemeinschaftsgeschichte (?): Ich halte von sowas nichts, sorry, ich denke ein Text sollte einen bestimmten Stil haben und in eine Richtung gehen, zudem sollte der Autor völlig frei und unabhängig (von den Textteilen der anderen, von der Zeit) schreiben dürfen, das kann man nicht, wenn weitere mitschreiben.

Zu La Cipolla: Parallelen zwischen der Intention der Geschichte und dem Internet habe ich eigentlich nie gesehen, auch wenn du in gewisser Weise recht hast. Sie ist jedenfalls nicht so gedacht, ausserdem kann man vielleicht, wenn man sorgfältig sucht, mehr als eine Intention finden ;)

Danke nochmal für die Kommentare, sowas erwärmt einem wirklich das Herz.

Gruss,
Neo