Pyrus
02.09.2004, 04:10
Ich krieche aus meinen Decken hervor, packe sie mit all meiner Habe auf meinen Rücken und trete aus dem Winkel in die Morgenluft, orientiere mich an den langen Schatten und marschiere zielsicher durch das Häuserdickicht. Kurz bleibe ich stehen, ziehe einen Kompass aus der Hosentasche, vergewissere mich, dass ich nach Westen unterwegs bin, und gehe weiter. Endlich lichten sich die Häuser ein wenig, auf einer weiten Strasse scheint mir die Sonne sanft in den Rücken, wärmt meine Schulter und beschwingt meine Füsse. Schon erreiche ich mein vorläufiges Ziel, an dem die heutigen Bemühungen aber erst beginnen werden, den Fluss.
Dieser kalte, grausame Strom, betrügt mit seiner scheinbaren Gleichmässigkeit, ist er doch voller tückischer Strudel und Launen. Ihn sehne ich mich zu überqueren, das jenseitige, sonnige Ufer zu erreichen, wo fabelhafte Botanik gleich dem Garten Eden lockt, Grosses verheisst. Das diesseitige Ufer ist ein schattiger, asphaltierter Streifen unter hässlichen Bäumen. Oh, wie sehne ich mich diesem Ort zu entfliehen! Doch alle bisherigen Anstrengungen blieben ohne Erfolg. Bei meinen Versuchen schwimmend hinüberzukommen, packten mich stets unsichtbare Strömungen und warfen mich beinahe ertränkt an dieses mir verhasste Ufer zurück. Tagelang lag ich fiebernd und hustend in meinen Decken und erholte mich nur langsam von solchen Rückschlägen. Noch jetzt spüre ich ein Stechen in der Lunge, wie der Wind an meiner Brust reisst, der hier am Fluss immer sehr stark weht. Wie jeden Tag widme ich den kleinen Ruderbooten, die einladend vor mir schaukeln, ein bösartiges Lächeln. Die Ruder sind irgendwo in einem Schuppen eingeschlossen, die Besitzer der Schlüssel bestimmt schon längst auf der anderen Seite. Hier will keiner sein. Das beweist auch die Fähre, die seit Wochen am anderen Ufer liegt; kein Fährmann reagiert auf mein Winken und Rufen.
Der Gedanke an weitere Schwimmversuche schüttelt mich, gerade weil ich entschlossen bin, im äussersten Fall wieder in den Fluss zu steigen. Doch noch gibt es hellere Hoffnung. Flussaufwärts, im Süden, im Mittag, wohin ich meine Schritte nun lenke. Hoffnung, die ich in jedem durch das wirre Blätterwerk dringenden und meine Haut kitzelnden Sonnenstrahl spüre, wenn auch sonst alles kalt und unfreundlich ist. Hier zeugt nichts von meinem Vorankommen. Nur das gegenüberliegende Ufer wandelt sich. Dem Garten sind helle, heimelige Häuschen gefolgt, die durch ihre Schlichtheit und Unschuld reizen. Stundenlang wandere ich und kann meinen Blick kaum gerade halten, lasse ihn stets über jenen Anblick schweifen, der mein Herz fest ergriffen hat.
Unverhofft ragt weiter vorne eine Brücke unerschütterlich aus den Fluten, zerreisst mit scharfen Stahlpfeilern das Wasser, das abwärts fliessen muss. Ich beginne zu laufen, zu stolpern und zu schlingern, eile Hals über Kopf auf diese herrliche Konstruktion zu, besteige sie. Meine Hände streichen über das Metallgeländer, das regelmässig, kalt und sicher ist. Meine Füsse fühlen sich wohl auf dem Geflecht von Beton und Stahl. Mit raschem Puls, Sonnenschein auf den Schultern und im Wind wehenden Haaren beginne ich die lange Brücke zu überqueren. Die Böen werden stärker, ich halte mich am Geländer fest und ziehe mich daran vorwärts. Plötzlich spielen mir meine Augen etwas vor, das mich schwindeln lässt: Die Brücke zieht sich zusammen, wird schmaler und die Geländer scheinen sich nur wenige Meter vor mir beinahe zu treffen. Plötzlich ist mir der Halt der einen Hand nicht mehr genug, ich bleibe stehen und taste mit der anderen Hand nach einem festen Griff und finde ihn. Völlig durcheinander merke ich, dass ich mich zu beiden Seiten ans Geländer geklammert habe und der Betonstreifen unter mir kaum breiter als mein wackliger Stand geworden ist.
Da steht der Andere vor mir und reisst mich aus meiner unwirklichen Stimmung. Der Andere ist eine wunderliche Gestalt. Seine Augen funkeln böse und kindlich aus dem alterslosen Gesicht, das Lächeln ist herzlich, warm und etwas herablassend. Eine Hand zupft verspielt an den kunterbunten Kleidern, während die andere schwer auf dem Geländer liegt und so die ganze Figur stützt, wozu die klapprigen, zappligen Beine nicht in der Lage waren. Als mir klar wird, dass auch ich an meinen Kleidern zupfe, blickt der Andere zu seiner leichtlebigen Hand und grinst verlegen. Es war also nichts als mein Spiegelbild, vor dem ich mich schämte, das sich vor mir schämte. Ich bücke mich und nahm einen Stein auf, der zufällig dort lag. Der Andere tat es mir gleich. „Geh mir aus dem Weg, du lästiger Spiegel!“, rufe ich und schleudere den Stein gegen den Anderen. Doch der Stein trifft keine Spiegelwand, sondern die Stirn des Anderen und hinterlässt eine hässliche Platzwunde. Weinerlich, wütend, wichtigtuerisch lässt der Andere sein Geschoss fallen.
Ich versuche ihn in all seiner Aufgewühltheit zu besänftigen und bitte ihn mich nun zu entschuldigen, da ich mich wieder sehr nach dem anderen Ufer sehne. „Das geht nicht“, sagt er. Tatsächlich war hier auf der schmal gewordenen Brücke nicht genug Raum zum Kreuzen. Ich schlage also – dem ihm zugefügten Unrecht gedenkend – höflichst vor, dass ich ein Stück zurückgehe, so dass er an mir vorbeigehen kann. „Das geht nicht“, wiederholt er. Ich ignoriere es und gehe widerwillig Schritt um Schritt zurück, dem verhassten Ufer entgegen. Wo die Brücke so breit ist, dass er an mir vorüber könnte, ohne mich berühren zu müssen, winke ich. Er beachtet mich kaum, streicht mit der Hand durch das blutverklebte Haar, zappelt ein wenig mit den Beinchen, weicht aber nicht von der Stelle. Ungeduldig rufe ich ihm zu, er solle kommen, der Weg sei ja frei. Als er noch eine Weile nicht reagiert, fällt mir ein, dass der Andere unmöglich auf jene Flussseite wollen kann, der ich soeben entflohen bin. Nein, bestimmt will er mich nur um den Genuss des anderen Ufers bringen. Schon tut mir mein Steinwurf kein bisschen mehr leid und ich gehe erzürnt auf ihn los. „Nun geh mir aus dem Weg!“, belle ich. „Geht nicht“, wehrt er sich. „Gehört die Brücke dir? Gehört das andere Ufer dir? Nein? So lass mich durch!“ – „Geht nicht.“
Schon scheint drüben die Mittagssonne auf die lockenden Häuschen und meine Geduld endet. Mit den Fäusten dringe ich auf den Anderen ein, kann ihn aber nicht zurückdrängen oder zu Boden schlagen, um über ihn hinweg zu steigen. Fest scheint er in der Brücke verankert zu sein. Seine sonst stets widersprüchlichen Mienen, werden nun alle zu einem einzigen, gerechten Groll. Als ich kurz verschnaufe, bückt sich der Andere, seine Hände dringen in die Brücke ein und reissen einen Pfeiler heraus. Er schwingt ihn wie eine riesige Keule und fegt mich von der Brücke. Im Fallen sehe ich die majestätische Brücke wanken und schliesslich unter ohrenbetäubendem Ächzen und Krachen einstürzen. Eine mächtige Staubwolke nimmt mir den Blick auf den Anderen. Mit einem harten Schlag werde ich vom Wasser empfangen.
Sofort sinke ich wie ein Stein, vom Packen auf meinem Rücken beschwert. Irgendwie vermag ich mich von ihm zu befreien und kämpfe darum, kurz die Oberfläche zu erreichen, einen Atemzug tun zu dürfen. Wie wahnsinnig geworden strample ich auch in der Hoffnung, mich auf die andere Flussseite zu bringen, am jenseitigen Ufer angeschwemmt zu werden. Endlich – meine Lunge will schon zerbersten – lassen mich die gierigen Arme los und ich werde ausgespuckt. Meine Füsse ertasten glitschigen Grund, ich reibe mir das Wasser aus den Augen und blicke in das Blättergewirr, fröstle in Wind und Schatten. Ich stosse mich ab – oder werde vielmehr von diesem hassenswerten Ufer abgestossen – und die Fluten greifen mich. Nun, da ich wieder ohne Halt bin, verfluche ich jene unbedachte Tat, besinne mich aber rasch wieder darauf zu kämpfen, um Luft und Leben, um das andere Ufer. Ich unterliege, die Sinne schwinden.
Beim Erwachen kitzelt mich weiches Gras, die Sonne blendet durch die geschlossenen Lider und meine Beine fühlen sich taub an. Ich öffne die Augen, bin am anderen Ufer, die Beine liegen noch im kalten Wasser, schnell ziehe ich sie heraus und reibe sie. Ich bin am anderen Ufer! Schnell beleben sich meine verkühlten Glieder wieder, das Blut schiesst mir freudig durch die Adern und die Sonne wärmt grossmütig. Herrlich, wie es hier duftet, wie hier alles aussieht, dass ich hier bin! Bald ist mir schon zu warm und ich preise die Sonne, die hier mit nichts geizt, sogar im Überfluss gibt. Ich erklimme die Uferböschung und betrete den Garten. Ich rühme die Reinlichkeit der Mülleimer, die Sauberkeit der Wege und die Jungfräulichkeit der Pflanzen. Da der Garten nur sehr klein ist, sehe ich die heimeligen Häuschen, die hinter ruhigen Strassen liegen. Ich beschliesse weiter in dieses Paradies einzudringen, noch mehr Wunderbares zu entdecken und weiss längst, dass ich mich selbst belüge. Aber die Fassaden glänzten morgens so einladend im Sonnenlicht! Nun allerdings liegen sie im Schatten, was nicht zu bestreiten ist. Bestimmt gibt es hier auch nachmittags schöne Plätze, die ich nun suchen will. Morgen früh werde ich hierher zurückkommen und den Anblick der Häuschen geniessen. Ich verschwinde zwischen den Bauten und bald auch im Schatten und fröstle. Meine Schultern fühlen sich zwar angenehm frei an, doch werden mir meine Habseligkeiten und vor allem die Decken bestimmt fehlen. Doch hier ist Neuland, hier gibt es sicher auch neue Gewinne zu machen, die für alle Verluste entschädigen.
Stunden spaziere ich, stets landeinwärts. Doch nichts ist hier wirklich neu, alles erinnert an die verhasste Heimat, die dennoch Heimat war, während hier nur Fremde ist. Verdrossen kehre ich um, will zurück zum Fluss, in die Fähre, übersetzen und zufrieden sein, ja, vielleicht drüben noch meine ans Ufer angeschwemmte Habe finden. Als ich den Strom erreiche um mich alles düster und grau geworden sehe, lachen mir vom jenseitigen Ufer von der Abendsonne erhellte Häuschen schadenfroh entgegen.
Ich steige die Uferböschung hinab und betrete die Fähre über einen bequemen Steg. Auch nach langem Suchen ist kein Ruder auffindbar. Zurück ans Land. Am Ufer im noch warmen Gras sitzend ziehe ich meinen einzigen Besitz aus der Hosentasche: meinen Kompass. Ich stocke, wie ich im letzten Sonnenlicht zufällig bemerke, dass er Norden flussaufwärts anzeigt. Dieses verfluchte Ding ist kaputt gegangen! Ärgerlich schleudere ich ihn von mir. Ich suche einen windgeschützten Winkel zwischen den Häusern, sinke in mich zusammen und schlafe sofort ein.
Die nächsten Tage werde ich mich an meine neue Umgebung gewöhnen lernen. Nach Wochen und Monaten werde ich das Land an diesem Ufer hassen lernen. Ich werde meinen Kompass wieder finden, vergessen haben, weshalb ich ihn fortwarf und ihm von neuem vertrauen. Ich werde mich nach dem Land jenseits des Flusses sehnen, werde vergessen haben, dass ich von dort geflohen bin. Es wird mir zugleich das verheissene Land und das Paradies, aus dem ich einst vertrieben wurde, sein. Die Sonne wird für mich im Westen aufgehen und wieder werde ich nach Westen streben.
So träumt mir und der Traum ist vergessen, als ich aufwache, denn ein heftiger Hustenanfall beansprucht mich in unangenehmster Weise.
Dieser kalte, grausame Strom, betrügt mit seiner scheinbaren Gleichmässigkeit, ist er doch voller tückischer Strudel und Launen. Ihn sehne ich mich zu überqueren, das jenseitige, sonnige Ufer zu erreichen, wo fabelhafte Botanik gleich dem Garten Eden lockt, Grosses verheisst. Das diesseitige Ufer ist ein schattiger, asphaltierter Streifen unter hässlichen Bäumen. Oh, wie sehne ich mich diesem Ort zu entfliehen! Doch alle bisherigen Anstrengungen blieben ohne Erfolg. Bei meinen Versuchen schwimmend hinüberzukommen, packten mich stets unsichtbare Strömungen und warfen mich beinahe ertränkt an dieses mir verhasste Ufer zurück. Tagelang lag ich fiebernd und hustend in meinen Decken und erholte mich nur langsam von solchen Rückschlägen. Noch jetzt spüre ich ein Stechen in der Lunge, wie der Wind an meiner Brust reisst, der hier am Fluss immer sehr stark weht. Wie jeden Tag widme ich den kleinen Ruderbooten, die einladend vor mir schaukeln, ein bösartiges Lächeln. Die Ruder sind irgendwo in einem Schuppen eingeschlossen, die Besitzer der Schlüssel bestimmt schon längst auf der anderen Seite. Hier will keiner sein. Das beweist auch die Fähre, die seit Wochen am anderen Ufer liegt; kein Fährmann reagiert auf mein Winken und Rufen.
Der Gedanke an weitere Schwimmversuche schüttelt mich, gerade weil ich entschlossen bin, im äussersten Fall wieder in den Fluss zu steigen. Doch noch gibt es hellere Hoffnung. Flussaufwärts, im Süden, im Mittag, wohin ich meine Schritte nun lenke. Hoffnung, die ich in jedem durch das wirre Blätterwerk dringenden und meine Haut kitzelnden Sonnenstrahl spüre, wenn auch sonst alles kalt und unfreundlich ist. Hier zeugt nichts von meinem Vorankommen. Nur das gegenüberliegende Ufer wandelt sich. Dem Garten sind helle, heimelige Häuschen gefolgt, die durch ihre Schlichtheit und Unschuld reizen. Stundenlang wandere ich und kann meinen Blick kaum gerade halten, lasse ihn stets über jenen Anblick schweifen, der mein Herz fest ergriffen hat.
Unverhofft ragt weiter vorne eine Brücke unerschütterlich aus den Fluten, zerreisst mit scharfen Stahlpfeilern das Wasser, das abwärts fliessen muss. Ich beginne zu laufen, zu stolpern und zu schlingern, eile Hals über Kopf auf diese herrliche Konstruktion zu, besteige sie. Meine Hände streichen über das Metallgeländer, das regelmässig, kalt und sicher ist. Meine Füsse fühlen sich wohl auf dem Geflecht von Beton und Stahl. Mit raschem Puls, Sonnenschein auf den Schultern und im Wind wehenden Haaren beginne ich die lange Brücke zu überqueren. Die Böen werden stärker, ich halte mich am Geländer fest und ziehe mich daran vorwärts. Plötzlich spielen mir meine Augen etwas vor, das mich schwindeln lässt: Die Brücke zieht sich zusammen, wird schmaler und die Geländer scheinen sich nur wenige Meter vor mir beinahe zu treffen. Plötzlich ist mir der Halt der einen Hand nicht mehr genug, ich bleibe stehen und taste mit der anderen Hand nach einem festen Griff und finde ihn. Völlig durcheinander merke ich, dass ich mich zu beiden Seiten ans Geländer geklammert habe und der Betonstreifen unter mir kaum breiter als mein wackliger Stand geworden ist.
Da steht der Andere vor mir und reisst mich aus meiner unwirklichen Stimmung. Der Andere ist eine wunderliche Gestalt. Seine Augen funkeln böse und kindlich aus dem alterslosen Gesicht, das Lächeln ist herzlich, warm und etwas herablassend. Eine Hand zupft verspielt an den kunterbunten Kleidern, während die andere schwer auf dem Geländer liegt und so die ganze Figur stützt, wozu die klapprigen, zappligen Beine nicht in der Lage waren. Als mir klar wird, dass auch ich an meinen Kleidern zupfe, blickt der Andere zu seiner leichtlebigen Hand und grinst verlegen. Es war also nichts als mein Spiegelbild, vor dem ich mich schämte, das sich vor mir schämte. Ich bücke mich und nahm einen Stein auf, der zufällig dort lag. Der Andere tat es mir gleich. „Geh mir aus dem Weg, du lästiger Spiegel!“, rufe ich und schleudere den Stein gegen den Anderen. Doch der Stein trifft keine Spiegelwand, sondern die Stirn des Anderen und hinterlässt eine hässliche Platzwunde. Weinerlich, wütend, wichtigtuerisch lässt der Andere sein Geschoss fallen.
Ich versuche ihn in all seiner Aufgewühltheit zu besänftigen und bitte ihn mich nun zu entschuldigen, da ich mich wieder sehr nach dem anderen Ufer sehne. „Das geht nicht“, sagt er. Tatsächlich war hier auf der schmal gewordenen Brücke nicht genug Raum zum Kreuzen. Ich schlage also – dem ihm zugefügten Unrecht gedenkend – höflichst vor, dass ich ein Stück zurückgehe, so dass er an mir vorbeigehen kann. „Das geht nicht“, wiederholt er. Ich ignoriere es und gehe widerwillig Schritt um Schritt zurück, dem verhassten Ufer entgegen. Wo die Brücke so breit ist, dass er an mir vorüber könnte, ohne mich berühren zu müssen, winke ich. Er beachtet mich kaum, streicht mit der Hand durch das blutverklebte Haar, zappelt ein wenig mit den Beinchen, weicht aber nicht von der Stelle. Ungeduldig rufe ich ihm zu, er solle kommen, der Weg sei ja frei. Als er noch eine Weile nicht reagiert, fällt mir ein, dass der Andere unmöglich auf jene Flussseite wollen kann, der ich soeben entflohen bin. Nein, bestimmt will er mich nur um den Genuss des anderen Ufers bringen. Schon tut mir mein Steinwurf kein bisschen mehr leid und ich gehe erzürnt auf ihn los. „Nun geh mir aus dem Weg!“, belle ich. „Geht nicht“, wehrt er sich. „Gehört die Brücke dir? Gehört das andere Ufer dir? Nein? So lass mich durch!“ – „Geht nicht.“
Schon scheint drüben die Mittagssonne auf die lockenden Häuschen und meine Geduld endet. Mit den Fäusten dringe ich auf den Anderen ein, kann ihn aber nicht zurückdrängen oder zu Boden schlagen, um über ihn hinweg zu steigen. Fest scheint er in der Brücke verankert zu sein. Seine sonst stets widersprüchlichen Mienen, werden nun alle zu einem einzigen, gerechten Groll. Als ich kurz verschnaufe, bückt sich der Andere, seine Hände dringen in die Brücke ein und reissen einen Pfeiler heraus. Er schwingt ihn wie eine riesige Keule und fegt mich von der Brücke. Im Fallen sehe ich die majestätische Brücke wanken und schliesslich unter ohrenbetäubendem Ächzen und Krachen einstürzen. Eine mächtige Staubwolke nimmt mir den Blick auf den Anderen. Mit einem harten Schlag werde ich vom Wasser empfangen.
Sofort sinke ich wie ein Stein, vom Packen auf meinem Rücken beschwert. Irgendwie vermag ich mich von ihm zu befreien und kämpfe darum, kurz die Oberfläche zu erreichen, einen Atemzug tun zu dürfen. Wie wahnsinnig geworden strample ich auch in der Hoffnung, mich auf die andere Flussseite zu bringen, am jenseitigen Ufer angeschwemmt zu werden. Endlich – meine Lunge will schon zerbersten – lassen mich die gierigen Arme los und ich werde ausgespuckt. Meine Füsse ertasten glitschigen Grund, ich reibe mir das Wasser aus den Augen und blicke in das Blättergewirr, fröstle in Wind und Schatten. Ich stosse mich ab – oder werde vielmehr von diesem hassenswerten Ufer abgestossen – und die Fluten greifen mich. Nun, da ich wieder ohne Halt bin, verfluche ich jene unbedachte Tat, besinne mich aber rasch wieder darauf zu kämpfen, um Luft und Leben, um das andere Ufer. Ich unterliege, die Sinne schwinden.
Beim Erwachen kitzelt mich weiches Gras, die Sonne blendet durch die geschlossenen Lider und meine Beine fühlen sich taub an. Ich öffne die Augen, bin am anderen Ufer, die Beine liegen noch im kalten Wasser, schnell ziehe ich sie heraus und reibe sie. Ich bin am anderen Ufer! Schnell beleben sich meine verkühlten Glieder wieder, das Blut schiesst mir freudig durch die Adern und die Sonne wärmt grossmütig. Herrlich, wie es hier duftet, wie hier alles aussieht, dass ich hier bin! Bald ist mir schon zu warm und ich preise die Sonne, die hier mit nichts geizt, sogar im Überfluss gibt. Ich erklimme die Uferböschung und betrete den Garten. Ich rühme die Reinlichkeit der Mülleimer, die Sauberkeit der Wege und die Jungfräulichkeit der Pflanzen. Da der Garten nur sehr klein ist, sehe ich die heimeligen Häuschen, die hinter ruhigen Strassen liegen. Ich beschliesse weiter in dieses Paradies einzudringen, noch mehr Wunderbares zu entdecken und weiss längst, dass ich mich selbst belüge. Aber die Fassaden glänzten morgens so einladend im Sonnenlicht! Nun allerdings liegen sie im Schatten, was nicht zu bestreiten ist. Bestimmt gibt es hier auch nachmittags schöne Plätze, die ich nun suchen will. Morgen früh werde ich hierher zurückkommen und den Anblick der Häuschen geniessen. Ich verschwinde zwischen den Bauten und bald auch im Schatten und fröstle. Meine Schultern fühlen sich zwar angenehm frei an, doch werden mir meine Habseligkeiten und vor allem die Decken bestimmt fehlen. Doch hier ist Neuland, hier gibt es sicher auch neue Gewinne zu machen, die für alle Verluste entschädigen.
Stunden spaziere ich, stets landeinwärts. Doch nichts ist hier wirklich neu, alles erinnert an die verhasste Heimat, die dennoch Heimat war, während hier nur Fremde ist. Verdrossen kehre ich um, will zurück zum Fluss, in die Fähre, übersetzen und zufrieden sein, ja, vielleicht drüben noch meine ans Ufer angeschwemmte Habe finden. Als ich den Strom erreiche um mich alles düster und grau geworden sehe, lachen mir vom jenseitigen Ufer von der Abendsonne erhellte Häuschen schadenfroh entgegen.
Ich steige die Uferböschung hinab und betrete die Fähre über einen bequemen Steg. Auch nach langem Suchen ist kein Ruder auffindbar. Zurück ans Land. Am Ufer im noch warmen Gras sitzend ziehe ich meinen einzigen Besitz aus der Hosentasche: meinen Kompass. Ich stocke, wie ich im letzten Sonnenlicht zufällig bemerke, dass er Norden flussaufwärts anzeigt. Dieses verfluchte Ding ist kaputt gegangen! Ärgerlich schleudere ich ihn von mir. Ich suche einen windgeschützten Winkel zwischen den Häusern, sinke in mich zusammen und schlafe sofort ein.
Die nächsten Tage werde ich mich an meine neue Umgebung gewöhnen lernen. Nach Wochen und Monaten werde ich das Land an diesem Ufer hassen lernen. Ich werde meinen Kompass wieder finden, vergessen haben, weshalb ich ihn fortwarf und ihm von neuem vertrauen. Ich werde mich nach dem Land jenseits des Flusses sehnen, werde vergessen haben, dass ich von dort geflohen bin. Es wird mir zugleich das verheissene Land und das Paradies, aus dem ich einst vertrieben wurde, sein. Die Sonne wird für mich im Westen aufgehen und wieder werde ich nach Westen streben.
So träumt mir und der Traum ist vergessen, als ich aufwache, denn ein heftiger Hustenanfall beansprucht mich in unangenehmster Weise.