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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Den Himmel erden



wequila
26.08.2004, 22:41
Minette sah mehr von ihrem eigenen Gesicht als von dem des Jungen, den durch die Fensterscheiben des Religionsraums zu beobachten sie hierher auf den Schulhof gekommen war. Statt diesem Vorhaben in Tagträumen versunken nachkommen zu können, sah sie sich mit ihrem Spiegelbild konfrontiert. Da Minette ihr „dummes Drittklässlergesicht“ ebenso wenig gern sah wie ihr älterer Bruder, der es so getauft hatte, trat sie einen Schritt zur Seite, um das Fensterglas nicht länger den verzehrenden Blicken, die sie warf, in den Weg reflektieren zu lassen.
Jetzt sah sie ihn: Daniel Provloffski. Gelangweilt saß er da, den Kopf in beide Hände gestützt, die weit von sich gestreckten Ellenbogen auf die Schulbank gelehnt, auf die Schulbank am Kopfende des Klassenraums, an die der Lehrertisch grenzte. Minette wusste, dass Daniel dort nicht ohne Grund saß. Die Ponchofrau war nicht die einzige Lehrkraft an der Schule, die es für nötig erachtete, jederzeit vollkommene Kontrolle über Daniel Provloffskis Nichtbeteiligung am Unterricht zu haben. „Die Ponchofrau“ – Minette fühlte sich schuldig, als sie diesen wenig schmeichelhaften Spitznamen wenn auch nur in Gedanken benutzte. Die Jungs in ihrer Klasse nannten so die Religionslehrerin, ausgehend von deren mitunter unkonventionell anmutenden Garderobe. Minette hätte es gern vermieden, von ihr so zu denken – sie wusste, wie es war, von den Jungs in ihrer Klasse mit wenig schmeichelhaften Spitznamen bedacht zu werden. Doch in ihrer Klassenstufe wurde noch kein Religion unterrichtet, daher wusste sie den Namen der Lehrerin nicht. „Daniel weiß ihren Namen sicher auch nicht“, dachte Minette sich und seufzte glückselig. Deinen auch nicht, dachte sie außerdem.
Daniel schien auch nicht die Antwort auf die Frage zu wissen, die Frau Ponchofrau gerade an ihn gerichtet hatte. Minette beobachtete, wie er mit dem Kopf in den Händen die Lehrerin ansah; wie sie ihn ansah; wie er nichts sagte; wie sie sich an die Klasse wandte und ihre Frage wiederholte. Ein Mädchen in der Fensterbankreihe meldete sich, und da die Fenster geöffnet waren, konnte Minette einen Teil der Antwort aufschnappen, die darauf hinauslief, dass Engel wohl wunderschöne Wesen wären, die schönsten überhaupt. Minette kümmerte sich nicht weiter drum, einst war in ihr der Entschluss gereift, sich aus Prinzip nicht für schöne Menschen zu interessieren. Außer für Daniel. Doch der sprang jetzt wie angestochen von seinem Platz auf, denn es hatte geklingelt. Ohne noch einmal einen Blick auf ihren Schwarm erhaschen zu können, rannte Minette vom Schulhof auf die Straße, bevor die anderen Kinder aus dem Gebäude zu strömen begannen. Auf dem Nachhauseweg kam sie an Strommasten vorbei und fasste einen Plan. –

An Strommasten hingen Stromkabel, durch die Strom floss. Berührte man mit einem langen Gegenstand die Kabel, floss der Strom aus ihnen durch den Gegenstand in einen hinein. Davor warnte die Klassenlehrerin immer, wenn es Herbst wurde, des Drachensteigens wegen. Minette ging nie Drachensteigen. Aber sie wusste, dass der Vorgang des Verbindens der elektrischen Leitungen mit dem Erdboden „Erden“ genannt wurde. Es hatte sich ihr genau eingeprägt, damals, als der Elektriker bei ihnen zu Hause gewesen war, um an den Steckdosen rumzubasteln. Er hatte Minette den Vorgang des Erdens zu erklären versucht, und sie hatte lachen müssen, weil in ihr, als er vom „Erden“ sprach, das Bild entstanden war von jemandem, der mit Dreck beworfen wurde. Als Reaktion auf den schrägen Blick des Elektrikers, ob ihres verqueren Gedankengangs, war Minettes Lachen noch ungehaltener geworden. – Sie hatte es genossen, mit einer erwachsenen männlichen Person sich einmal austauschen zu können. Ihr Vater war Trinker.
Daran wollte Minette jetzt nicht denken, sie wollte ihren Plan ausarbeiten. Genaugenommen wollte sie auch das nicht, sie wollte an Daniel denken. „Doch nur an ihn zu denken, wird bald nicht mehr notwendig sein, wenn ich meinen Plan nur gründlich genug ausarbeite“, dachte sie stattdessen. Bisher hatte Daniel sie noch nie eines Blickes gewürdigt. Das lag natürlich nicht zuletzt daran, dass Minette ihn aus dem Verborgenen zu beobachten pflegte. Hätte sie sich vor ihm aufgebaut, würde er sie aber genauso wenig bemerkt haben. Das liegt natürlich nicht zuletzt daran, dass du eine hässliche Kuh bist. Hier setzte ihr Plan ein.
Als Minette nach der Schule darüber nachgesonnen hatte, wie sich Daniels Aufmerksamkeit auf sie lenken ließ, waren auf einmal die Worte des Fensterbankreihenmädchens vom Vormittag ihr im Kopf herumgeschwirrt, Engel seien „die schönsten Wesen überhaupt“. Menschen mochten schöne Wesen. Wenn sie ein Engel werden würde, hatte Minette beschlossen, würde Daniels Aufmerksamkeit ihr schon gelten. Angestellt werden musste das Ganze wie folgt: Minette brauchte einen sehr, sehr langen Gegenstand, mit dem sie den Himmel berühren konnte. Berührte man, mit den Füßen auf der Erde, die Stromleitungen, die genauso wie der Himmel über den Köpfen der Menschen hingen, floss der Strom durch einen. Berührte man, mit den Füßen auf der Erde, das Reich der Engel, wurde man selber einer. So einfach war Minettes Plan, das war das Schöne an ihm. Sie brauchte lediglich den Himmel zu erden.
Als ihr betrunkener Vater Minette eine Bierbüchse vor den Hinterkopf warf, weil sie vor dem Fernseher saß, fügte sich auch das letzte Detail in ihren Plan. –

Unter vielfältigen Verrenkungen versuchte Minette, von ihrem Rücken Klebestreifen zu kratzen. Dabei wankte die Konstruktion aus leeren Bierdosen, die sie in ihrer linken Hand hielt (mit der rechten bearbeitete sie den Klebestreifen), hin und her und ihr ständig vor die Stirn. Das Projekt nahm nach und nach durchaus versprechende Ausmaße an, war Minettes Urteil gewesen, kurz bevor sie sich versehentlich in Klebeband gewickelt hatte. Aber sobald es abgefriemelt worden wäre, würde sie auch weiterhin sehr zufrieden mit sich und ihrem Werk sein. Zwar berührten die Dosen noch nicht ganz den Himmel. Doch Minette wusste, dass sie schon weit über das Dach des Gartenschuppens, hinter dem ihre Bastelarbeit sich abwickelte, hinausragten: Eine Nachbarin hatte sich bei Minettes Vater erkundigt, was dessen Tochter denn den ganzen Nachmittag über im Garten treibe, man sehe unablässlich ein Gestell aus aneinandergereihten Bierdosen hinter dem Gartenschuppendach hin- und herwackeln. Minettes Vater hatte die Nachbarin angegrunzt, denn er interessierte sich nicht für seine Tochter.
Das unablässliche Hin- und Herwackeln war auf die Tatsache zurückzuführen, dass Minette kaum noch genügend Kraft aufzubringen imstande war, ihre Bierdosenstange zu stämmen. Zwar zeichneten leere Bierdosen sich durch wenig Gewicht, Minette sich allerdings durch noch weniger Kraft aus. Doch um sich Klebestreifen vom Rücken zu reißen, reichte sie wenigstens aus. Jetzt pappte er ihr zwar am Daumen, aber das störte Minette nicht weiter, eifrig versuchte sie das Dosengestell in eine Position zu bringen, die es ihr erlaubte, die nächste Büchse dranzukleben. Als ihr das gelungen war, kippte die Konstruktion nach vorn. Minette schaffte es gerade noch, sie an der untersten Büchse zu packen. Das Gewicht verlagerte sich, die Dosenstange entwickelte ein Eigenleben, und Minette versuchte vergebens, die Kontrolle zurückzugewinnen. – Eine lange Kette aus leeren Metallbüchsen, mit einem kleinen Menschen dran, stolzierte ungelenk Richtung Gartentor.
Von dort aus lief es auf die Straße. Gehetzt schaute Minette nach links und rechts, ob kein Auto kam. Loszulassen war ihr nicht möglich, zuviel von ihrem Herzen hing an dieser Ansammlung leerer Bierbüchsen. So folgte sie deren ungeordneten Bahnen, immerzu hastige Blicke um sich werfend, um etwaigen Mitverkehrsteilnehmern dann ohnehin doch nicht ausweichen zu können. Schließlich kam es zum Zusammenprall. –
Minette war großer Schritte in einen Passanten gerannt, kurz nachdem sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen hatte feststellen müssen, dass in ihrer Bierdosenkette die obersten Glieder sich vom Rest zu lösen begonnen hatten. Ihr Plan war zerstört, ihre Bierdosenkette – ihr Schlüssel zum Tor, das ins Reich der Engel führte! – beim Zusammenprall hoch in die Luft geflogen. Nun lag sie in den Armen dieses Fremden, ließ sich hängen und schluchzte. Etwas traf ihren Kopf. Minette sah auf, Tränen kullerten ihre Wangen hinab, – und blickte in das Gesicht Daniel Provloffskis. Mit hochgezogener Braue musterte er sie. Minette war, als stünde ihr Herz. Ihr Körper gab nach und sie sackte zusammen. Bevor es zum Aufprall kommen konnte, umschlang Daniel Minette mit seinen Armen. Sie raffte sich auf, ohne ihren Körper aus seiner Umarmung zu lösen, und drückte ihn an sich. Die Sonne stand tief. Dann regnete es Bierdosen. –

Nachdem der Dosenregen abgerissen war, löste Daniel die Umarmung. Er kniete sich hin und nahm eine der Büchsen auf. Den Arm weit von sich gestreckt, musterte er sie mit zusammengekniffenen Augen, zwei Minuten lang. Minette strahlte ihn an. Schließlich wandte Daniel seinen Blick von der Büchse ab und strahlte zurück. „Du trinkst Bier?“ fragte er Minette. „Ist ja toll! Willst du mit mir gehen?“ – Minette bejahte. Dann nahmen die Beiden sich an den Händen und spazierten gen Sonnenuntergang. Sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

NeoInferno
26.08.2004, 23:12
Also ich muss schon sagen, obwohl die Struktur und Wortwahl alles andere als poetisch oder besonders stilvoll ist:
Die Geschichte ist wirklich (gewohnt) sehr originell und fesselnd. Auch das Ende ist echt lustig und unvorhersehbar.

Zeitweilig war es mir, als versuchst du mit dem trinkenden Vater irgendwas kritisches einzubauen, aber ich müsste den Text wohl nochmal lesen um zu sehen ob dem wirklich so ist.

Nur eine Stelle finde ich ungeschickt:

Entsetzt schaute Minette nach links und rechts, ob kein Auto kam
Erstens passt das Wort 'Entsetzt' entsetzt hier wirklich nicht, da ich es irgendwie mit einem bereits geschehenen, schlimmen Ereignis, das hier aber nicht passiert ist, in Verbindung bringen würde. Einfach durch ein anderes ersetzen.

Zweitens kommt das selbe Wort einige Zeilen weiter nochmal vor, mit einem Austausch würdest du also auch die stilistisch unpassende Wiederholung beseitigen :)

Ansonsten sehr unterhaltsam und schön zu lesen, Daumen hoch.

Neo

wequila
26.08.2004, 23:17
Danke für die Reaktion, den Verbesserungsvorschlag (hast Recht) und das Lob!

Ancient
27.08.2004, 01:03
die Geschichte gefällt mir irgendwie. Ist gut durchdacht und sehr lustig.

Ich glaube die Moral hab ich auch schon gefunden. :D
Der männl. Jugend (natürlich nicht allen) kommt es mehr auf große T**ten und Sauferei an als die Schönheit des "Weibchens". ^^ Oder: die Mädchen/Frauen machen sich mit ihrem übertriebenem Schönheitsgetue was vor.
Das würde auch erklären warum du die Lehrerin sich in einen Schüler, und noch dazu einen der in dieses Klitschee der faulen "Hinterbänklerschüler" passt, verlieben lassen hast.

Das mit dem Strommassten könnte man vielleicht als "Attrappe" deuten, ich z.B. habe nähmlich zuerst gedacht das Minette bei durchführung ihres Planes mit den Dosen an eines der Stromkabel kommen würde und die Geschichte wie so oft bei deinen Geschichten :D ein unglückliches Ende nehmen würde.

Wohan
27.08.2004, 08:06
@ wequila

....Nicht schlecht, is ja mal was halbwegs "normales" von dir und zudem noch sehr gut gelungen, witzig und vielleicht auch etwas kritisch aber auf jeden Fall sehr unterhaltsam und leicht zu lesen wobei ich mich doch frage warum sie sich Klebaband vom Rücken kratzt:confused: .....mmmh egal auf jeden Fall ein schönes Werk.

Bin froh es gelesen zu haben, denn man gekommt beim lesen diesen Textes automatisch gute Laune ....was du ja immer grandios drauf hast
:D

Bitte bleib auf diesen Niveau und ruscht nicht zurück in deine "Geistegeschichte" , denn du kannst es ja wie man hier sehen konnte um einiges besser und SO gefällst du mir auch eher als Autor :A