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Vivian
12.07.2004, 04:42
Seven
© copyright by Vivian Silvara, 2004

TEIL I: MIRJAM
1. Kapitel
Wie so oft saß ich auf meinem Stammplatz unter der alten Eiche, die einsam den grasbewachsenen Hügel nicht fern von unserer Straße schmückt. Der sanfte Wind, der durch ihre Krone fuhr, entlockte ihren Blättern einen Klang, der sich in einem leisen Rascheln über meinem Kopf verlor. Es war Ende Juni und die langsam untergehende Sonne tauchte den Abendhimmel in eine wunderschöne Mischung aus den verschiedensten Rot- und Blautönen. Der Tag ging seinem Ende entgegen. Mit verträumtem Blick beobachtete ich, wie sich die Sonne, der große, flammende Phönix, am Horizont im Todeskampf mit der aufkommenden Nacht wand. Er würde diesen Kampf verlieren, jedoch am nächsten Morgen mit feurigen Federn wieder aus der Asche auferstehen, um der Nacht den geraubten Himmelsthron zu entreißen und die Welt triumphierend mit ihren Strahlen erfreuen.
Irgendwo zirpte eine Grille, eine Nachtigall stimmte ihr klagendes Lied an. Über meine Lippen jedoch huschte ein verträumtes Lächeln. Das Abendrot der Dämmerung inspirierte meinen Geist oft zu solch fantastischen Gedankenspielen. Ich liebte diese einsamen Stunden vor Anbruch der Nacht nun einmal. Ich hatte sie schon immer geliebt, sie waren ein Teil von mir - genauso wie meine helle Haut, meine langen, braunen Haare und meine blauen Augen ein Teil von mir waren.
Ich sah die kleine Taube, die vor meinen Füßen herumwatschelte. Es war ein hübsches Tier, dessen schneeweiße Federn im goldenen Licht der Dämmerung schimmerten. Noch nie zuvor hatte ich eine Taube mit solch reinen Federn gesehen. Es war ein schönes Bild, doch nur allzu bald wurde das Tier seinem Herumgehüpfe müde und flog davon.
Ich verschränkte meine Arme hinter meinem Kopf und gab mich mit geschlossenen Augen noch einmal einer kurzen Abendträumerei hin. Hinter meinen Lidern tanzten rote, helle Lichter, die jedoch schnell von einer um sich greifenden Dunkelheit verschluckt wurden. Meinem inneren Auge enthüllten sich Bilder, teils schöne, teils schmerzliche Bilder - Bilder meiner Eltern.
Ich schluckte schwer an dem Kloß, der mir meine Kehle zusammenschnürte, drängte mühevoll die Tränen zurück, die sich in meinen Augen gebildet hatten, bis es mir gelang, diese kurze Trauerregung zu vertreiben.
Durch meine Position war es unvermeidlich gewesen, dass mein spitzenbesetztes, weißes Top sich hochgezogen und einen schmalen Streifen meines Bauches freigegeben hatte. Eigentlich machte es mir ja nichts aus, denn schließlich war keiner in der Nähe, der mich hätte sehen können. Aber die sich langsam um meine Taille ausbreitende Kühle störte mich jetzt doch.
Mit einem Seufzer öffnete ich die Augen und stand auf. Ich zog mein Oberteil ein wenig weiter nach unten, rückte meinen Jeans-Minirock noch einmal zurecht. Dann wollte ich meinen Weg zurück ins Haus antreten, doch auf einmal brach eine plötzliche, heftige Welle von Übelkeit über mich herein, die mich zurück auf meinen Sitzplatz sinken ließ. Schwer und tief einatmend lehnte ich mich an den Stamm der Eiche, um mit der frischen Luft diesen unangenehmen Anfall zu vertreiben.
Es wirkte.
Sobald es mir besser ging, erhob ich mich aus dem Gras und schlenderte träge den Hügel in Richtung Haus hinab. Draußen war es inzwischen kühl geworden und ich fröstelte nun doch ein wenig angesichts der um mich herum einsetzenden Kälte und meiner sommerlich kurzen Kleidung. Aber ganz so gelassen, wie meine Erscheinung es wohl anmuten ließ, war ich nicht. Ich fragte mich besorgt, warum mir eben gerade so schlecht geworden war. Normalerweise hatte ich solche Anfälle nicht. Ich kannte so etwas von Raquelle - meiner Cousine und gleichzeitig besten Freundin - die von Natur aus eine schwache Gesundheit hatte und die täglich mit solchen Anflügen zu kämpfen hatte. Ob ich mir wohl irgendwo etwas eingefangen hatte? Nein, eine Krankheit ging zur Zeit nicht um und normalerweise erwischte mich so etwas selten - und schon gar nicht als allererste. Na ja, ich würde Tante Rose danach fragen, die kannte sich mit solchen Dingen aus.
Als ich die Haustür öffnete und in den Flur trat, kam Raquelle gerade die Treppe hinuntergeeilt.
„Ah, Mirjam!“ rief sie, offensichtlich erfreut, mich jetzt und hier anzutreffen. „Da bist du ja! Ich wollte gerade zu dir. Weißt du, Mizuko hat... Ach, du meine Güte, du bist ja ganz bleich! Ist was passiert?“
„Ach, nichts besonderes,“ winkte ich ab. „Mir ist gerade nur kurz schlecht gewesen. Ist aber schon wieder vorbei. Nichts ernstes also. Was ist mit Mizuko?“
„Sie hat gerade angerufen, wollte dich unbedingt sprechen. Frag mich nicht, wieso!“
Ich lachte kurz auf. Der genervte Unterton ihrer Stimme war im letzten Satz nicht zu überhören gewesen. „Nimm's nicht so schwer, Raquelle! Ich weiß zwar selbst nicht, welchen Narren Mizuko an mir gefressen hat, aber du solltest ihr ihre Marotten einfach lassen.“
„Das ist noch lange kein Grund mich wie Luft zu behandeln.“
„Das tut sie doch gar nicht,“ warf ich ein. „Und außerdem ist sie sehr nett.“
„Sie ist seltsam.“
„Wenn du meinst. Es lohnt sich nicht, darüber zu streiten. Hat sie was gesagt, ob ich zurückrufen soll? Oder will sie es später nochmal versuchen?“
„Nein. Du sollst zurückrufen,“ war die knappe Antwort.
Ich kniete mich hin und zog die Schuhe aus. Raquelle blieb hinter mir stehen. Anscheinend wollte sie noch etwas. Sie sagte jedoch nichts und so ließ ich meine Gedanken an den Tag zurückwandern, an dem Mizuko neu in unsere Klasse gekommen war. Es war noch gar nicht so lange her. Vor einem Monat...

Unsere Klassenlehrerin hatte uns das neue Mädchen mit der durchgeknallten Haarfarbe - dickes, schulterlanges Haar, das meergrün getönt war - als „Mizuko Miko“ vorgestellt. Der Name klang Japanisch, doch Mizuko hatte das typische europäische Aussehen - keine Spur von asiatischem Flair.
Frau Röschen hatte ihr entweder den Stuhl neben mir oder den neben Christine angeboten, die einzigen Plätze, die in unserer Klasse noch freigewesen waren. Und Mizuko setzte sich prompt neben mich. Sie schien nicht einmal darüber nachzudenken, so als hätte ihre Entscheidung schon lange vorher festgestanden.
Auch in der Pause blockte sie sofort alle Annäherungsversuche meiner Mitschüler ab und gesellte sich zu mir und Raquelle. Sie war sehr nett und keineswegs zurückhaltend, sondern plapperte fröhlich drauflos. Und damit nervte sie mich nicht, im Gegenteil. Sie beantwortete alle Fragen, die wir stellten, geduldig und freundlich, vielleicht auch etwas übermütig. Ihr Wesen schien ihrem Gesicht zu entsprechen: kindliche Züge mit großen, blau-grünen Augen. Sehr offen und doch durch ihre Verhaltensweise irgendwie sonderbar.
Raquelle jedenfalls schien sie von Anfang an nicht wirklich leiden zu können. Vielleicht lag es daran, dass Mizuko sie kaum beachtete und völlig in den Hintergrund drängte. So etwas war Raquelle nicht gewohnt. Normalerweise, zuhause wie in der Schule oder sonst wo, schenkte man ihr mehr Aufmerksamkeit. Vielleicht war sie ja auch eifersüchtig? Wer weiß.

Sobald ich in meine bequemen Schlappen geschlüpft war, drehte ich mich um und wollte Raquelle fragen, was sie wollte, aber sie schnitt mir meine simple Frage sofort ab und sagte nur: „Komm mit.“
Ich folgte ihr ohne weiteres. Schließlich war ich neugierig, was sie mir wohl zeigen wollte und gemeinsam stiegen wir die Treppe hinauf.
Doch sobald wir oben angekommen waren, musste ich stehenbleiben, denn der Anflug von Übelkeit, der mich schon draußen kurz zuvor befallen hatte, kehrte zurück.
Raquelle drehte sich um und fragte verwirrt, was ich denn habe, was mit mir los sei. Aber ich nahm es kaum wahr.
Kalter Schweiß brach überall auf mir aus, mein Blut begann laut in meinen Ohren zu rauschen. Raquelle schüttelte mich, sprach mit mir, doch ich konnte sie nicht hören. Mein Sichtfeld verschwamm, wurde langsam schwarz. Ein dunkler, mir unverständlicher Schleier legte sich über meine Augen. Ich spürte, dass ich angefangen hatte, am ganzen Leib zu zittern. Oh, mein Gott, wenn das so weiterging, würde ich noch ohnmächtig werden! Mein Herz fing angesichts meiner Angst laut und schnell zu pochen an. Sein gleichmäßiges, hastiges Pulsieren dröhnte mir in den Ohren.
Ich fiel nicht in Ohnmacht. Der Anfall verschwand wieder genauso schnell wie er gekommen war. Als meine Sicht wieder aufklarte, sah ich Tapio vor mir. Panik ergriff mich. Ich war mir sicher, dass er über alles Bescheid wusste. Närrin, dachte ich. Natürlich weiß er es. Die Zeichen waren nun unmissverständlich und sprachen eine nur allzu deutlich Sprache.
Er holte weit mit der Hand aus und gab mir eine schallende Ohrfeige. Ich verlor den Halt, flog quer durch den Raum, ging zu Boden. Irgendwo schepperte etwas. Glas klirrte, zersplitterte. Instinktiv ließ ich meine Hand über meinen geschwollenen Bauch fahren, so, als wollte ich ihn durch diese Bewegung schützen.
„Du dreckige ••••!“ brüllte er. Er schien wahnsinnig vor Wut. „Du dreckige ••••!“
Ich legte meine bandagierte Hand an meine brennende Wange, versuchte so, die züngelnden Flammen des Feuers, das sie ergriffen hatte, zu stillen.
„Vergib mir,“ flüsterte ich leise und schwach mit erstickter Stimme. Erst jetzt fühlte ich die heißen Tränen, die sich unablässig ihren Weg über mein Gesicht bahnten.
„Dir vergeben?“ schrie er. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich so heftig, dass meine Zähne klapperten.
„Dir vergeben?“ wiederholte er. „Nein, Aïno. Ich vergebe dir nicht.“ Er schien sich zu beruhigen, lockerte seinen festen Griff um meine Schultern ein wenig, sodass sie nicht mehr so stark zusammengepresst wurden und ließ schließlich los. Nur langsam ließ der Schmerz nach. „Ich habe dir schon oft genug vergeben,“ fuhr er fort. „Ich habe dir sogar vergeben, dass du dich mir verweigert hast. Ich bin sogar darauf eingegangen, weil du sagtest, du seist noch nicht bereit. Ich wollte wirklich warten, bis du bereit wärest.“ In seiner Stimme schien eine ehrliche Trauer mitzuschwingen und ich verspürte augenblicklich einen Stich von Mitleid und Reue. Was hatte ich getan? War es wirklich richtig gewesen? „Aber nein, ich vergebe dir nicht mehr.“ Da war sie wieder. In seinen Augen blitzte erneut diese schreckliche Wut auf, die mich mit Angst erfüllte.
Fest packte er meinen Arm und wirbelte mich herum, sodass ich laut vor Schmerzen aufschrie. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand, das er mir mit leichtem Druck an die Kehle legte. Langsam ließ er die Klinge auf und ab fahren. Sie berührte meinen Hals, doch war sie so leicht angesetzt, dass sie mich nicht verletzte. Falls es möglich war, begann mein Herz noch schneller und noch lauter zu schlagen.
„Na, wie fühlt sich das an?“ fragte er. Er schien völlig ruhig zu sein, aber ich wusste es besser. In Wirklichkeit kochte er vor Wut. In seinem Innern brodelte ein teuflischer Zorn, bereit, jeden Augenblick zu explodieren.
Ich wimmerte leise.
„Hast du Angst?“
Ich wand mich in seinem Griff, doch er hielt mich so fest, dass ich mir dadurch nur noch mehr Schmerzen zufügte.
„Keine Bewegung! Noch ein Mucks und ich bringe dich um!“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Euch beide.“ Eine grausame Betonung lag auf seinem letzten Wort.
Entsetzt keuchend riss ich die Augen auf. Oh mein Gott, nur das nicht! Ich musste diesen Irren so schnell wie möglich davon abbringen.
„Tapio,“ begann ich zögernd. Meine Stimme klang leise und erstickt - erbärmlich. „Ich... ich verspreche auch, dich nie wieder zu hintergehen.“
Er lachte. Kalt und grausam hörte es sich an. Das Messer ließ von meinem Hals ab. Gleich drauf spürte ich seine scharfe Spitze direkt neben meinem Auge ansetzen.
„Ich will dir auf immer und ewig treu sein.“ Ein verzweifeltes Eingeständnis meiner Schwäche.
Er lachte nochmals. „Das brauchst du mir nicht zu versprechen, mein Täubchen,“ sagte er und vergrub sein Gesicht in meinem goldenen Haar. Seine Lippen berührten zärtlich meine nackten Schulter, doch ich empfand gegenüber dieser Berührung nichts als Abscheu, abgrundtiefe Verachtung für jenen Tyrann, der mir das Leben zu Hölle machte.
Er hob seinen Kopf, lehnte ihn kurz an den meinen.
„Nein, das wird nicht nötig sein,“ sprach er weiter. „Wenn ich hiermit fertig bin, wird dich kein Mann mehr mit Verlangen ansehen. Jeder wird sich angeekelt von dir abwenden. Jeder.“
Und er grub das Messer in mein Fleisch, führte es langsam und genüsslich meine Wange hinab, bis es an meinen Mundwinkel gelangte. Ich wagte nicht, vor Schmerzen aufzuschreien, sondern verzerrte nur mein Gesicht, soweit es mir möglich war. Es war nicht leicht, den Schrei zurückzuhalten, der in meiner Kehle ungeduldig auszubrechen suchte.
„Jeder.“
Ich konnte mich nicht länger zügeln. Laut und spitz war der Schrei, den ich ausstieß, als das Messer immer tiefer in meinem Fleisch versank.
Sofort wurde es herausgezogen. Mehr oder weniger erleichtert atmete ich tief ein, sehr schnell, auf und ab, ein und aus. Blut lief mir in den Mund und ich kam mir vor wie eine durstige Vampiresse, die nicht genug von dem Blut ihres Opfers kriegen konnte. Nur mit dem Unterschied, dass ich Täter und Opfer zugleich war.
Meine Erleichterung währte nicht lange, denn gleich darauf rammte Tapio das Messer in meinen Bauch. Bis zum Heft verschwand die blutige Klinge in meinem Leib.
Keuchend und röchelnd sank ich zusammen, fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden.
Er hatte nicht nur mich verletzt, sondern auch das Kind, das ich in mir, unter meinem Herzen trug.
Das war das letzte, was ich dachte, bevor meine Welt in einer kalten Finsternis entschwand.

„Mirjam! Oh Gott, Mirjam, wach auf!“
Aus weiter Ferne drang eine Stimme zu mir durch, durchbrach die Stille und die Dunkelheit, die mich umhüllte. Sie klang verzerrt, ihre Worte verschwommen und undeutlich.
„Mirjam!“
Jemand packte mich an den Schultern und schüttelte mich heftig und ohne Rücksicht. Tapio, war mein erster Gedanke und Panik ergriff mich. Gedankenlos fing ich an, wie wild um mich zu schlagen. Geh weg, dachte ich ängstlich, entsetzt. Geh weg! Geh endlich weg und lass mich in Ruhe!
„Mirjam! Komm zu dir!“
Da erkannte ich, dass dies eine andere Stimme war, als ich es erwartet hatte. Eine viel weichere Stimme als die Tapios. Eine weibliche Stimme.
Ich riss die Augen auf, um zu sehen, wer das war, konnte im ersten Moment jedoch kaum etwas erkennen, so unklar und verschwommen war das Bild, das sich mir bot. Nach und nach klarte mein Blick sich auf, ich sah eine Frau mit grünen Augen und dunkelblondem Haar, die sich über mich beugte. Hinter ihr stand ein Mädchen mit zwei blonden, geflochtenen Zöpfen und gold-braunen Augen.
Tante Rose und Raquelle.
„W-wo bin ich?“ fragte ich. Mein Mund formte die Worte zwar, aber kein Ton kam heraus.
„Mirjam,“ sagte Raquelle. Ich konnte die Erleichterung sehen, die ihr besorgtes Gesicht sich entspannen ließ. „Endlich bist du wach.“
Wach? Ich erinnerte mich vage daran, ohnmächtig geworden zu sein, nachdem Tapio mir die grausamen Messerstiche zugefügt hatte.
Dann hatte ich sie also überlebt? Der schoss mir durch den Kopf und hastig ließ ich mein Hände über mein Gesicht und meinen Bauch fahren. Ich tastete, aber da war nichts. Nichts. Nicht einmal ein Ansatz einer Verletzung oder Narbe. Nur reine, glatte Haut. Auch die Schwellung meines Bauches schien zurückgegangen zu sein. Wo war mein Kind?
„Was hast du?“ fragte Tante Rose besorgt. „Geht es dir noch immer schlecht?“
„Nein, alles in Ordnung,“ stammelte ich. Ich schloss kurz die Augen, sammelte Kraft, um zu einer längeren Rede anzusetzen. Ich schluckte schwer. „Was ist mit Tapio?“ fragte ich. „Was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Tapio?“ Tante Rose runzelte verwirrt die Stirn. Sie sah zu Seite, ihr Blick traf sich mit dem Raquelles, die ebenso perplex dreinschaute wie ihre Mutter. „Wer ist Tapio?“
„Er... er war nicht hier?“ Noch hatte ich die ganze verworrene Geschichte, die sich hier abgespielt hatte, nicht verstanden. „Nein,“ fuhr ich fort, murmelte mehr zu mir selbst, denn zu den anderen beiden. „Nein, er war nicht hier. Ich war doch bei ihm.“ Dann schaute ich auf. „Aber wie habt ihr mich dann von dort weggeholt?“
„Was ist los mit dir, Mirjam? Von wo sollen wir dich weggeholt haben? Du warst die ganze Zeit über hier!“
Meine Augen weiteten sich erstaunt.
„Wirklich?“ fragte ich.
„Wirklich,“ antwortete Raquelle.
„Dann... ich...“ Ich rang mit den Worten, wusste nicht genau, was ich als nächstes sagen sollte. Dann setzte ich mich mühevoll auf. „Es tut mir leid, wenn ich euch erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Meine Fantasie ist wohl mit mir durchgegangen.“ Ich versuchte, unbesorgt zu lächeln.
Tante Rose und Raquelle wechselten erneut einen erstaunten Blick. Schließlich stand erstere auf.
„Raquelle,“ sagte sie. „Du kümmerst dich um Mirjam und sorgst dafür, dass sie sich entspannt.“ Dann wandte sie sich mir zu. „Ich werde dir einen Tee machen. Der wird dich beruhigen.“
Ich wollte etwas sagen, aber Tante Rose stand bereits an der Treppe und winkte ab.
„Schon gut,“ sagte sie. Und sie ging die Treppe hinunter, ohne dass ich mich noch mit einem weiteren Wort ihrer liebevollen Fürsorge hätte erwehren können.
Raquelle hielt mir ihre Hand hin. Ich nahm sie an und sie half mir, aufzustehen. Sobald ich auf meinen wackeligen Beinen stand, stützte sie mich. Dankbar lächelte ich sie an.
„Nicht zu danken,“ grinste sie zurück. „Komm.“
Sie führte mich den Flur entlang zu ihrem Zimmer. Wir kamen nur schleppend voran, immer wieder musste ich kurz stehen bleiben, so schwach war ich. Was mich so erschöpft gemacht und mir meine ganze Energie geraubt hatte, wusste ich selber nicht.
Als wir das Zimmer endlich erreicht hatten und Raquelle die Tür öffnete, ließ ich mich sofort auf den nächstbesten Sessel fallen. Es war der große Korbsessel mit dem weichen Riesenkissen, das ihn komplett ausfüllte. Sofort versank ich in dem Federmeer, lehnte mich zurück und atmete mehrmals ein und aus, um mich wieder zu fangen und ein wenig zu erholen.
Eine ganze Weile lag ich dort unbeweglich, entspannte mich. Dann begann Raquelle zu sprechen.
„Geht es dir wieder besser?“ fragte sie.
„Mm,“ machte ich zustimmend und nickte schwach. Raquelle beugte sich vor, nahm meinen Arm und drückte ihn etwas. Ich blickte sie an und sah, dass sie mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen betrachtete.
„Was ist eben passiert?“ fragte sie.
„Ich...“
Gerade als ich Raquelle antworten wollte, öffnete sich die Tür und Tante Rose kam herein. Sie brachte mir eine dampfende Tasse Tee an den Korbstuhl.
„Hier,“ sagte sie, während ich ihr die Tasse aus der Hand nahm. „Trink das. Dann wird es dir sicher bald besser gehen.“
„Danke,“ murmelte ich.
Tante Rose beugte sich über mich und legte mir ihre Hand auf die Stirn.
„Kein Fieber,“ hörte ich sie sagen. „Seltsam. Vielleicht sollten wir doch besser einen Arzt...“
„Nein!“ rief ich. Tante Rose sah mich erstaunt an. „Äh... ich meine, so schlimm ist es nicht. Es geht schon wieder. Macht euch keine Sorgen, ich bin in Ordnung.“
Ich lächelte entschuldigend. Meine Tante sah Raquelle noch einmal kurz an.
„Na dann,“ meinte sie schließlich und richtete sich auf. „Macht's aber nicht zu lange, ihr zwei. Mirjam ist noch nicht wieder auf der vollen Höhe, Raquelle.“
„Ja, Mama.“
Tante Rose nickte uns zu und verließ das Zimmer.
„Also, Mirjam,“ begann Raquelle wieder. „Was ist eben passiert?“
Ich seufzte leise - kaum hörbar - und lehnte mich wieder zurück, umklammerte die heiße Tasse fest mit beiden Händen. Ich führte sie an meine Lippen und nahm einen kleinen Schluck. Sofort breitete sich in meinem Körper eine wohlige, beruhigende Wärme aus, die mich nicht nur entspannte, sondern auch ein klein wenig in meinem Kopf für Ordnung sorgte und meine völlig durcheinandergewirbelten Gedanken zu sortieren begann.
„Es ist wohl besser,“ sagte ich. „Du erklärst mir erst einmal, was ich getan habe, nachdem ich stehengeblieben war.“
Raquelle sah mich verständnislos an.
„Was?“ fragte sie. „Das weißt du nicht mehr?“
„Nein,“ gestand ich ihr.
„Also gut. Hör zu: Nachdem du so urplötzlich angehalten hattest, drehte ich mich um und fragte dich, was los sei. Aber du hast nicht geantwortet. Ich packte dich sogar am Arm, aber du hast überhaupt nicht reagiert! Du starrtest nur mit diesem glasigen, leeren Blick vor dich hin - nirgendwohin. Ich bin sofort weggelaufen, um Mama zu holen. Als wir wieder hochkamen, lagst du plötzlich am Boden, die Augen weit geöffnet, schwer atmend und verzweifelt deinen Bauch betastend. Wir hatten wirklich Angst um dich. Dann hast du wohl abgeschaltet, denn deine Atmung wurde flach und deine Augen schlossen sich. Den Rest kennst du ja.“
Langsam sah sie wieder zu mir hoch. Ich schluckte.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte Raquelle. „Geht es dir gut?“
„Ja, ja,“ versicherte ich ihr hastig. „Es geht mir gut. Es ist... nichts.“
„Erzähl mir nichts!“ sagte Raquelle. „Ich kenne dich. Du wirst nicht ohne Grund so unruhig. Also: Was hast du? Ist dir wieder schlecht?“
Ich schluckte schwer.
„Nein, mir ist nicht schlecht,“ sagte ich dann ernst.
Und ich berichtete ihr von allem, was ich soeben erlebt hatte. Von dem ersten Übelkeitsanfall bis hin zu Aïnos Ende. Alles.
Sie hörte mir geduldig zu und stellte keine überflüssigen Fragen. Ehrlich gesagt hätte ich ihr wohl auch keine einzige Antwort geben können, denn mir fehlte ja selbst jegliches Verständnis für die Situation.
„Und das seltsamste von allem ist,“ schloss ich und senkte den Blick, „ich war plötzlich sie und wusste alles von ihr, ohne sie jemals zuvor gesehen, geschweige denn gekannt zu haben. Ich... ich verstehe nicht, was soeben geschehen ist, Raquelle! Es ist so... so...“
„Schon gut, Mirjam,“ beruhigte sie mich und nahm mich, die ich mich vorgelehnt hatte, in die Arme. „Mach dir keine Sorgen,“ tröstete sie mich weiter. „Du bist weder verrückt noch wahnsinnig noch sonst irgendwas, sondern höchstens ein bisschen... wie soll ich sagen? ... überfordert.“
Ich blickte zu ihr hoch. Sie lächelte.
„Meinst du wirklich?“
„Klar! Da hat dir deine überaktive Fantasie wohl einen Streich gespielt.“
Irgendwie konnte ich noch immer nicht glauben, dass das wirklich ihre Meinung war. Aber welchen Grund hätte sie mich zu belügen? Keinen.
„Komm, vergiss das. Eigentlich wollte ich dich ja nur was fragen.“ Sie stand auf und ging zum Schrank. „Hier, wie findest du das?“ fragte sie, während sie ein Kleid herausholte. „Das ist das Kostüm, das ich bei der Aufführung tragen werde.“
Ich dankte Raquelle insgeheim dafür, dass sie mich ablenken wollte. Ich konnte es gebrauchen. Sofort versuchte ich mich auf das Kostüm zu konzentrieren.
„Wow!“ Ich staunte nicht schlecht, als sich vor meinen Augen ein prächtiges, rot-grün-goldenes Kleid entfaltete. Es sah einfach wunderschön aus. „Du spielst dich diese karthagische Prinzessin, nicht wahr?“
„Ja, es ist eine großartige Rolle. Ich werde eine Perücke tragen und wunderbar geschminkt sein. Ach, ich freu mich jetzt schon drauf!“
„Kann ich verstehen.“
Raquelle hatte vor ein paar Monaten eine Rolle in einem Stück des örtlichen Theaters ergattert. Dort spielten mehrere Jugendliche mit und Raquelle war eine großartige Schauspielerin. Ich wusste, dass dieser Auftritt für sie etwas ganz besonderes werden würde.

Ich hatte mich gerade erst in mein warmes Bett gekuschelt, da holte mich die lang ersehnte Müdigkeit auch schon ein. Trotzdem konnte ich nicht einschlafen. Mein Kopf war voller wirrer Gedanken. Wer war Aïno? Was hatte dieses Erlebnis zu bedeuten? War das so etwas gewesen, was man „Vision“ nennt? Oder war ich einfach nur verrückt und rettungslos in geisteskranken Tagträumen verloren? Mein Verstand drohte zu explodieren angesichts der Fülle an Fragen, die ihn durchschwirrten.
Noch lange lag ich wach, wälzte mich unruhig und schlaflos hin und her. Verzweifelt suchte ich nach Antworten und fand keine.
Es dauerte lange, bis ich mich ins Reich der Träume begab. Und hätte ich gewusst, welch schmerzliche Erinnerungen mich dort einzuholen gedachten, dann wäre ich wohl lieber die ganze Nacht aufgeblieben.




Kritik erwünscht. :)

Vivian

Snowsorrow
12.07.2004, 18:23
Eine sehr schöne Wortwahl, perfekte Umschreibungen und man hat immer ein wundervolles Bild vor Augen. Am besten gefiel mir der Anfang:


Mit verträumtem Blick beobachtete ich, wie sich die Sonne, der große, flammende Phönix, am Horizont im Todeskampf mit der aufkommenden Nacht wand.

Vivian
12.07.2004, 19:25
Danke! :)
Mehr fällt mir jetzt auch nicht dazu ein...

Vivian

NeoInferno
13.07.2004, 02:04
Ja, wirklich sehr schön geschrieben und schön zu lesen. :)

La Cipolla
14.07.2004, 15:39
Verdammt, das ist wirklich die Geschichte im Atelier (in letzter Zeit), die mit Abstand am Besten geschrieben ist.:) Die Story ist bisher wunderschön klischeefrei und klingt interessant, ebenso wie die Charas, ich bin zutiefst gespannt! Schreibst du hier eigentlich weiter?:rolleyes:

sie waren ein Teil von mir - genauso wie meine helle Haut, meine langen, braunen Haare und meine blauen Augen ein Teil von mir waren.
Ich kann mir nicht helfen, der Abschnitt nimmt irgendwie ein großes Stück Atmosphäre, weil er sich so and den Haaren herbeigezogen anhört. Ich denke, eine normale Charabeschreibung wäre passender.

Klasse!:D

Lonegunman81
14.07.2004, 19:19
Zuerst dachte ich mir ja, der Autor (oder die Autorin, wer weiß) dieser Geschichte ist ja ganz schön eingebildet, mit "copyright" am Anfang! Doch dann hab ich die Geschichte gelesen und muß sagen, daß ich auch ein "copyright" anfügen würde, wenn ich so was Tolles verfasst hätte! Wow, das liest sich wie aus einem Guß, keine störenden Fehlerlein, wunderbare Ausdrucksfähigkeit, einfach Super!
Wenn wir Hobbyschreiberlinge doch da mit halten könnten!!
Ich denke auch, daß deine Geschichte hier neue Maßstäbe setzen könnte, daher warte nicht so lange mit dem weiterschreiben!!
Ich warte schon!:D

Wohan
15.07.2004, 06:43
Original geschrieben von Lonegunman81
Zuerst dachte ich mir ja, der Autor (oder die Autorin, wer weiß) dieser Geschichte ist ja ganz schön eingebildet, mit "copyright" am Anfang! Doch dann hab ich die Geschichte gelesen und muß sagen, daß ich auch ein "copyright" anfügen würde, wenn ich so was Tolles verfasst hätte! Wow, das liest sich wie aus einem Guß, keine störenden Fehlerlein, wunderbare Ausdrucksfähigkeit, einfach Super!
Wenn wir Hobbyschreiberlinge doch da mit halten könnten!!
Ich denke auch, daß deine Geschichte hier neue Maßstäbe setzen könnte, daher warte nicht so lange mit dem weiterschreiben!!
Ich warte schon!:D


Ich muss mich auch mal unbedingt durchringen die Geschichte zu lesen, wenn ich momentan nicht selbst so beschäftigt wäre, aber wenn Lone schon so eine Grandiose Kritik von sich gibt und es in höchsten Tönen Lobt dann muss sie wirklich sehr gut sein :)

Muss mir so schnell wie möglich doch mal die Zeit nehmen uns sie lesen.;)


Edit :

Puh...hab es doch trotz tiefer Nacht geschafft die Geschichte zu lesen und sie hat mich richtig gefesselt.......der gute Lone hat nicht übertrieben sie ist wirklich gut und liest sich hervorragend, ich glaub noch nie hat sich so viel so schnell und gut lesen lassen wie hier, ich bin Begeistert:A

Du bist nicht sofällig eine Berühmte Autorin die sich hier in diesen Forum eingeschlichen hat um für ihr neuen Bestseller zu werben ? Na´na gib es schon zu .....;)


Nein schon klar.........aber das ist schon wirklich ein hervorragende , ich will sagen sachon fast markellose Arbeit, wohl einer der kostbaren Edelsteine hier in dieser Forenschatzkiste , genannt Atelier!!!

Lonegunman81
17.07.2004, 18:54
Kleiner *push*!!! Hey Wunderkind, schreib endlich weiter, sonst vergessen wir die Story am ende noch!? Komm schon, was so gut anfängt muß auch weiter gehen! Oder muß man jetzt schon dein Buch kaufen!?;)