MagicMagor
18.02.2003, 05:32
So hier mal als mein Einstand in dieses Forum *g*, eine Kurzgeschichte von mir etwas älterem Datums (ca halbes Jahr alt).
Über Kommentare und/oder Kritik wäre ich höchst erfreut.
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Der Egoist
Sie hatte sich verirrt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen sich von der Gruppe zu trennen und alleine zum Hotel zurück zu gehen. Aber dieser Führer war Dianne einfach auf die Nerven gegangen. Achtet auf dies, tut das nicht, furchtbar. So schwierig waren die Wege ja auch nicht. So würde schon nach Hause finden - hatte sie gedacht. Mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher. Die Wege wurden zunehmend steiniger und wenn sie den Hang hinabblickte, ins Tal, so sah sie nur einen riesengroßen Wald. Von einer Lichtung samt Hotel war nichts zu sehen.
Der Weg vor ihr endete und eine Klippe fiel steil hinab. Sie hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder würde sie den ganzen Weg über den Berg zurück gehen und auf der anderen Seite einen Weg hinunter suchen oder sie würde versuchen jetzt diese Klippe hinabzusteigen. Dianne entschied sich für letzteres weil sie keine Lust den langen Weg zurück zu gehen und bei Anbruch der Dunkelheit noch irgendwo umher zu irren. Wer weiß schließlich was alles für Tiere hier hausten. Dort unten würde sie schon irgend eine Alm finden. Und so steil war die Klippe ja auch nicht, schließlich hatte sie ja ein wenig Klettererfahrung.
Man ahnte es ja schon und so rutschte knapp 10 Meter über dem Boden ein Stein unter Diannes Fuß weg und sie legte den Rest des Weges im freien Fall zurück.
Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr linkes Bein. Beim Aufprall hatte es ganz eindeutig geknackt. Dianne war vom Aufprall noch sehr erschöpft und auch der lange Marsch über ungewohntes Gelände hatte ihre Ausdauerreserven angegriffen. Der Versuch sich aufzurichten wurde durch eine Schmerzwelle seitens des Beines verhindert.
Sie schaffte es noch sich einige Meter durch Robben fortzubewegen bevor ihre Kraftreserven völlig aufgebraucht waren und sie in eine gnädige Ohnmacht fiel.
Bilder, Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Eine Stimme, so sanft. Der Geruch von Holz und von Blumen. Eine Wärme durchströmte sie. Sie wollte diese Wärme festhalten doch als sie danach griff, wurde sie nach unten gezogen und dieses Gefühl entrann ihren Händen. Und sie stürzte erneut hinab in die Dunkelheit.
Dianne öffnete die Augen. Sonnenlicht fiel auf das Bett, in dem sie lag und im Licht der Morgensonne konnte sie das Zimmer erkennen. Sie befand sich in einer kleinen Holzhütte, in der neben dem Bett ein kleiner Tisch mit Schemel und ein etwas älterer Holzofen standen. Auf dem Ofen kocht ein kleiner Topf vor sich hin. Dem Geruch nach zu urteilen, Gemüsesuppe. "Das riecht aber gut." Der Mann, der am Ofen stand drehte sich bei Diannes Worten um. "Ah, du bist aufgewacht. Das ist ein gutes Zeichen." Diannes Gesichtsausdruck zeigte ihm wie wenig sie verstand was er meinte und so fuhr er fort: "Du hattest einen Unfall am Hang. Erinnerst du dich nicht daran? Du hast drei Tage lang geschlafen." "Ein Sturz? Ich weiß nicht es ist alles so verschwommen." "Das geht vorbei. Du hattest hohes Fieber. Du kannst froh sein, daß ich dich gefunden habe." Er nahm den Topf vom Ofen und kam auf Dianne zu. "Hier, iß ein wenig. Du mußt wieder zu Kräften kommen." Dankend nahm sie den Topf und fing an die heiße Suppe zu essen.
Erst als sie die Suppe aß merkte sie wie hungrig sie war. Die Hitze des Essens füllte sie aus und wärmte ihren Körper von innen. "Danke, das tat gut." Dianne gab den Topf zurück. "Du solltest dich ein wenig ausruhen. Ich gehe jetzt Feuerholz holen. Ich bin bald wieder da." Mit diesen Worten erhob sich der Fremde, stellte den Topf auf dem Tisch ab und ging zur Tür hinaus.
Dianne fiel ein, daß sie sich dem Fremden ja noch gar nicht vorgestellt hatte und er auch ihr noch nicht. Sie wollte schon die Decke beiseite schlagen als eine Welle der Müdigkeit über sie hereinschlug.
Sie erwachte am Abend des Tages noch einmal kurz aber der Fremde legte ihr den Finger auf den Mund als sie sprechen wollte. "Du mußt dich ausruhen. Ich weiß, daß du viele Fragen hast aber jetzt ist nicht die Zeit darüber zu reden." Dianne wollte ihm widersprechen aber ihr fehlte die Kraft dazu. Und so sank sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Die nächsten Tage lang pflegte der Fremde Dianne so gut er konnte. Trotz seiner Pflege schien es Dianne allerdings als hätte sich ein nebelhafter Schleier über sie gelegt, der an ihrer Kraft zehrte. Etwas mehr als eine Woche war seit Diannes Sturz schon vergangen.
"Und wie fühlst du dich heute?" fragte sie der Fremde. "Gut, irgendwie kräftiger." Der Fremde lächelte: "Das freut mich. Ich denke es ist an der Zeit, daß du gute ärztliche Hilfe bekommst. Ich werde dich ins nächste Dorf bringen." Erst jetzt bemerkte Dianne die Bahre, die neben dem Bett stand. Sie bestand aus ein par länglichen Holzbrettern die zusammen genagelt waren und so die Liegefläche bildeten. Vier einfache Metallräder und zwei Griffe zum schieben rundeten das Gerät ab. Um ihr das liegen zu erleichtern hatte der Fremde auf die Liegefläche eine Wolldecke ausgebreitet. "Ich weiß es ist nichts besonderes, aber ich mußte mir eben etwas einfallen lassen wie ich dich bis zum Dorf bringen soll." Dianne konnte es nicht fassen, er hatte nur für sie diese Bahre gebaut. Sie schlug die Decke beiseite und enthüllte die notdürftige Schienung, die ihr der Fremde an ihr linkes Bein angelegt hatte.
"Warte ich helfe dir." Dianne wollte sich schon erheben, doch der Fremde schob seine Hände unter sie und hob sie auf die Bahre.
Schon kurz nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten fiel Dianne wieder in einen kurzen Schlaf. Als sie die Augen wieder aufschlug, waren sie immer noch unterwegs. Auf einer Anhöhe blieben sie stehen. Diannes Retter wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich wieder in Bewegung. Dianne blickte hinunter in erblickte im Tal ein kleines Dorf. Dieses Dorf wahr ihr Ziel. "Ich wollte dir noch mal danken, für alles was du für mich getan hast. Ich heiße Dianne." Ohne sich zu ihr umzudrehen antwortete ihr der Fremde: "Ein schöner Name. Ich heiße Alius. Und ich habe nichts für dich getan." Den letzten Satz überhörte Dianne wissentlich. Er hatte viel für sie getan, daran gab es keinen Zweifel. "Alius, ein ungewöhnlicher Name. Aber ich danke dir Alius."
"Der Name ist nicht mein gebürtiger Name. Aber es ist der einzige an den ich mich erinnern kann." Dianne war verwirrt. "Wie kommt es, daß du deinen gebürtigen Namen nicht mehr weißt? Ich meine deine Eltern müssen denn doch kennen. Und was ist mit den Menschen unten im Dorf?" Alius blieb kurz stehen und blickte in den Himmel, er dachte nach. "Die Menschen im Dorf kennen mich nur unter diesem Namen.", sagte er während hinunter Richtung Tal ging, "Eltern habe ich keine mehr." Dianne war erschrocken. "Das habe ich nicht gewußt, entschuldige bitte." Dianne konnte natürlich nicht sehen, wie sich in Alius Züge ein Lächeln schlich. "Nein das kannst du wirklich nicht wissen. Ich habe meine Eltern in einem Autounfall verloren als ich vier Jahre alt war. Damals habe ich nicht verstanden was passiert war, im Heim, in das ich danach kam, hatte ich keine Zeit viel über meine Eltern nachzudenken. Ich habe ihren Tod nie betrauert. Heute bin ich in gewisser Weise froh das es so gekommen ist. Denn nur so bin ich der Mensch geworden der ich heute bin. Ich bin zufrieden mit dem Leben, daß ich jetzt lebe. Ich habe meine gesamte Kindheit in der Stadt verbracht, in Heimen oder auf der Straße. Es tut einfach gut hier in der friedlichen Umgebung zu leben."
Dianne war überrascht von Alius Offenheit aber zum Teil auch schockiert über seine Aussagen. "Aber du mußt doch irgend etwas gespürt haben. Irgend ein Gefühl des Verlustes oder sonst etwas in der Richtung. Du kannst doch nicht nichts gespürt haben als deine Eltern starben. Das ist doch nicht normal."
Zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen waren drehte Alius den Kopf und blickte Dianne in die Augen. "Was ist normal? Was ist nicht normal? Wer entscheidet das? Und überhaupt, was spielt es für eine Rolle was normal ist? Ich bin was ich bin. In der Woche nach dem Unfall war ich geschockt. Ich habe mich zwar gewundert warum meine Eltern nicht bei mir waren aber mir sonst nichts dabei gedacht. Als man mich dann ins Heim geschickt hat war ich immer noch zu geschockt um zu erfassen das meine Eltern tot waren. Im Heim selber war keine Zeit sich mit solchen Dingen zu befassen. Es war ein täglicher Kampf zwischen mir und den Aufsehern, der darin endete, daß ich mit neun Jahren davon lief und auf der Straße lebte."
Irgendwie war das verständlich, dachte Dianne. "Aber wieso lebst du jetzt völlig allein?"
"Mein Leben war alles andere als sorgenfrei, wie deines vermutlich ist. Das Leben auf der Straße ist hart, sehr hart. Du erkennst, daß das Einzige was du wirklich besitzt, das ist, was du in deinem Herzen trägst." "Das verstehe ich nicht. Was meinst du mit im Herzen tragen?" "Auf der Straße erkennt man wie vergänglich alles ist. Das einzige was dir nicht genommen werden kann sind deine Gefühle, das was du in deinem Herzen trägst und behütest." Dianne richtete sich auf, soweit das in ihrer Position möglich war. "Was ist denn mit Freunden und Liebe? Bedeutet dir das nichts?" Alius seufzte. "Menschen sterben, und nur die wenigstens Freundschaften halten ewig. Liebe ist wunderbar, das stimmt. Aber sie ist auch ein zweischneidiges Schwert."
"Viele Menschen haben Liebeskummer. Das ist normal und geht vorüber, aber man kann deswegen doch nicht ganz ohne Liebe leben wollen." Erneut blieb Alius eine Weile stehen und dachte nach. "Ich war einmal verliebt.", fing er an und setzte sich wieder in Bewegung, "Die ganze Sache liegt schon etliche Jahre zurück aber ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen. Drei Monate währte mein Glück. Aber dann fand es ein abruptes Ende. Meine Liebe wurde von einem Querschläger einer Straßenschießerei getroffen und starb noch an Ort und Stelle an ihren Verletzungen. Sie wurde Opfer eines Kampfes von dem sie nichts wußte und mit dem sie nichts zu tun hatte. Und dadurch wurde ich auch ein Opfer." "Das ist wirklich schlimm." "Das wirklich Schlimme war, daß ihr Tod so sinnlos war, und daß ich so hilflos war. Ich habe versucht ihren Tod zu akzeptieren aber die Sinnlosigkeit hat mich immer verfolgt. Ich habe in jenen Tagen auch angefangen über die Liebe nachzudenken. Welchen Sinn die Liebe macht, welchen Sinn sie für mich macht. Für einen Straßenjungen wie mich ist das wichtigste im Leben Sicherheit. Und die Liebe bietet keine Sicherheit. Ich verabscheue die Liebe nicht oder lehne sie ab. Ich bin nur nicht auf der Suche nach ihr. Wenn sie kommt öffne ich ihr die Tür und lasse sie herein. Kommt sie nicht so versinke ich deswegen aber nicht in Trauer." "Ein seltsamer Mensch bist du." Eine Regung von Mitleid begann in Dianne zu keimen. "Aber du lebst doch nicht nur deswegen allein, oder?" Fragte sie ihn.
Alius lachte und schüttelte dann den Kopf. "Nein, du hast recht. Es ist Freiheit. Hier bin ich frei." Er wandte seinen Kopf Dianne zu. "Weißt du, wenn ich ein normales Leben leben würde, wie du es tust, wäre ich von so vielen Menschen abhängig. Aber hier bin ich frei, hier habe ich mein wahres Selbst gefunden." Diannes Gesichtsausdruck sagte ihm, daß sie den letzten Teil nicht verstanden hatte. Er seufzte. "Mein wahres ich,", fuhr er fort, "das was ich wirklich bin, was mich zu dem Menschen macht der ich bin." Diannes Gesichtsausdruck hellte sich kein wenig auf, sie hatte es immer noch nicht verstanden. "Die meisten Menschen glauben zu wissen wer sie sind.", fuhr er erneut fort, "Sie denken sie wissen, was sie in ihrem Leben erreichen wollen. Aber nur sehr wenige wissen wirklich wer sie sind. Zu aller erst ist der Mensch egoistisch. Wenn man sieht wie viele Menschen genau dies leugnen, erkennt man wie wenig die Menschen sich selber kennen. Ich finde es schlimm den eigenen Egoismus zu leugnen und anderen Menschen selbstlos zu helfen." "Aber wenn du so gegen soziales Verhalten bist, wieso hast du mir dann geholfen? Widersprichst du dir nicht gerade selbst?" Dianne fiel nach dieser Frage wieder zurück auf ihre Liege. Die Schmerzen in ihrem Bein waren einfach zu stark. Alius wartete bis sie aufgehört hatte schwer zu atmen und wieder fähig war ihm zuzuhören.
"Du mißverstehst mich. Sozialität ist gut und wichtig. Nur sollte dabei nicht der Egoismus verleugnet werden. Wäre ich antisozial eingestellt hätte ich dir nicht geholfen und dich liegengelassen. Ich habe dir aber geholfen. Du willst wissen warum? Ich konnte dich nicht leiden sehen. Ich wollte mir später nicht vorwerfen dein Leiden durch meine Untätigkeit verlängert zu haben." Mit einem triumphierenden Lächeln antwortete ihm Dianne: "Also bist du doch ein sozialer Mensch." Bei diesen Worten mußte Alius ebenfalls lächeln. "Wenn ich mich nicht selber kennen würde ich dir zustimmen. Aber da ich mich selber gut kenne widerspreche ich dir. Weil ich dir helfe habe ich später keine Schuldgefühle. Ich fühle mich besser weil ich dir geholfen habe. Es geht mir um meine Gefühle, ich bin egoistisch." "Aber nicht nur." "Richtig erkannt. Aber ich habe manchmal das Gefühl, daß die Menschen Egoismus mit Narzißmus verwechseln. Die Menschen glauben nun mal nur das, was sie glauben wollen. Mein Motto ist: Leben und leben lassen." "Narzißmus sagt mir jetzt nichts." Erwiderte Dianne. "Narziss war eine Sagengestalt. Die Legende besagt, daß er sich in sein Spiegelbild verliebt hat als er es in einem See erblickte. Der Egoismus ist die Betonung der eigenen Person, während Narzißmus Selbstverliebtheit ist. Viele Menschen hören aber nur das, was sie hören wollen, wobei es keine Rolle spielt ob es richtig ist oder nicht." Dianne blieb der bittere Unterton in Alius Stimme nicht verborgen. "Du klingst als würde du das nicht gerade gut finden." Alius nickte grimmig. "Das ist noch höflich gesagt. Für mich ist es ein Armutszeugnis der Menschheit. Es ist nichts schlimmes daran etwas falsches zu denken. Aber man muß bereit sein seine Fehler zu erkennen und einzugestehen, etwas was viele nicht können. Ich kann die Selbstgefälligkeit, mit der sich die Menschen belügen, nicht ertragen. Wenn ich alleine bin fühle ich mich frei. Deswegen lebe ich hier so abgeschieden." "Bist du glücklich?" Fragte Dianne. Alius schaute erneut zum Himmel und dachte kurz nach bevor er antwortete: "Ja, absolut. Wenn ich am Tag meines Todes auf mein Leben zurückblicke, weiß ich, daß ich so gelebt habe wie ich es immer wollte. Ich würde mich jederzeit wieder so entscheiden. Ja, ich bin glücklich." Dies waren die letzten Worte, die Dianne von Alius hörte während sie hinunter ins Tal gingen.
Unten angekommen wurden sie schon vom Dorfpfarrer empfangen der auch gleich einen Krankenwagen rufen ließ. Alius verabschiedete sich stumm und wandte sich wieder dem Berg zu. "Er ist schon ein seltsamer Mensch. Wenn ich es nicht besser wüßte könnte man fast glauben er wäre stumm." Dianne schaute den Pfarrer, der diese Worte sagte. Sie dachte an das, was Alius ihr gesagt hatte. "Nein.", widersprach sie dem Geistlichen, "Er hat sehr viel zu sagen. Man muß nur bereit sein zuzuhören."
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Ich hoffe diese Geschichte regt ein wenig zum Nachdenken an.
Über Kommentare und/oder Kritik wäre ich höchst erfreut.
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Der Egoist
Sie hatte sich verirrt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen sich von der Gruppe zu trennen und alleine zum Hotel zurück zu gehen. Aber dieser Führer war Dianne einfach auf die Nerven gegangen. Achtet auf dies, tut das nicht, furchtbar. So schwierig waren die Wege ja auch nicht. So würde schon nach Hause finden - hatte sie gedacht. Mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher. Die Wege wurden zunehmend steiniger und wenn sie den Hang hinabblickte, ins Tal, so sah sie nur einen riesengroßen Wald. Von einer Lichtung samt Hotel war nichts zu sehen.
Der Weg vor ihr endete und eine Klippe fiel steil hinab. Sie hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder würde sie den ganzen Weg über den Berg zurück gehen und auf der anderen Seite einen Weg hinunter suchen oder sie würde versuchen jetzt diese Klippe hinabzusteigen. Dianne entschied sich für letzteres weil sie keine Lust den langen Weg zurück zu gehen und bei Anbruch der Dunkelheit noch irgendwo umher zu irren. Wer weiß schließlich was alles für Tiere hier hausten. Dort unten würde sie schon irgend eine Alm finden. Und so steil war die Klippe ja auch nicht, schließlich hatte sie ja ein wenig Klettererfahrung.
Man ahnte es ja schon und so rutschte knapp 10 Meter über dem Boden ein Stein unter Diannes Fuß weg und sie legte den Rest des Weges im freien Fall zurück.
Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr linkes Bein. Beim Aufprall hatte es ganz eindeutig geknackt. Dianne war vom Aufprall noch sehr erschöpft und auch der lange Marsch über ungewohntes Gelände hatte ihre Ausdauerreserven angegriffen. Der Versuch sich aufzurichten wurde durch eine Schmerzwelle seitens des Beines verhindert.
Sie schaffte es noch sich einige Meter durch Robben fortzubewegen bevor ihre Kraftreserven völlig aufgebraucht waren und sie in eine gnädige Ohnmacht fiel.
Bilder, Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Eine Stimme, so sanft. Der Geruch von Holz und von Blumen. Eine Wärme durchströmte sie. Sie wollte diese Wärme festhalten doch als sie danach griff, wurde sie nach unten gezogen und dieses Gefühl entrann ihren Händen. Und sie stürzte erneut hinab in die Dunkelheit.
Dianne öffnete die Augen. Sonnenlicht fiel auf das Bett, in dem sie lag und im Licht der Morgensonne konnte sie das Zimmer erkennen. Sie befand sich in einer kleinen Holzhütte, in der neben dem Bett ein kleiner Tisch mit Schemel und ein etwas älterer Holzofen standen. Auf dem Ofen kocht ein kleiner Topf vor sich hin. Dem Geruch nach zu urteilen, Gemüsesuppe. "Das riecht aber gut." Der Mann, der am Ofen stand drehte sich bei Diannes Worten um. "Ah, du bist aufgewacht. Das ist ein gutes Zeichen." Diannes Gesichtsausdruck zeigte ihm wie wenig sie verstand was er meinte und so fuhr er fort: "Du hattest einen Unfall am Hang. Erinnerst du dich nicht daran? Du hast drei Tage lang geschlafen." "Ein Sturz? Ich weiß nicht es ist alles so verschwommen." "Das geht vorbei. Du hattest hohes Fieber. Du kannst froh sein, daß ich dich gefunden habe." Er nahm den Topf vom Ofen und kam auf Dianne zu. "Hier, iß ein wenig. Du mußt wieder zu Kräften kommen." Dankend nahm sie den Topf und fing an die heiße Suppe zu essen.
Erst als sie die Suppe aß merkte sie wie hungrig sie war. Die Hitze des Essens füllte sie aus und wärmte ihren Körper von innen. "Danke, das tat gut." Dianne gab den Topf zurück. "Du solltest dich ein wenig ausruhen. Ich gehe jetzt Feuerholz holen. Ich bin bald wieder da." Mit diesen Worten erhob sich der Fremde, stellte den Topf auf dem Tisch ab und ging zur Tür hinaus.
Dianne fiel ein, daß sie sich dem Fremden ja noch gar nicht vorgestellt hatte und er auch ihr noch nicht. Sie wollte schon die Decke beiseite schlagen als eine Welle der Müdigkeit über sie hereinschlug.
Sie erwachte am Abend des Tages noch einmal kurz aber der Fremde legte ihr den Finger auf den Mund als sie sprechen wollte. "Du mußt dich ausruhen. Ich weiß, daß du viele Fragen hast aber jetzt ist nicht die Zeit darüber zu reden." Dianne wollte ihm widersprechen aber ihr fehlte die Kraft dazu. Und so sank sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Die nächsten Tage lang pflegte der Fremde Dianne so gut er konnte. Trotz seiner Pflege schien es Dianne allerdings als hätte sich ein nebelhafter Schleier über sie gelegt, der an ihrer Kraft zehrte. Etwas mehr als eine Woche war seit Diannes Sturz schon vergangen.
"Und wie fühlst du dich heute?" fragte sie der Fremde. "Gut, irgendwie kräftiger." Der Fremde lächelte: "Das freut mich. Ich denke es ist an der Zeit, daß du gute ärztliche Hilfe bekommst. Ich werde dich ins nächste Dorf bringen." Erst jetzt bemerkte Dianne die Bahre, die neben dem Bett stand. Sie bestand aus ein par länglichen Holzbrettern die zusammen genagelt waren und so die Liegefläche bildeten. Vier einfache Metallräder und zwei Griffe zum schieben rundeten das Gerät ab. Um ihr das liegen zu erleichtern hatte der Fremde auf die Liegefläche eine Wolldecke ausgebreitet. "Ich weiß es ist nichts besonderes, aber ich mußte mir eben etwas einfallen lassen wie ich dich bis zum Dorf bringen soll." Dianne konnte es nicht fassen, er hatte nur für sie diese Bahre gebaut. Sie schlug die Decke beiseite und enthüllte die notdürftige Schienung, die ihr der Fremde an ihr linkes Bein angelegt hatte.
"Warte ich helfe dir." Dianne wollte sich schon erheben, doch der Fremde schob seine Hände unter sie und hob sie auf die Bahre.
Schon kurz nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten fiel Dianne wieder in einen kurzen Schlaf. Als sie die Augen wieder aufschlug, waren sie immer noch unterwegs. Auf einer Anhöhe blieben sie stehen. Diannes Retter wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich wieder in Bewegung. Dianne blickte hinunter in erblickte im Tal ein kleines Dorf. Dieses Dorf wahr ihr Ziel. "Ich wollte dir noch mal danken, für alles was du für mich getan hast. Ich heiße Dianne." Ohne sich zu ihr umzudrehen antwortete ihr der Fremde: "Ein schöner Name. Ich heiße Alius. Und ich habe nichts für dich getan." Den letzten Satz überhörte Dianne wissentlich. Er hatte viel für sie getan, daran gab es keinen Zweifel. "Alius, ein ungewöhnlicher Name. Aber ich danke dir Alius."
"Der Name ist nicht mein gebürtiger Name. Aber es ist der einzige an den ich mich erinnern kann." Dianne war verwirrt. "Wie kommt es, daß du deinen gebürtigen Namen nicht mehr weißt? Ich meine deine Eltern müssen denn doch kennen. Und was ist mit den Menschen unten im Dorf?" Alius blieb kurz stehen und blickte in den Himmel, er dachte nach. "Die Menschen im Dorf kennen mich nur unter diesem Namen.", sagte er während hinunter Richtung Tal ging, "Eltern habe ich keine mehr." Dianne war erschrocken. "Das habe ich nicht gewußt, entschuldige bitte." Dianne konnte natürlich nicht sehen, wie sich in Alius Züge ein Lächeln schlich. "Nein das kannst du wirklich nicht wissen. Ich habe meine Eltern in einem Autounfall verloren als ich vier Jahre alt war. Damals habe ich nicht verstanden was passiert war, im Heim, in das ich danach kam, hatte ich keine Zeit viel über meine Eltern nachzudenken. Ich habe ihren Tod nie betrauert. Heute bin ich in gewisser Weise froh das es so gekommen ist. Denn nur so bin ich der Mensch geworden der ich heute bin. Ich bin zufrieden mit dem Leben, daß ich jetzt lebe. Ich habe meine gesamte Kindheit in der Stadt verbracht, in Heimen oder auf der Straße. Es tut einfach gut hier in der friedlichen Umgebung zu leben."
Dianne war überrascht von Alius Offenheit aber zum Teil auch schockiert über seine Aussagen. "Aber du mußt doch irgend etwas gespürt haben. Irgend ein Gefühl des Verlustes oder sonst etwas in der Richtung. Du kannst doch nicht nichts gespürt haben als deine Eltern starben. Das ist doch nicht normal."
Zum ersten Mal, seit sie aufgebrochen waren drehte Alius den Kopf und blickte Dianne in die Augen. "Was ist normal? Was ist nicht normal? Wer entscheidet das? Und überhaupt, was spielt es für eine Rolle was normal ist? Ich bin was ich bin. In der Woche nach dem Unfall war ich geschockt. Ich habe mich zwar gewundert warum meine Eltern nicht bei mir waren aber mir sonst nichts dabei gedacht. Als man mich dann ins Heim geschickt hat war ich immer noch zu geschockt um zu erfassen das meine Eltern tot waren. Im Heim selber war keine Zeit sich mit solchen Dingen zu befassen. Es war ein täglicher Kampf zwischen mir und den Aufsehern, der darin endete, daß ich mit neun Jahren davon lief und auf der Straße lebte."
Irgendwie war das verständlich, dachte Dianne. "Aber wieso lebst du jetzt völlig allein?"
"Mein Leben war alles andere als sorgenfrei, wie deines vermutlich ist. Das Leben auf der Straße ist hart, sehr hart. Du erkennst, daß das Einzige was du wirklich besitzt, das ist, was du in deinem Herzen trägst." "Das verstehe ich nicht. Was meinst du mit im Herzen tragen?" "Auf der Straße erkennt man wie vergänglich alles ist. Das einzige was dir nicht genommen werden kann sind deine Gefühle, das was du in deinem Herzen trägst und behütest." Dianne richtete sich auf, soweit das in ihrer Position möglich war. "Was ist denn mit Freunden und Liebe? Bedeutet dir das nichts?" Alius seufzte. "Menschen sterben, und nur die wenigstens Freundschaften halten ewig. Liebe ist wunderbar, das stimmt. Aber sie ist auch ein zweischneidiges Schwert."
"Viele Menschen haben Liebeskummer. Das ist normal und geht vorüber, aber man kann deswegen doch nicht ganz ohne Liebe leben wollen." Erneut blieb Alius eine Weile stehen und dachte nach. "Ich war einmal verliebt.", fing er an und setzte sich wieder in Bewegung, "Die ganze Sache liegt schon etliche Jahre zurück aber ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen. Drei Monate währte mein Glück. Aber dann fand es ein abruptes Ende. Meine Liebe wurde von einem Querschläger einer Straßenschießerei getroffen und starb noch an Ort und Stelle an ihren Verletzungen. Sie wurde Opfer eines Kampfes von dem sie nichts wußte und mit dem sie nichts zu tun hatte. Und dadurch wurde ich auch ein Opfer." "Das ist wirklich schlimm." "Das wirklich Schlimme war, daß ihr Tod so sinnlos war, und daß ich so hilflos war. Ich habe versucht ihren Tod zu akzeptieren aber die Sinnlosigkeit hat mich immer verfolgt. Ich habe in jenen Tagen auch angefangen über die Liebe nachzudenken. Welchen Sinn die Liebe macht, welchen Sinn sie für mich macht. Für einen Straßenjungen wie mich ist das wichtigste im Leben Sicherheit. Und die Liebe bietet keine Sicherheit. Ich verabscheue die Liebe nicht oder lehne sie ab. Ich bin nur nicht auf der Suche nach ihr. Wenn sie kommt öffne ich ihr die Tür und lasse sie herein. Kommt sie nicht so versinke ich deswegen aber nicht in Trauer." "Ein seltsamer Mensch bist du." Eine Regung von Mitleid begann in Dianne zu keimen. "Aber du lebst doch nicht nur deswegen allein, oder?" Fragte sie ihn.
Alius lachte und schüttelte dann den Kopf. "Nein, du hast recht. Es ist Freiheit. Hier bin ich frei." Er wandte seinen Kopf Dianne zu. "Weißt du, wenn ich ein normales Leben leben würde, wie du es tust, wäre ich von so vielen Menschen abhängig. Aber hier bin ich frei, hier habe ich mein wahres Selbst gefunden." Diannes Gesichtsausdruck sagte ihm, daß sie den letzten Teil nicht verstanden hatte. Er seufzte. "Mein wahres ich,", fuhr er fort, "das was ich wirklich bin, was mich zu dem Menschen macht der ich bin." Diannes Gesichtsausdruck hellte sich kein wenig auf, sie hatte es immer noch nicht verstanden. "Die meisten Menschen glauben zu wissen wer sie sind.", fuhr er erneut fort, "Sie denken sie wissen, was sie in ihrem Leben erreichen wollen. Aber nur sehr wenige wissen wirklich wer sie sind. Zu aller erst ist der Mensch egoistisch. Wenn man sieht wie viele Menschen genau dies leugnen, erkennt man wie wenig die Menschen sich selber kennen. Ich finde es schlimm den eigenen Egoismus zu leugnen und anderen Menschen selbstlos zu helfen." "Aber wenn du so gegen soziales Verhalten bist, wieso hast du mir dann geholfen? Widersprichst du dir nicht gerade selbst?" Dianne fiel nach dieser Frage wieder zurück auf ihre Liege. Die Schmerzen in ihrem Bein waren einfach zu stark. Alius wartete bis sie aufgehört hatte schwer zu atmen und wieder fähig war ihm zuzuhören.
"Du mißverstehst mich. Sozialität ist gut und wichtig. Nur sollte dabei nicht der Egoismus verleugnet werden. Wäre ich antisozial eingestellt hätte ich dir nicht geholfen und dich liegengelassen. Ich habe dir aber geholfen. Du willst wissen warum? Ich konnte dich nicht leiden sehen. Ich wollte mir später nicht vorwerfen dein Leiden durch meine Untätigkeit verlängert zu haben." Mit einem triumphierenden Lächeln antwortete ihm Dianne: "Also bist du doch ein sozialer Mensch." Bei diesen Worten mußte Alius ebenfalls lächeln. "Wenn ich mich nicht selber kennen würde ich dir zustimmen. Aber da ich mich selber gut kenne widerspreche ich dir. Weil ich dir helfe habe ich später keine Schuldgefühle. Ich fühle mich besser weil ich dir geholfen habe. Es geht mir um meine Gefühle, ich bin egoistisch." "Aber nicht nur." "Richtig erkannt. Aber ich habe manchmal das Gefühl, daß die Menschen Egoismus mit Narzißmus verwechseln. Die Menschen glauben nun mal nur das, was sie glauben wollen. Mein Motto ist: Leben und leben lassen." "Narzißmus sagt mir jetzt nichts." Erwiderte Dianne. "Narziss war eine Sagengestalt. Die Legende besagt, daß er sich in sein Spiegelbild verliebt hat als er es in einem See erblickte. Der Egoismus ist die Betonung der eigenen Person, während Narzißmus Selbstverliebtheit ist. Viele Menschen hören aber nur das, was sie hören wollen, wobei es keine Rolle spielt ob es richtig ist oder nicht." Dianne blieb der bittere Unterton in Alius Stimme nicht verborgen. "Du klingst als würde du das nicht gerade gut finden." Alius nickte grimmig. "Das ist noch höflich gesagt. Für mich ist es ein Armutszeugnis der Menschheit. Es ist nichts schlimmes daran etwas falsches zu denken. Aber man muß bereit sein seine Fehler zu erkennen und einzugestehen, etwas was viele nicht können. Ich kann die Selbstgefälligkeit, mit der sich die Menschen belügen, nicht ertragen. Wenn ich alleine bin fühle ich mich frei. Deswegen lebe ich hier so abgeschieden." "Bist du glücklich?" Fragte Dianne. Alius schaute erneut zum Himmel und dachte kurz nach bevor er antwortete: "Ja, absolut. Wenn ich am Tag meines Todes auf mein Leben zurückblicke, weiß ich, daß ich so gelebt habe wie ich es immer wollte. Ich würde mich jederzeit wieder so entscheiden. Ja, ich bin glücklich." Dies waren die letzten Worte, die Dianne von Alius hörte während sie hinunter ins Tal gingen.
Unten angekommen wurden sie schon vom Dorfpfarrer empfangen der auch gleich einen Krankenwagen rufen ließ. Alius verabschiedete sich stumm und wandte sich wieder dem Berg zu. "Er ist schon ein seltsamer Mensch. Wenn ich es nicht besser wüßte könnte man fast glauben er wäre stumm." Dianne schaute den Pfarrer, der diese Worte sagte. Sie dachte an das, was Alius ihr gesagt hatte. "Nein.", widersprach sie dem Geistlichen, "Er hat sehr viel zu sagen. Man muß nur bereit sein zuzuhören."
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Ich hoffe diese Geschichte regt ein wenig zum Nachdenken an.