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Jerome Denis Andre
27.11.2011, 22:30
Die Parabel von Spiegel und Schneeflocke


Kalter Wind war es, der mich weckte. Oft schon hatte ich mich selbst ermahnt im Winter nachts das Fenster verschlossen zu halten,
doch wie so oft hält man im Leben nicht jeden Vorsatz, den man sich setzt. Das knackende Uhrwerk des Weckers schob die Zeiger
gerade auf Punkt drei Uhr. Einmal aufgewacht war jedoch an Schlaf nicht mehr zu Denken.

Drei Tassen Earl Grey und zwei Spekulatii später schlüpfte ich also in Stiefel und Mantel, und stürzte mich hinaus, hinein in die Kälte,
wie ein Heroe mitten in eine tosende Schlacht. Alsbald ward mein Gang jedoch gar nicht mehr heroisch. Meine Beine knallten gegen
die kühle Luft als wäre sie aus Beton, statt sie zügig zu durchschreiten. Der Nachgeschmack nach Bergamotten, der meiner
Kehle noch anhaftete, half zwar den scharfen Wind zu atmen, doch schien mir mein kondensierender Atem dennoch eher kleinen
Glassplittern zu gleichen, denn warmem Wasserdampf.

Aus Glas war auch die Wand, gegen die ich plötzlich lief. Verwundert über diesen Umstand ignorierte ich das rote Blut, das aus meiner Nase
auf den von weißem Reif bedeckten Boden unter mir tropfte, und streckte langsam tastend meine Hände aus. Ohne Zweifel: Vor mir befand
sich eine unsichtbare Wand aus Glas. Nachdem ich die Wand ein Stück weit abgegangen war, und begriffen hatte, dass sie zu weit reichte,
als dass ich hinter sie gelangen konnte, beschloss ich umzukehren, drehte mich um, und erschrak zugleich;
Eine dunkel gekleidete Gestalt trat mir entgegen.

Es dauerte ein paar Sekunden bis ich - denn die Gestalt wich ebenfalls zurück - begriff, dass ich diesmal einen Spiegel vor mir hatte.

Eine Weile betrachtete ich mich selbst, beschloss dann aber, dass es nun doch an der Zeit sei zu gehen. Umso verwunderter war ich zu bemerken,
dass zwei Wunden dies verhinderten: Zwei große, silbern schimmernde Nägel waren von mir unbemerkt aus dem Boden gewachsen, und hatten
sich durch meine Füße gebohrt; Ich war gefangen.

„Was bezweckst du damit?“, fragte ich die Gestalt im Spiegel, denn diese hatte zu lachen begonnen.

„Spieglein, Spieglein vor der Wand. Unerreichbar jede Schönheit im ganzen Land“.

Verwundert blinzelte ich die Gestalt an und zog die Augenbrauen zusammen, denn ich hatte nicht begriffen was sie mir sagen wollte.

„Erkenne dich selbst, mein Junge“, sprach der Spiegel abermals zu mir, „doch erkenne, dass du nicht bist.
Der Sinn allen Lebens ist es zu enden, doch alle Enden führen ins Nichts.“

Ich blickte an mir hinab. Ein kleiner roter Tropfen stach aus dem Braun meines linken Stiefels hervor.
Gab es diesen Tropfen gar nicht?

„Du bist dreckig. Du blutest. Du weißt nur, dass du nichts weißt.“

„Falsch! Du weißt nur, wovon du nichts weißt.“ Rasch wendete ich mich der leisen, aber hellen Stimme zu die da sprach.
Eine kleine Schneeflocke die prächtig glitzerte, hatte sich auf meiner linken Schulter niedergelassen.
„Höre nicht auf ihn. Er zeigt dir die Realität klar, schmutzig wie sie ist, aber gerade deshalb unklar und stückweise.
Ich hingegen zeige sie dir klar und deutlich; von Angesicht zu Angesicht. Ich zeige sie dir so, dass du sie erkennen kannst,
wie auch du erkannt bist. Ich zeige sie dir so, wie sie sein soll.“

„Aber ist das nicht träumerisch?“ „Nein. Das ist idealistisch.“

Die Gestalt im Spiegel wurde sichtlich wütend, und begann mir korrumpierte Zitate an den Kopf zu schmettern:
„Hier stehst du nun du armer Tor, und kannst nicht anders, und bist so schlau als wie zuvor; Gott hilft dir nicht!“

Ich aber ignorierte den Spiegel, und betrachtete die nun schweigende Schneeflocke. Wie in einem zerbrochenen Prisma
wurde von ihr das Licht des Mondes mannigfaltig gebrochen. Tausendfach konnte ich mein eigenes Antlitz erkennen.

„Gott würfelt sehr wohl!“

Ich legte meine rechte Hand um sie, und ergriff die Schneeflocke, welche bereits zu zerlaufen begonnen hatte.
Im selben Moment waren Nägel und Wand verschwunden, und ich begann zu laufen.

„Bleib stehen und falle blind vor meinem Leuchten nieder: Ich bin es, wen du verfolgst!“,
rief der Spiegel noch hinter mir her, kurz bevor er in tausend Teile zerfiel. Doch seine schwache Stimme vermischte sich
bereits mit einer anderen, weitaus lauteren, und weitaus realeren:

„Nun lesen sie den Satz doch schon endlich vor! ... Was ist denn los?“

Ich schlage die Augen auf, und blicke mich um. Ein Hörsaal.
Ich versuche gar nicht zu ergründen wie ich hierher kam,
sondern frage nur „wo waren wir gleich?“

„Zeile drei.“ „Achso. Ja, natürlich.“

Ich beuge mich über mein Buch, und beginne zu lesen.

„Γνῶθι σεαυτόν, ἤ διαφθεῖρον σεαυτόν.“

„Und jetzt: Deutsch!“

kate@net
07.12.2011, 11:13
„Einmal aufgewacht war jedoch an Schlaf nicht mehr zu Denken.“
Hier müsste „Denken“ klein geschrieben werden.


„Drei Tassen Earl Grey und zwei Spekulatii später…“
Soviel ich weiß, ist der Plural von Spekulatius ebenfalls Spekulatius im Deutschen.


“…wie ein Heroe mitten in eine tosende Schlacht.“
Heroe erscheint mir hier etwas gestelzt. Deine Wortwahl scheint zwar wohl gewählt, jedoch kann man es auch übertreiben. Wenn du bei Heroe bleiben willst, würde ich es etwas umschreiben. Zum Beispiel so: Gleich einem Heroen stürzte ich mich mitten hinein in eine tosende Schlacht. Ich frage mich nur, ob der Vergleich angebracht ist. Es scheint zwar bitter kalt zu sein, aber ein Schneegestöber in dem Ausmaß, wie man es mit „tosender Schlacht“ assoziieren würde, scheint nicht zu bestehen. Schließlich fällt ihm später nur eine einzelne Schneeflocke auf die Schulter.


„Meine Beine knallten gegen die kühle Luft als wäre sie aus Beton, …“
Knallten? Auch das Wort erscheint mir etwas merkwürdig in diesem Zusammenhang.


„Der Nachgeschmack nach Bergamotten“
Soviel ich weiß, sind Bergamotten kein Synonym für Zitronen, obwohl sie zu den Zitrusfrüchten gehören. Ich habe bis jetzt nur davon gehört, dass man sie in Parfum und anderen wohlriechenden Essenzen verwendet. Als Zusatz für meinen Earl Grey habe ich sie noch nie benutzt.


„ Umso verwunderter war ich zu bemerken, dass zwei Wunden dies verhinderten: Zwei große, silbern schimmernde Nägel waren von mir unbemerkt aus dem Boden gewachsen, und hatten sich durch meine Füße gebohrt;“
Manchmal erscheint es sinnvoller, noch einen weiteren Satz anzufangen und nicht noch mehr Nebensätze anzubringen. Auch erscheint es mir so, als würden hier einmal zwei Kommata fehlen, um einen Einschub abzugrenzen.


„Ich blickte an mir hinab. Ein kleiner roter Tropfen stach aus dem Braun meines linken Stiefels hervor.“
Stach? Würde ein Tropfen nicht eher rinnen? Oder meinst du, dass er besonders auffällig ist? Klingt auf jeden Fall etwas seltsam.


„Hier stehst du nun du armer Tor, und kannst nicht anders, und bist so schlau als wie zuvor; Gott hilft dir nicht!“
Die Dialoge sind teilweise etwas abgedroschen. Oder ist es Absicht, dass dauernd irgendwelche literarischen Zitate gebracht werden? Wenn ja, dann sollte man das noch deutlicher hervorheben. Zum Beispiel sollten die Figuren dann nur solche Sätze verwenden. Und außerdem erscheint mir der Satz nicht wirklich wie eine an den Kopf geworfene Äußerung, sondern ich würde sie wohl in diesem Moment als lächerlich empfinden.


„Bleib stehen und falle blind vor meinem Leuchten nieder: Ich bin es, wen du verfolgst!“
wen sollte wohl den sein

Fazit: Nette kurze Geschichte. Die Wendung war unerwartet. Die Länge erscheint angemessen. Und obwohl ich einiges angesprochen habe, dass mir nicht so passend erscheint, finde ich die Wortwahl und den Satzbau sehr gelungen. Zumindest liest es sich flüssig. Ich habe nur das Gefühl, dass man die Bedeutungsschwere, die du scheinbar ausdrücken wolltest, noch etwas besser hervorkehren könnte. Es könnte noch etwas mehr Parabel sein, wenn du verstehst, was ich meine.