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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Mr. Nobody - Time reversed



Mordechaj
08.03.2011, 11:35
http://kino.germanblogs.de/wp-content/uploads/2010/05/mr_nobody.jpg
Solange man sich nicht entscheidet, bleiben alle Möglichkeiten offen.



Offizieller deutscher Trailer:

http://www.youtube.com/watch?v=dq8EYWGN71c

Fan-made Trailer in englischer Sprache:

http://www.youtube.com/watch?v=jo-nCX_9m2M




Das Leben als Gymnopédie.

Nemo Nobody ist der Mensch, der nicht existiert. Niemand weiß, wer er ist, nicht einmal er selbst kann es sagen. Seine Erinnerungen sind eine Ansammlung von Bruchstücken, die nicht ineinander zu passen wissen, die widersprüchlich sind. Der einzige, unglaublich dünne Rote Faden, der dem Zuschauer gegeben ist, ist die Zeit. Und selbst die gibt keine Antworten.

Das Filmgeschehen bleibt verworren, bis das Ende eine sinnvolle und verdammt einfache Erklärung für alles liefert.
...und damit ziemlich viel kaputt macht.


Bildgewalt. Der Film enthält vor allem Bilder, Motive, sehr viele und sehr hübsche davon; das ist für einen derart künstlerisch konzipierten Film durchaus nicht die Norm. Dabei sind die Bilder auch wirklich relevant und geschickt eingesetzt, in ihnen liegt die tiefe Schwere und die überragende Schönheit des Geschehens.

Die Kameraführung ist wirklich klasse, setzt bewusst und sehr deutlich Akzente. Sie ist teilweise aber ein bisschen zu träge und bildgestalterische Momente, die im Film nunmal in den Hintergrund treten, sind manchmal sehr plakativ. Der Mut zur Motivvielfalt hingegen hat sich aber ausgezahlt, das macht viel her und wirkt definitiv. Es ist die schiere Majestät der visuellen Welt, die man hier aufbaut.

Die Handlung weiß durchaus zu fesseln, die Erzähldimensionen sind sehr toll verflochten. Trotzdessen, dass der Film sehr amerikanisch angehaucht ist, finden sich doch auch sehr europäische Elemente wieder. Klare Erzählmomente auf einer blurry line schlagen eine Schneise zwischen Befremdlichkeit und absoluter Immersion.

Die Charaktere sind sehr simpel gestaltet und stehen in direkter Abhängigkeit zum Hauptprotagonisten. Der wiederum ist die perfekte Projektionsfläche, ein Mann zwischen einer Vielzahl von Vergangenheiten und einer Zukunft. In ihm bündeln sich die meisten großen Sinnfragen der modernen Menschheit, vor allem aber die Frage nach der Existenz und was sie ausmacht.

Leider ordnen sie sich einer großen Hauptaussage unter, die zwar beeindruckend schön ist, aber am Ende fast ein bisschen zunichte gemacht wird. Sie wäre viel weniger kurz gekommen, wenn man die Mindfuck-Haltung aus den vorhergehenden zweieinhalb Stunden beibehalten hätte. Mit dem Ende verliert man sich aber in griechischem Theater: Man erklärt, klärt auf, was schade ist.

Warum vertraut man nicht auf die Bilder und Handlungsstränge, auf Hinweise, die man den ganzen Film über gibt? Die Aussagehaltung und die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten ist doch gerade die Stärke des Film, zumindest eben bis man die Plotlines gewaltsam zusammenbindet und sagt "So, jetzt ist Schluss, jetzt erklären wir euch mal!"

Das Ende gibt Sinn, ist aber durch die Erklärhaltung noch schlimmer verpatzt als bei Donnie Darko. Bedauernswert ist das Kino, das dafür gesorgt hat, dass internationale Kunstproduktionen dem Zuschauer so wenig zutrauen. Der Nachklang des Films wäre mit dem Aufrechterhalten der Verwirrung des Zeitenmysteriums viel stärker gewesen; so verliert aber vieles mit einem Schlag einen Großteil seiner Wirkung.


Trotzdem ein brillanter Film aus dem Schoß des internationalen Kinos, der definitiv Tiefgang und Schönheit bereit hält, ohne dass man auf seinen Gedanken sitzen bleibt. Viel mehr trägt eine überragend gut inszenierte Bilderwelt durch eine existenzielle Fragestellung, durch eine nicht ganz einzigartige, aber immersive Lebensgeschichte. Für Sci-Fi-Geübte, Philosophen, Drama-Liebende und Romantiker oder für solche, die einfach mal etwas Schönes für die Augen brauchen, dringend empfohlen.

Broken Chords Can Sing A Little
10.03.2011, 13:31
Ja, ich fand den Film prinzipiell auch sehr schön, nur eben dieses so offensichtliche Erklären am Ende hat mich ebenfalls genervt. Im Grunde wäre man auch von selbst darauf gekommen, worauf die Sache hinausläuft, ohne, dass man das noch visualisieren und/oder erzählen hätte müssen. Aber davon abgesehen wurde, wie du sagst, die Thematik visuell und erzählerisch sehr schön umgesetzt und lässt einen durchaus nachdenken, über das Leben, Entscheidungen und das ewige "Was wäre wenn?"

Besonders kitschig und unpassend fand ich leider
als der bärtige Penner-Nemo und Anna dann doch noch, einfach so, zusammenkommen - obwohl das überhaupt keinen Sinn ergibt und auch so gar nicht zur doch recht sentimentalen Geschichte gepasst hat. Für mich hatte diese Konklusion den Anschein, als wollte man dem hollywoodromanzenverwöhnten Anteil der Zuseher noch ein Ende mitgeben, mit dem auch sie glücklich werden - das prädestinierte Traumpaar findet sich am Ende doch noch und so. Dabei geht's in dem Film - meiner Meinung nach - ja eben gerade darum, dass man auch falsche Entscheidungen treffen kann, die dann aber doch nicht unbedingt das Ende der Welt bedeuten und man einfach das Beste daraus machen muss.
(Obwohl, wenn ich so drüber nachdenke, vielleicht doch nicht so: Immerhin ist das einzige der möglichen Enden, in dem Nemo wirklich glücklich wird, eben jenes mit Anna. Sobald er es sich mit ihr irgendwie verbockt, endet er gelangweilt, deprimiert oder einsam. Hm.)

Mordechaj
13.03.2011, 21:56
als der bärtige Penner-Nemo und Anna dann doch noch, einfach so, zusammenkommen - obwohl das überhaupt keinen Sinn ergibt und auch so gar nicht zur doch recht sentimentalen Geschichte gepasst hat. Für mich hatte diese Konklusion den Anschein, als wollte man dem hollywoodromanzenverwöhnten Anteil der Zuseher noch ein Ende mitgeben, mit dem auch sie glücklich werden - das prädestinierte Traumpaar findet sich am Ende doch noch und so. Dabei geht's in dem Film - meiner Meinung nach - ja eben gerade darum, dass man auch falsche Entscheidungen treffen kann, die dann aber doch nicht unbedingt das Ende der Welt bedeuten und man einfach das Beste daraus machen muss.
(Obwohl, wenn ich so drüber nachdenke, vielleicht doch nicht so: Immerhin ist das einzige der möglichen Enden, in dem Nemo wirklich glücklich wird, eben jenes mit Anna. Sobald er es sich mit ihr irgendwie verbockt, endet er gelangweilt, deprimiert oder einsam. Hm.)

Ich denke, man muss dabei bedenken, dass all das ein Gedankenspiel ist; will meinen, die Ergebnisse der Entscheidungen und die verschiedenen Lebensverläufe sind von vornherein erstmal rein erdacht, müssen und wollen also nicht realistisch sein. Zumal die Plotline mit Anna ja auch an der Stelle diesen offensichtlichen Scheideweg-Charakter hatte (wie zuvor schon einiges anderes, hier aber nicht durch Entscheidung, sondern durch Schicksal bestimmt), also eine Situation, die mit gleichermaßen Wahrscheinlichkeit gut oder schlecht ausgehen kann. Ich finde, es brauchte dieses Happy End an der Stelle, unter anderem, weil Anna die einzige ist, die er wirklich auch liebt, die er nicht nur aus Kompensation oder aus einer Laune heraus begehrt und zu der er zurückfinden muss, damit seine Konklusion im Alter Sinn ergibt (wer beschreit schon ein Leben, das in allen Auswahlmöglichkeiten nur schlecht enden kann, bei dem es von Anfang an [diesen Ausdruck bitte mit Vorsicht genießen] keine Chance auf Überdauern gab). Die Filmaussage bleibt meiner Meinung nach dadurch erhalten, der Anna-Strang ist ja nur ein möglicher Verlauf, der durch viele andere Sachen bedingt ist. Dass er der einzige ist, der in purem Glück endet, zeiht alle anderen ja dadurch nicht wertlos, viel mehr noch wird hier gesagt, dass falsche Entscheidungen und widriges Schicksal durchaus auch ins Gute führen können.

Acrylium
14.08.2011, 18:02
Also ich habe eben den Director's Cut gesehen und verstehen das Ende mit dem Blatt und Anna auch nicht ehrlich gesagt.

Immerhin kann es zu dem glücklichen Ende mit Anna nur kommen, wenn er mit seiner Mutter mitgeht. Wenn er dies tut, trifft er wegen des Regentropfens jedoch Anna nie wieder und wartet vergeblich auf sie am Leuchtturm. Doch am Ende des Films entscheidet er sich nicht mit seiner Mutter mit zu gehen, somit müsste der gesamte Strang mit Anna verbaut sein. Doch dann wirft er ein Blatt in die Höhe und plötzlich treffen sich Penner-Nemo und Anna doch wieder, obwohl Penner-Nemo 1.) nie existieren kann da er mit seiner Mutter mit ging und 2.) Penner-Nemo die Nummer trotzdem verloren hat. Ich verstehe das nicht.

Kann mir das jemand erklären?

Mordechaj
18.08.2011, 00:28
Alles, was du im Film bis zur Auflösung am Ende siehst, sind mögliche Ereignisse. Das heißt er hat keine der Frauen je getroffen, hat sich noch nicht für Mutter oder Vater entscheiden müssen. Das mögliche Leben bei seiner Mutter und später mit Anna ist allerdings das einzige, das einen halbwegs happyendischen Ausgang nimmt, weshalb es aus dramaturgischen Gründen diese "Endstellung" in den möglichen Ereignissen einnehmen musste. Es ist auch seine letzte Erinnerung (lies: seine letzte mögliche Erinnerung, denn Nemo hat nie gelebt) vor seinem Tod (oder seinen Toden, denn wenn ich mich recht erinnere, kann er nur in ein oder zwei Lebensoptionen so alt werden wie in der Zukunftsszenerie).

In the nutshell: Nichts von dem, was du ab der ersten Bahnhofsszene siehst, ist die Filmrealität. Es sind alles Möglichkeiten, die Nemo als einziger ohne den "Kuss" der Angels of Oblivion durchspielen kann, weil er das totale Wissen über alles, was möglich ist, besitzt. Und einige der Szenen sind ebenfalls nicht einmal Möglichkeiten, sondern nur eine art erzählerische Einspieler oder Blicke in Nemos Psyche. So ist beispielsweise die Welt, in der er Karo trägt und ominöse Hinweise erhält, eine abstrakte Traumumgebung, die die in Bahnen gezwungene Verworrenheit seines Ichs darstellen soll. Auch die Szenen, in denen er vor der Entscheidung wegläuft und ein Blatt in den Wind pustet, sind nur erzähltechnisch gedacht und haben nichts mit den verschiedenen möglichen Ereignissen in seinem Leben zu tun. In diesem Moment steht er vor einem unglaublichen Dilemma, "when the only viable move is not to move", was ja zum Durchspielen aller möglichen Ereignisse in seinem Leben ist, abhängig von seiner Entscheidung 'damals' auf den Gleisen. Das Blatt wegzupusten ist ein recht verzweifelter Versuch, alles noch einmal von vorn zu starten bzw. es wieder so einfach zu haben wie schon einmal in seinem Leben: Nämlich dass der Zufall (ganz im Sinne des Schmetterlingseffektes) die Dinge regelt, wie damals bei seinen Eltern, die ebenfalls durch Zufall (nämlich das Blatt) zusammengefunden haben. Und in dem Moment schlägt der Film die Brücke zum Erzählstrang mit Anna, die auch wie absolut zufällig an diesen einen Ort kommt, wo sie Nemo wiederfindet.

Ich finde übrigens, dass der Film sich gerade dadurch auszeichnet: Dass er in der Lage ist, menschliche Entscheidung und Zufall als ebenbürtige Einflüsse auf den Verlauf des individuellen Lebens darzustellen. In dem Moment, wo der 9-jährige Nemo nun das Blatt fliegen lässt und damit seinen Lebensweg eigentlich dem Zufall in die Hand legen will bzw. eben wegrennt, gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten: 1. Wie eben geschildert, dass es sich nur um ein erzählerisches Mittel handelt und er sich am Bahnhof entscheiden muss, der Zuschauer aber keine Antwort auf die Frage erhält, wofür er sich entscheidet (denn jeder einzelne Lebensweg ist wertvoll und jeder einzelne ist lebenswert und jeder einzelne ist möglich. 2. Es handelt sich bereits in dem Moment, wo er wegrennt, um einen weiteren möglichen Lebensweg, in dem er sich eben für keinen von beiden entscheidet, was freilich ebenfalls alles offen lässt, denn ein solches Leben kennen wir von ihm nicht. Ich halte Interpretationsmöglichkeit n°2 aber für nicht so wirklich stimmig.

Zeuge Jenovas
23.08.2011, 14:39
Danke für den Thread!
Haben dank dem Trailer hier spontan den Film auf Blu Ray gekauft und meine Süße & ich waren absolut begeistert. Richtig fesselnd, bildgewaltig, super OST.
Absolut hammer, voll seltsam dass der an mir vorbei gegangen war :D