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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Helden aus einer anderen Welt…



Piscator
12.01.2011, 17:43
Ich möchte mal ein kleines Anliegen vortragen, das mich aus verschiedenen Gründen sehr interessiert. Ich hoffe, ich kann auf einige ernst gemeinte Antworten zählen.

Kürzlich bin ich auf den Namen für ein literarisches Personenmodell gestoßen, die mich seit jeher interessiert hat, für das ich einige bessere und schlechtere Beispiele hatte, aber nie eine offizielle Bezeichnung kannte. Sonst wäre dieses Thema hier wohl schon viel früher aufgetaucht. Der Archetyp, um den es mir geht trägt den Namen Byronic Hero, oder auf Deutsch auch hin und wieder Byron'scher Held. Der Wikipediaartikel (http://de.wikipedia.org/wiki/Byronic_Hero)dazu gibt eine ganz akzeptable Zusammenfassung, deshalb werde ich jetzt auch keine Zeit für die Beschreibung hernehmen.

Worum es mir geht ist folgendes: In den Geschichten, in denen sie vorkommen sind diese Personen in der Regel Menschen mit flammenden Herzen, die zwar oft sehr tief abstürzen, das "ganz oben" und das "ganz unten" gesehen haben und meist auch ein tragisches Ende finden, an dem sie nicht zuletzt selbst mit schuld sind, aber sie waren doch die Großen ihrer Zeit. Mächtig und verzweifelt...

Wenn man ihre Charaktereigenschaften allerdings auf die heutige Realität projiziert, das Berufssystem, die Abhängigkeit vom Geld, scheinen sie in dieser Welt ein ganz anderes Problem zu haben: stark sind die, die sich am meisten mit dem System anfreunden, während ein Byronic Hero wohl bestenfalls als ein für nicht ganz voll zu nehmender Spinner, der Aufmerksamkeit will gelten würde.

Haben solche Personen denn dann heute überhaupt eine Chance? Ihr Charakter und ihr Ego geben es schließlich nicht her, sich um der Anpassung willen anzupassen. Sie bleiben stolz darauf, anders zu sein, betrachten die Ablehnung als weiteres Zeichen des Schicksals für ihre Besonderheit, verstehen sich als tragische Figuren mit großer Zukunft, setzen das ungeheure Potenzial in ihnen aber nicht oder nur wenig ein.

Gibt es eine Möglichkeit für sie, sich nicht selbst aufzugeben, aber trotzdem zu dem Punkt zu gelangen, den sie sich wünschen? Oder sind sie, wenn sie sich nicht selbst aufgeben, zum dauerhaften Sozialhilfeempfänger verdammt?

La Cipolla
12.01.2011, 17:54
Mal ganz davon abgesehen, dass ich von diesem Menschenbild genau NICHTS halte... gehen wir mal trotzdem davon aus, es gäbe solche Menschen, die so grundlegend anders sind.

Ich denke, sie sind die wirklich großen und die wirklich kaputten, die Junkies und die ganz großen Künstler, die revolutionären Firmenchefs und die, die sich vor Züge werfen, die virtuosen Politiker, die gelegentlich aufflammen und die kleinen Idioten, die mit ihrer Maschinenpistole durch das Schulgebäude laufen.
Heute nicht anders als immer.

Aber wie gesagt, ich glaub da nicht dran. Ich halte dieses Menschenbild für destruktiv, für eskapistisch und allen voran für eine Sache, die man sich wunderbar einreden kann, um sich seinen Problemen nicht wirklich, nicht grundlegend stellen zu müssen.


Edit: Ok... nach einem Blick in die Wikipedia-Artikel und speziell auf die Beispiele - ich glaube, du siehst in dem Archetyp was, was er nicht ist. Ein Byronic Hero ist was anderes als was du beschreibst. Ich denke, wir können durchaus darüber reden, aber wir sollten vielleicht dieses Wort vermeiden und uns auf deine Beschreibungen eines möglichen "Menschentyps" verlassen.

Ianus
12.01.2011, 18:38
Wenn man ihre Charaktereigenschaften allerdings auf die heutige Realität projiziert, das Berufssystem, die Abhängigkeit vom Geld, scheinen sie in dieser Welt ein ganz anderes Problem zu haben: stark sind die, die sich am meisten mit dem System anfreunden, während ein Byronic Hero wohl bestenfalls als ein für nicht ganz voll zu nehmender Spinner, der Aufmerksamkeit will gelten würde. Meh, die bryonischen Helden sind Leute, die reich geerbt haben oder arm geblieben sind. Die meisten davon scheinen aber reich geerbt zu haben.


verstehen sich als tragische Figuren mit großer Zukunft Das scheint mir nicht besonders bryonisch.

Broken Chords Can Sing A Little
12.01.2011, 18:39
Wenn du dich fragst, ob es Personen gibt, die so sind wie der im Wikipedia-Artikel beschriebene Archetyp: Ich bin Grunde ganz genau so, ohne diesen literarischen Typ zuvor gekannt zu haben. Ich bin zwar nicht dermaßen wohlhabend, es geht mir mehr um die charakterlichen Eigenschaften. Aber ich bin ganz bestimmt nicht von irgendwelchen Sozialhilfen oder anderen Menschen abhängig und lebe ganz gut damit. Ich maße mir auch nicht an, "ganz oben/unten" gesehen zu haben, ansonsten passt eigentlich alles.

Klar ist es kein sonderlich positives Menschenbild. Sozial oder gesellschaftlich wertvoll erst recht nicht, aber warum sollte es solche Menschen nicht dennoch geben? Anpassen kann man sich ja dennoch - temporär und wenn es dem eigenen Vorteil dient, nicht um des Teilwerdens einer Gruppe Willen selbst.
Aber ja, ich gebe Cipo recht, du beschreibst da ein bisschen etwas anderes, als der Wikipediaartikel. Und ich weiß jetzt auch nicht, worüber du diskutieren willst - dem Grundwesen des Byronic Heros entspricht ja gerade, dass er seine innersten Sehnsüchte und Wünsche niemals erreicht, dies dafür aber mit einem Erhaben- und Überlegenheitsgefühl gegenüber ihren Mitmenschen kompensiert und sich auf ihren Wohlstand beruft. Leute ohne solchen, jedoch mit diesen Charaktereigenschaften haben es selbstverständlich weitaus schwerer, wenn sie sich etwa um zu überleben in einem Unternehmen als Angestellter den Vorgaben des Chefs anpassen müssen. Ansonsten seh ich da aber kein Problem.

Piscator
12.01.2011, 20:39
Hmm. Gut möglich, dass ich in der Hitze des Gefechts (ich hab die zweite Hälfte unter einem gewissen Zeitdruck verfasst) ein paar Sachen ungenau geschrieben (vor allem das, was Ianus mir ankreidet war ganz anders gemeint), oder unbeabsichtigt schon ein paar falsche Schlussfolgerungen eingebaut habe. Eigentlich dache ich, ich hätte gar nichts beschrieben und dafür den Artikel verlinkt...
Ich habe bei der ganzen Sache vorrangig immer zwei Figuren im Hinterkopf (von denen eine leider durch verschiedene Faktoren zu einem Clown verkommen ist) und zwar Anakin Skywalker/ Darth Vader aus den Romanen zu den Star Wars Kinofilmen und Túrin Turambar aus Tolkiens Die Kinder Húrins. Zwei an sich grundverschiedene Personen, die aber doch die Gemeinsamkeit haben, dass sie (beabsichtigt oder nicht) nach eben diesem Archetyp aufgebaut sind. Wenn ich irre, gut, dann lassen wir den Byronic Hero komplett fallen und reden über solche Menschen weiter.
Der Wohlstand war eines der Dinge an dem Artikel, die mich gestört haben, ich hatte mich aber auch viel an anderssprachigen Websites zu dem Thema orientiert, in denen dieser Aspekt oft gar nicht vorkam.

Ianus
12.01.2011, 21:22
Eeeh, Darth Vader ist ein Witz und Turin ist eher eine klassische Tragödienfigur. Bryonisch sind sie eigentlich beide nicht, denn man muss bei Archetypen immer sehr, sehr vorsichtig sein, da sie bewusst allgemein gehalten und angewendet werden. Die strengen Formen findet man eigentlich fast nur in der Genrelitaratur.

T.U.F.K.A.S.
18.01.2011, 09:07
Okay: Also ist ein byronischer Held ein Antiheld, der geprägt ist durch überdurchschnittliche Intelligenz, einer Spur Zynismus und Narzissmus und der hoch aufsteigen, aber auch tief fallen kann, oder? Jetzt mal laienhaft gesprochen (ich meine: ich schreib selbst Stories, aber hab trotzdem keine Ahnung von der Scheiße :D).

Eine Frage: Was ist einem derartigen Menschenbild erstrebenswert? O.o Ich muss lustigerweise an American Psycho denken, weil der Hauptcharakter alles hat, was man (man = Otto-Normaldoofer) sich erträumen kann (Geld, guter Job, Haus, hohe Intelligenz, ständig schöne Frauen an der Seite etc.), und dennoch davon gelangweilt ist und loszieht, um ein paar Nutten zu schlachten. Ich meine: Das ist nicht unbedingt erstrebenswert.

Oder Snape, der einen Haufen Leute tötet, um an sein Ziel zu kommen - das ist nicht erstrebenswert.

Problematisch ist halt einfach dieser Narzissmus, der bei solchen Figuren mitschwingt. Dieses Leute sind einzig und allein auf sich selbst und ihre Ziele bezogen - und damit scheitern sie halt irgendwann, so oder so.

Liferipper
18.01.2011, 09:37
Wenn wir schon bei zur heutigen Zeit inkompatiblen Persönlichkeiten sind: Lauf mal rum, und erzähl, dass du der Sohn Gottes bist...

Ianus
18.01.2011, 10:45
Lauf mal rum und sag, dass du den Leuten von Jesus Christus erzählen willst. Die Leute stecken dich glatt in die Klapse und fallen dir ständig ins Wort.

http://www.npshare.de/files/726e5f30/0ajce0eg5.jpg

Mordechaj
18.01.2011, 11:27
Eine Frage: Was ist einem derartigen Menschenbild erstrebenswert? O.o
Es handelt sich ja auch nicht um ein Menschenbild und der Byronic Hero (oder jedes andere Antihelden-Modell) zielt ja auch nicht auf eine Lehre ab, wie ein guter Mensch auszusehen hat. Viel eher handelt es sich um eine sehr sehr gesunde Entgrenzung des Metiers - uns werden noch heute archetypische Heldenformen vorgesetzt, die absolut langweilig und nichtssagend sind, weil ihr einziger Konflikt mit der Welt der ist, dass sie unglaublich rechtschaffen sind und ihr Leben dem großen Ganzen, zu dem sie gehören, unterordnen. Das ist in etwa so sehenswert wie ein Staubsaugervertreter. Und seien wir mal ehrlich: Es ist auch nicht erstrebenswert.

Der Byronic Hero ist viel individualistischer und ergibt sich aus der Erkenntnis (übrigens für meine Begriffe eine der wichtigsten Erkenntnisse überhaupt), dass der Mensch gewissen Determinanten unterliegt und eben nicht dem größeren Ganzen, sondern von vornherein ersteinmal sich selbst zu dienene hat, seine eigenen Ziele verfolgen muss, die in der Regel eine gewisse Pathologie besitzen (aka dunkle Vergangenheit).


Ich muss lustigerweise an American Psycho denken, weil der Hauptcharakter alles hat, was man (man = Otto-Normaldoofer) sich erträumen kann (Geld, guter Job, Haus, hohe Intelligenz, ständig schöne Frauen an der Seite etc.), und dennoch davon gelangweilt ist und loszieht, um ein paar Nutten zu schlachten. Ich meine: Das ist nicht unbedingt erstrebenswert.
Aber es ist höchst spannend.

Moderne Konstituenten in den Kunstmedien bauen sehr stark auf Entgrenzung auf - das Ausleben von Wohlstandsverwahrlosung ist eine davon. Natürlich geht es meinem Helden gut, er ist wohlhabend, hat ein ansprechendes Leben, einen ansprechenden Charakter, Glück in der Liebe, etc.pp. - aber er begeht eben ein paar Morde, weil so ein Leben nicht erfüllen kann. Es ist die Sehnsucht nach etwas, das größer ist (deswegen erwächst der Byronic Hero auch schon in der Romantik, die ja die Sehnsucht als Urmotiv hat).


Und wir mögen auch so verschrobene Charaktere, vor allem die, die das Modell irgendwo in eine etwas weniger stereotype Richtung weiterdenken (denke da auch an Harry Haller und House, M.D.). Sie sind die neuen tragischen Helden, deren Tragik in ihrer Psyche liegt, nicht in der Umwelt, wie das in Antike und Frühmittelalter noch der Fall war.

Piscator
17.02.2011, 14:18
So. Nachdem das Ganze (wie erwartet) in eine andere Richtung entwickelt hat, als ich das wollte, geb ich dann doch mal (wohl auch nicht ganz überraschend) den zweiten Teil heraus. Damit wird der Thread wohl etwas zum Kummerkasten hin wandern, aber ganz falsch bin ich hier ja dann auch nicht.

Ich denke, wer das am Anfang aufmerksam gelesen hat wird sicher gemerkt haben, dass ich zumindest so einen Menschen in meinem Umfeld habe, wenn nicht sogar ich selbst mich darin sehe. Es ist letzteres. Ja, ich maße mir an, das Ganz Oben und das Ganz Unten gesehen zu haben. Nicht aus Sicht der Gesellschaft auf mich, was die sieht ist mir schon klar, sondern von dem Standpunkt, den ich mir selber in dem Augenblick gegeben habe. Da gab es Hundert und Null und auch Stürze von Hundert zu Null. Eigentlich gab es quasi nur Hundert und Null. Und oft habe ich eine Hundert hinterher als Null gesehen und andersrum. Und das sind auch schon mal die ersten Grundgerüste, mit denen ich meine beiden (offensichtlich nicht angenommenen) Beispielfiguren verknüpfen wollte.

Aber ich möchte erstmal mit den anderen Schlüsseleigenschaften fortfahren. Ich gelte als hochbegabt. Als erstes sind das natürlich nur Testergebnisse und keine Ehrentitel. Aber man kann schon mal einiges daraus ableiten. Ein Problem, das ich als solches akzeptiere ist für meinen Kopf auf Dauer keine Schwierigkeit. Die besteht mehr darin, Banalitäten als vollwertige Probleme zu akzeptieren. Ich habe regionale und überregionale Wettbewerbe mit links gemeistert, aber bin mit wehenden Fahnen durchs Abitur gefallen, während das andere geschafft haben, die nichtmal eine Tasse Kaffee einschenken können. Klar kann man sagen, dass ich da gerade in einer Zeit großer Bewegung war, aber nur daran kann es nicht liegen. So etwas gab es immer in meinem Leben. Wo wir gleich bei der nächsten Eigenschaft sind: die dunkle Vergangenheit. Eigentlich nicht nur eine. Ich möchte hier aber nichts davon erzählen, weil es erstens privat ist und zweitens alle, denen ich es erzählt habe entweder daran zerbrochen sind, oder aber sich voll Entsetzen früher oder später von mir abgewandt haben. Außerdem würde es den Rahmen sprengen. Zumindest ist es sehr eng mit dem Ganz Oben und Ganz Unten verknüpft.

Um das Ganze nicht unnötig in die Länge zu ziehen kehre ich mal zu meinem eigentlichen Anliegen zurück. Ich bin jetzt fast 21, habe 13 Jahre auf der Schule zugebracht, aber als Schulabschluss trotzdem nur ein mittelmäßiges Zehntklasszeugnis vorzuweisen. Ich habe in so ziemlich jedem Lebensbereich gemerkt, dass ich unwillig bin, mich anzupassen (nicht unfähig, ich kann es unter folterähnlichen Schmerzen tun, wie das das Beispiel Wehrdienst gezeigt hat). Mittlerweile bin ich halb durch meine Eltern gezwungen in ein Berufsgrundschuljahr eingetreten, wo ich zwischen 1 oder 2 und 6 abwechsle, weil ich Sachen, die ich mache gut mache... und den Rest überhaupt nicht. Eines der wenigen Dinge, die mir noch weniger gefallen als die Berufsschule ist die Tatsache, dass die Ausbildung im Sommer in der Schreinerei weiter geht. Ich arbeite sehr gerne mit Holz, aber bei der Vorstellung, diese Ausbildung zu machen wird mir schlecht! Ich habe die Hoffnung, mein Potenzial auszuschöpfen, meine Handschrift auf diesem Planeten zu hinterlassen, immer noch nicht aufgegeben, aber im Moment rückt sie in sehr weite Ferne. Das ist auch der Hauptgrund, warum es mir, gelinde ausgedrückt, zurzeit eher schlecht geht. Ich weiß nicht genau, was ich erwarte, von euch zu hören, aber nachdem im Kummerkasten Stell dich net so an!, Das Leben ist kein Ponyhof! und Das redest du dir alles nur ein! eher selten vorkommen, hoffe ich, es auch hier mit konstruktiven Antworten von geistig Volljährigen zu tun zu bekommen. Fakt ist, dass ich da, wo ich gerade stehe, nicht lange bleiben kann, trotz meines großen Durchhaltewillens im Speziellen.

Piscator

Mordechaj
17.02.2011, 15:54
Hochbegabung heißt meistens, dass du in einer anderen Denke stehst, als das von der Gesellschaft normalerweise gefordert wird (das ganz wertungsfrei). Ich kenne zwar mindestens einen Hochbegabten, auf den diese pauschale Definition nicht direkt zutrifft, der voll und ganz in die Norm fällt und seine Fähigkeiten darin zu entfalten weiß, aber das ist nunmal per se nicht der Regelfall. Wir denken anders, nicht besser, nicht schlechter. Anders.

Was du beschreibst (ich kann es völlig falsch deuten, nur mit mir Bekanntem vergleichen), dürfte so ziemlich die Wechselhaftigkeit sein, die bei den meisten Hochbegabten vorkommt, die nicht von klein auf maßgeblich gefördert wurden. Wechselhaftigkeit, underachievement vs. herausragende Leistungen. Es gibt dagegen kein "Mittel" und keine Strategie; leider gibt es die nicht, vor allem, weil selbst dann immer noch individuelle Bezüge mit hinein spielen.

Die Frage ist nun, was deine Handschrift ist, was willst du tatsächlich machen, wo liegt dein Potenzial genau? Das ist das, was du eigentlich machen solltest.
Und das ist leider so eine Sache, die sich so supereinfach sagen lässt, wie ich das hier getan habe, die aber durch die äußeren Umstände, vor allem wie du sie beschreibst, unglaublich schwer ist. Du sprichst sicher von intellektuellem Potenzial, allerdings kannst du das mit deinem bisherigen Abschluss ja nicht wirklich weiter verfolgen - außer es geht in die künstlerische Richtung, da wäre durchaus Raum offen. Mit dem, was du derzeit tust (auch das kann ich nur deuten, nicht sicher sagen; deine Ausführungen lassen es aber vermuten), wirst du über kurz oder lang so arge Probleme haben, dass es dich ein bisschen kaputt macht. Dein Ziel ist ein anderes und du wirst ihm mit dieser Tätigkeit vermutlich auch kein Stück näher kommen, dich eher davon weg bewegen.

Die große Frage ist immer, was wirklich zielführend ist. Viele Hochbegabte haben komischerweise große Probleme, darauf eine Antwort zu geben. Gerade deshalb kommt es zu dieser unwillig-Problematik, Ansprüche von außen decken sich selten mit den inneren Ansprüchen; - die äußeren müssen aber erfüllt werden, um weiter zu kommen. Und sich das vor Augen zu halten, macht es meist leichter, die Folterschmerzen inkauf zu nehmen.
Du hast immer noch die Chance, dein Abitur nach zu machen, wenn du das für zielführend erachten würdest. Für einen intellektuellen Werdegang wirst du das Abitur brauchen; die Frage ist eben nur, ob du dich dazu bringen kannst, es wirklich zu bestehen. Danach wird alles einfacher; du darfst dir im akademischen Ausbildungsweg nämlich größtenteils aussuchen, was du machst und was nicht. Auch hier wirst du mit deinem Schweinehund konfrontiert werden, aber es wird leichter. Vor allem wird es das, wenn du dir vor Augen hältst, was du damit anfangen kannst (wenn du etwas damit anfangen kannst).

Für mich wäre das der größte Punkt; entscheide, was aus deinem Leben werden soll. Wenn du ein genaues Ziel setzt und auf dieses Ziel hinarbeitest, wird es leichter, weil du eine bestimmte Zukunft im Blick hast. Für viele Hochbegabte ist das essentiell, weil sie viel weiter vorausdenken als andere - was übrigens meistens der Hauptgrund für das große Maß an Überwindung ist, das man für die meisten Dinge benötigt.


Ich spreche da natürlich sehr pauschal von Hochbegabung, einiges davon mag auf dich gar nicht zutreffen; auf mich selbst trifft auch nur ein Drittel davon zu. Wichtig ist aber, dass du entscheidest, ob du mit der derzeitigen Situation weiterleben kannst, ob du dein Ziel unabhängig davon erreichen kannst, oder ob du dein Leben ändern musst. Wenn letzteres der Fall ist: Probier's aus. Wieder einfacher gesagt als getan, aber wenn du mit Null und Hundert einmal vertraut bist, dann wird es auch nicht so der große Schocker werden. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist dass du scheiterst. Und so blöd das klingt, aber dann gibt es immer noch ein Sozialsystem, das dich auffängt. Aber solltest du die Veränderung brauchen, dass ist sie deine beste Chance. Wenn du jetzt schon nicht mit der Situation klar kommst, wird sich das in 5 Jahren auch nicht geändert haben; du wirst dich nicht dran gewöhnen und es wird auch nicht besser werden.
Und natürlich ist jeder andere Weg, den du von hier aus einschlagen könntest, mit großer Anstrengung verbunden. Es kann sogar sein, dass es dir widerstrebt, irgendwas zu tun, was dich weiterbringt (zumindest kenne ich das Gefühl in dem Zusammenhang sehr gut); aber so ist das für Leute wie dich leider, viele Dinge des Lebens sind in unserer Denke schwerer zu bewältigen, zumindest wenn man nie ausreichend gefördert und mit Normen der "Normalen" konfrontiert wurde.

Ganz wichtig, egal wofür du dich entscheidest: Such dir jemanden, der den gleichen Weg geht wie du (also nicht nur oberflächlich das Gleiche macht, sondern zumindest ansatzweise nachvollziehen kann, wie bestimmte Dinge für dich wirken). Vieles an Unwilligkeit und fehlender Motivation entsteht aus dem allein gelassen Werden mit den eigenen Problemen, wer diese aber nicht ganz nachvollziehen kann, wird auch schwerlich für Motivation sorgen können.


Und das nur am Rande, weil ich mir nicht anmaßen möchte, so viel aus deinem Beitrag herauslesen zu können: Hast du schon einmal über psychiatrische Behandlung nachgedacht? Ich meine nicht zwangsläufig eine Seelendoktortherapie mit Gesprächsterminen und Sitzkreisen (ob das hilft oder nicht bleibe dann nämlich Therapeut und Therapiertem überlassen), sondern vor allem medikamentöse Behandlung. Es ist keine Schande, an der Welt zu verzweifeln, schon gar nicht mit Hochbegabung. Der Unmut und die Folterschmerzen, Null und Hundert und alles daraus resultierende sind aber ziemlich häufig Symptome von Depression bzw. einfach Antriebsstörung; und die gehen so oft mit ungeförderter Hochbegabung Hand in Hand, dass schon Leute dazu verleitet waren, sie gleichzusetzen. Gab schon Theorien, dass Hochbegabung durch Serotoninmangel hervorgerufen wird (das Bild vom unglücklichen Genie oder vom wahnsinnigen Künstler spielt hier mit hinein) bzw. entstanden daraus übrigens auch bestimmte Abstraktionsformen des Byronic Hero.

Schön, wie ich den Themenbezug hergestellt hab, oder? ._."