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La Cipolla
02.01.2011, 00:42
Blut und Sonne

Das Morgenmagazin dümpelt vor sich hin. Die Moderatoren lächeln, als würden sie irgendjemandem das Aufstehen versüßen wollen, und obwohl die Kulisse hinter ihnen eine stilisierte Sonne zeigt, gießt es draußen unermesslich, die Wolken eine hellgraue Masse. Wechsel zur Wettervorhersage, die bestätigt, was man vor dem Fenster sieht. Regen, auch noch die ganze nächste Woche. Kein Sonnenstrahl durchbricht den Himmel. Kramer, in seinen Vierzigern, putzt sich die Zähne, versucht erfolglos, die ergrauenden Haare irgendwie in Ordnung zu bringen und schlüpft in den Mantel.

Das Blut zieht sich auseinander wie Käse an einem Pizzastück, als es seine Fingerkappe rot malt. Hockend beobachtet Kramer die Flüssigkeit, die langsam die Treppe herab rinnt und sich mit dem Regen vermischt; legt seinen Kopf schief, als würde das irgendetwas ändern; riecht am Lebenssaft. Schließlich steht er auf und wischt den Finger am Inneren seines Mantels ab. Dann betrachtet er das Gesicht des Opfers und verinnerlicht, was er sieht. Fotos machen natürlich andere, aber er selbst will den Anblick nicht vergessen; und eigentlich ist es weniger der Anblick, als mehr das Gefühl. Sein Blick rutscht stets nach unten zur Brust des Toten. Als Kramer sieht, dass sein Finger nicht ganz sauber ist, spuckt er sich in die Hände und reibt sie. Die Stimmen hinter ihm werden lauter, dann betritt eine Dame im mittleren Alter den Tatort.
„Frau Dieringer?“
Sie nickt, und die Polizisten hinter ihr ziehen sich zurück. Ein schwarzer Rock, ein langärmliges Oberteil mit Rollkragen aus matt-gelbem Stoff, beinah schon gold. Zu einem Zopf gebundene blonde Haare. Eine dünnrandige Brille, die ihr die Ausstrahlung einer Akademikerin verleiht. Sehnig gebaut, weiche Züge. Man sieht ihr das Alter an, denkt Kramer, und sie scheint nicht das Geringste dagegen tun zu wollen. Ein Anhänger in Türkis, der einen kleinen Vogel darstellt. Jade? Sie scheint nicht entsetzt im Angesicht der Szenerie, kaum angewidert.
„Guten Morgen.“
Ein sanfter Händedruck. Sie erklärt erst ihre Anwesenheit als Spezialistin, dann die Situation.
„Obsidian?“, wiederholt Kramer mit einer hinauf gezogenen Augenbraue, „Ziemlich primitiv.“
Sie lächelt mit einem Mundwinkel. Er spürt, dass sie seine Provokation amüsiert.
„Schärfer als jedes Metall damals“, antwortet sie, „kein Problem, damit ein Herz zu extrahieren ohne den gesamten Torso zu zerreißen.“
Später wird er sich erinnern, dass es dieser Moment war. Davor hatte er es gespürt, aber erst in diesem Augenblick ist er sich sicher, dass sie den Mann umgebracht hat.
„Ein Ritualmord“, meint sie, als wäre es nicht offensichtlich, „die Menge an Blut wäre nicht nötig gewesen, auch die Treppe ist rein symbolisch. Das Herz natürlich auch.“
„Haben wir das Herz?“, fragt er, woraufhin sie verneint, „Wahrscheinlich geopfert. Süd- oder mesoamerikanische Idee wäre mein Tipp, ein Fanatiker.“
Er blickt Dieringer einen Moment lang in die Augen und hat das Gefühl, sie wolle ihm die Wahrheit aufdrängen. Dann schaut er noch einmal zurück zu der Treppe, an dessen Fußende die Leiche liegt, zu dem klaffenden Loch im Körper und zu der Sauerei, die der Tote beim Herunterrollen verursacht hat. Das Blut verschwindet gerade im Gulli.
Kramer lädt die Frau ins Restaurant ein.

„Gesundheit.“
Sie lächelt über die Stichelei und wiederholt den seltsamen Namen.
Er kann sich nicht mehr erinnern, wie das Gespräch zu diesem Punkt gekommen ist, aber er hat auch nicht viel gesagt. Sie redet gern, merkt er, und sie weiß, wovon sie redet. Eigentlich ist ihm Mythologie (oder Anthropologie, was das angeht) völlig egal, aber er spürt, dass sie noch nicht an ihrem Punkt angekommen ist.
„Erzählen sie mir die Geschichte von... äh…“
„Nanahuatzin“, hilft sie lächelnd aus.
„Wie auch immer.“
Sie beginnt mit ihrer aztekischen Legende.

Einst ging die Sonne unter, ein weiteres Mal.
Doch der Tod schafft stets auch Leben - und so war die Zeit gekommen, dass sich ein Gott opfern sollte - auf dass die Sonne abermals aufgehen würde, auf dass der Kreis sich schließe. Der Auserwählte, dessen Namen ich aus Scham nicht nennen werde, fürchtete sich. Das Feuer der Opferung brannte lichterloh, aber er wollte nicht springen. Einen Versuch nach dem anderen brach er ab, und die Götter waren entsetzt von seiner Feigheit.
Nicht so Nanahuatzin. Nanahuatzin nahm sich ein Herz und sprang. Sein Körper ging in Flammen auf, verging augenblicklich, ward vergessen. Am nächsten Morgen sollte er sich als neue Sonne erheben.
Den Auserwählten überkam die Scham und auch er sprang in das Feuer. Doch seine erhabene Chance war vergeben. Die anderen Götter verschmähten ihn; einer ergriff gar einen Hasen und schleuderte ihn in das Gesicht des brennenden Auserwählten. Er erhob sich am nächsten Morgen nicht, sondern erst in der nächsten Nacht.
Aus ihm wurde der Mond, während Nanahuatzin den Tag erhellen durfte.

Kramer schaut sie abermals an. Es herrscht Stille. Sie schiebt sich eine volle Gabel vegetarischer Pastete in den Mund und weicht seinem Blick erst aus, als sie den grauen Himmel in Augenschein nimmt.
„Ich verstehe“, meint er schließlich, ohne die Gesichtszüge zu bewegen. Ohne, dass er den Inhalt der Geschichte kapiert hätte, ohne dass er eine Ahnung davon hätte, wie diese Mythologie funktioniert. Er erkennt in Dieringers Augen, dass sie ihn durchschaut, aber das tut dem Sinn des Gesprächs keinen Abbruch.
„Bringen sie mich nach Hause?“, fragt sie schließlich, und er nickt.

Als Kramer aus seltsamen Träumen erwacht, sieht er zuerst den Himmel. Die grauen Wolken haben sich nicht gelichtet. Wie eine undurchdringliche Mauer verhindern sie, dass auch nur ein einziger Sonnenstrahl durch das gewaltige Fenster der Suite fällt. Und natürlich Regen, scheinbar endlos. Erst dann erinnert sich der Mann, dass er sich in Dieringers Wohnung befindet, allein. Sein Gesicht, sein nackter Körper und die zuvor blütenweiße Decke sind besudelt mit Blut, auch der helle Laminatboden ist zu großen Teilen unter einem roten Schirm verborgen. Ein kurzer Anfall von Panik, als Kramer nach Verletzungen an seinem Körper sucht. Kolbrifedern in rot und türkis sind auf der Decke verteilt. Sein einziges Leiden jedoch ist der Muskelkater von letzter Nacht. Es kann nicht sein Blut sein.

Der Ort des ersten Mordes ist gereinigt. Die Treppe ist keine Ritualstätte mehr, sondern eine Treppe, die Leiche und das elende Loch in der Brust sind verschwunden. Alles was bleibt, ist ein Gefühl. Kramer schaut sich um und entdeckt nichts. Die Fassade ist wieder merkmalslos und grau, aber aus einer Idee heraus nimmt er die Treppe und klingelt bei dem Toten. Der Türöffner surrt und Kramer tritt ein.
Dieringer sitzt an einem kleinen Küchentisch, der nicht ihr gehört, der wahrscheinlich in irgendeiner Auktion landen und schließlich in der Verstrickungen der Welt verschwinden wird, ohne irgendjemandem seine Geschichte erzählt zu haben. Sie trägt den Rollkragenpullover, aber ihre Narben sind zu sehen, an den Händen, selbst am Hals und an den Unterschenkeln, wenn man darauf achtet. Einige sind frisch.
„Glaubst du jetzt, du wirst eine Sonne?“, fragt er halb ernst. Sie verzieht das Gesicht.
„Ich habe es dir gestern Nacht während des Rituals erklärt.“
„Tut mir leid. Ich war wohl abgelenkt.“
Eine Pause, als sie aufsteht und zur Arbeitsplatte der fremden Küche schlendert.
„Kannst du mir mit der Kaffeemaschine helfen?“
„Warum?“
„Weil es mir der Besitzer zu Lebzeiten nicht erklärt hat.“
Er starrt sie einen Moment lang an.
„Es war schön“, meint er ausdruckslos.
„Natürlich“, antwortet sie sanft, ohne sich umzudrehen, „Ein halbes Ritual hat noch niemandem geholfen.“
„Genau so wenig wie ein feiges Opfer?“
Sie lächelt.
„Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als es weiter mit Unwissenden zu versuchen. Außer mir gibt es niemanden mehr.“
Kramer muss nicht nachdenken, die Begegnung ist kristallklar für ihn und war es eigentlich auch schon Stunden zuvor. Genau so, wie sie es geplant hat, aber das stört ihn nicht im Geringsten. Er zieht seine Waffe und schießt ihr in den Hinterkopf. Dieringer wird von der Wucht gegen den Küchenschrank geschleudert, prallt ab und sackt in sich zusammen. Er ist froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen muss. Auf dem Flur hält er kurz inne. Der Messerblock kommt in sein Sichtfeld, aber er schüttelt angewidert den Kopf, mit einem zynischen Mundwinkel abfällig lächelnd über seine eigene Idee.

Als Kramer am nächsten Morgen aus dem Bett steigt, lässt er den Fernseher aus. Stattdessen zieht er die Jalousien nach oben und genießt die Sonne, die am blauen Himmel steht.

~~~


Falls jemandem der Hauptcharakter bekannt vorkommt - ihn gabs schon in Der Traum einer letzten Nacht (http://www.multimediaxis.de/threads/119558-Der-Traum-einer-letzten-Nacht), ist praktisch diesselbe "Reihe". Davon abgesehen ist die Geschichte aber ein Nebenprodukt meiner Beschäftigung mit aztekischer Mythologie. Mehr gibts eigentlich nicht zu sagen, Kritik und Meinungen sind wie üblich erwünscht. :)

drunken monkey
02.01.2011, 13:45
Gefällt mir sehr gut. :D Ist bei einer Kurzgeschichte natürlich vergleichsweise leicht, zu bewerkstelligen, aber jedenfalls bleibt es fesselnd und spannend, den Ausgang hätte ich auch nicht wirklich vorhersagen können, bis zu dem Moment, wo's passiert. Die Gegenwart ist hier auch eine gute Idee – einerseits weil's irgendwie die Atmosphäre verdichtet, andererseits weil man es so für wahrscheinlicher hält, dass auch Kramer schlussendlich sterben könnte.

Die vorige Kurzgeschichte habe ich nicht gelesen, 16 Seiten dürften mir dann doch zu lang gewesen sein. ^^"

Zwei Auffälligkeiten:
- Ganz am Anfang kommt mir das Wort "schiffen" doch arg umgangssprachlich vor. Bei einer Erzählung aus Sicht einer Person eigentlich OK, aber nachdem der Rest in normalem Hochdeutsch ist, ist's an der Stelle imo störend. Solltest du gegen eine andere Formulierung eintauschen.
- "Er erkennt in Dieringers Augen, dass sie ihn durchschaut, aber das tut dem Sinn des Gesprächs skeinen Abbruch."? Andernfalls wäre der Satz zwar auch sinnvoll, aber seltsam formuliert.

La Cipolla
02.01.2011, 14:06
Ist natürlich beides absolut richtig, vielen Dank der Hinweise. Hab jetzt mal "gießt" genommen, das passt denk ich besser.

Wenn du mal irgendwann Zeit hast und dir diese Geschichte hier gefallen hat, wirf ruhig einen Blick in die andere, ist ein sehr ähnlicher Stil. :)