Jerome Denis Andre
27.06.2010, 12:24
Kurzgeschichte
Abendsonne
Die Sonne stand tief, tauchte die Sozialbausiedlung am Rande Berlins in rötlich brennendes, gleißendes Licht. In gleißendes Licht tauchte sie auch das christliche Bildnis aus Messing, genagelt auf ein hölzernes Kreuz, welches über der Balkontür einer Wohnung in einem der Gebäude hing.
Unter dem Kreuz saßen drei alte Männer rund um einen nicht minder alten und klapprigen Bistrotisch. Friedrich, ein ehemaliger Intellektueller und Lehrer, schlürfte billigen Rotwein - mit hoher Wahrscheinlichkeit rot angefärbten Weißwein - aus einem uralten Kristallglas. Der rechte Bügel seiner Brille war mit Isolierband geflickt. Die Absätze seiner schwarzen Businessschuhe waren fast abgelaufen und sein Anzug hatte an mehreren Stellen Löcher. An seinem linken Arm spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne im Glas einer gefälschten Rolex. Ihm gegenüber saß Fritz, der gerade seine knollige Nase mit einem lauten Niesen in ein beiges Stofftaschentuch entleerte. Danach steckte er dieses in die ausgebeulte Tasche seiner braunen, kurzen Hose. Die Hose wurde von Hosenträgern gehalten, welche sich über sein weißes Hemd und seinen beachtlichen Bauchumfang spannten. Vor ihm stand eine Flasche Bier auf dem Tisch. Azouz war der Dritte in der Runde. Mit zittrigen Händen führte er immer wieder seine Tasse Tee an den Mund, nur um festzustellen, dass ihm der Tee noch immer zu heiß war und ihn wieder auf den Tisch zu stellen. Auf dem Kopf trug er eine Kappe aus Filz und über seinem schwarzen Hemd, das in einer schwarzen Hose steckte, ein schwarzes Jackett. In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören.
Nachdenklich schüttelte Azouz den Kopf. „Was ist nur aus dem Abendland geworden?“, seufzte er. Erstaunt hob Friedrich den Kopf. „Wie meinst du das?“. Azouz schwieg kurz, aber erwiderte schließlich: „Als ich als junger Mann hierher kam dachte ich, dies sei das Paradies. Ich dachte dieser Ort sei der Ursprungsort von Moral und Werten, die Wiege des Humanismus, das Ehebett in dem sich Toleranz und Tradition vereinigen.“ „Und das traf nicht zu?“, hakte Friedrich verwirrt nach. „Doch!“, rief Azouz aus, „Aber mittlerweile tut es das nicht mehr. Der Ursprungsort der Moral wurde zu dem Ort an dem sie begraben liegt. Ihre Werte verfaulen. Der Humanismus
ist seiner Wiege längst entwachsen und versucht in pubertärer Auflehnung das Grab der Moral zu schänden, anstatt selbst neue Werte zu zeugen.!“ „Und die Toleranz?“, rülpste Fritz. „Die Toleranz betrügt die Tradition mit der Beliebigkeit, was die Tradition veranlasst sich von der Toleranz scheiden zu lassen!“ Azouz, der mit seinem letzten Ausruf aufgesprungen war, lies sich zurück auf seinen Stuhl fallen, und atmete tief ein. „Aber, aber mein Freund!“, versuchte Friedrich Azouz zu beschwichtigen. „Noch immer ist der Westen Europas das wahrscheinlich demokratischste Gebiet dieses Planeten! Wir haben noch immer eine florierende Wirtschaft, ein stabiles politisches System, und das beste Bildungssystem der Welt!“ Azouz schnaubte verächtlich. Er schwieg und beobachtete eine sterbende Biene, die gerade in Fritzens Bierglas ertrank. „Bildung für wen?“, fragte er schließlich, „Heute zeugt doch kaum jemand mehr Kinder! Und falls er es doch tut, bekniet er hinterher die Mutter es abzutreiben. Wusstest du, dass allein in Deutschland jeden Tag mehrere tausend potentielle Bürger im Mutterleib getötet werden?“ Fritz trank einen großen Schluck Bier aus seiner Flasche, wenn auch genaustens darauf bedacht die Sterbende nicht mit zutrinken. Friedrich unterbrach Azouz: „Jede deutsche Frau bringt in ihrem Leben im Schnitt immer noch knapp eineinhalb Kinder zur Welt. Das ist wohl mehr als genug!“ Azouz schüttelte leicht den Kopf. „Mag sein. Aber selbst jene Kinder die zur Welt kommen verhalten sich nicht mehr wie sich Kinder eigentlich zu verhalten hätten. Die Jugend von Heute ist faul, undiszipliniert, frech, vorlaut, und häufig sogar gewalttätig!“ Azouz unterbrach sich kurz um Atem zu holen, und beobachte Fritz bei dem Versuch mit der Bierflasche eine Fliege zu erschlagen, die vor ihm auf dem Tisch gelandet war. Er scheiterte, und Azouz fuhr fort: „Die Gesellschaft verroht. Die Jugend wird immer früher sexuell aktiv. Orgien und Saufgelage sind das einzige, wofür sich die jungen Leute heute noch interessieren. Und für Politik interessieren sie sich allenfalls so viel wie ein Polareskimo für Bienenzucht!“.
Friedrich lächelte. „Das liegt aber nur daran, dass ihnen ein Interesse in die Politik auch allenfalls soviel nützt, wie einem Eskimo die Bienenzucht. Nämlich überhaupt nichts.“ „Aber ist das nicht erst recht ein Zeichen für den Niedergang des Abendlandes?“, fragte Azouz, „Wenn Politiker ihre Wähler – nein – ihr Volk verraten …“ „Das haben sie doch schon immer gemacht.“, erwiderte Friedrich, „Wenn du danach gingst, hätte der Niedergang des Abendlandes schon mit seiner Gründung begonnen.“ „Eventuell hat er das ja.“, sagte Azouz. „Das zu sagen, wäre Polemik!“, entgegnete Friedrich.
„Dennoch! Ich beharre darauf! Mit dem Abendland geht es bergab!“, schrie Azouz“
„Man müsste einen Plan zu seiner Rettung entwickeln“, sagte Fritz.
„Na, dann retten wir mal das Abendland!“, lachte Friedrich.
Und sie schwiegen.
Die Sonne ging langsam unter, tauchte das über der Balkontür hängende Kruzifix in schimmernde Schatten. Einzig ein vereinzelter Lichtstrahl beleuchtete noch den Heiland aus Messing, Seine rechte Wange. Die Drei schwiegen noch immer.
„Und was, wenn es nicht gerettet werden will?“, fragte Fritz. Niemand antwortete ihm.
Die drei alten Männer schwiegen wieder, wie es nur alte Männer können: sterbend.
Abendsonne
Die Sonne stand tief, tauchte die Sozialbausiedlung am Rande Berlins in rötlich brennendes, gleißendes Licht. In gleißendes Licht tauchte sie auch das christliche Bildnis aus Messing, genagelt auf ein hölzernes Kreuz, welches über der Balkontür einer Wohnung in einem der Gebäude hing.
Unter dem Kreuz saßen drei alte Männer rund um einen nicht minder alten und klapprigen Bistrotisch. Friedrich, ein ehemaliger Intellektueller und Lehrer, schlürfte billigen Rotwein - mit hoher Wahrscheinlichkeit rot angefärbten Weißwein - aus einem uralten Kristallglas. Der rechte Bügel seiner Brille war mit Isolierband geflickt. Die Absätze seiner schwarzen Businessschuhe waren fast abgelaufen und sein Anzug hatte an mehreren Stellen Löcher. An seinem linken Arm spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne im Glas einer gefälschten Rolex. Ihm gegenüber saß Fritz, der gerade seine knollige Nase mit einem lauten Niesen in ein beiges Stofftaschentuch entleerte. Danach steckte er dieses in die ausgebeulte Tasche seiner braunen, kurzen Hose. Die Hose wurde von Hosenträgern gehalten, welche sich über sein weißes Hemd und seinen beachtlichen Bauchumfang spannten. Vor ihm stand eine Flasche Bier auf dem Tisch. Azouz war der Dritte in der Runde. Mit zittrigen Händen führte er immer wieder seine Tasse Tee an den Mund, nur um festzustellen, dass ihm der Tee noch immer zu heiß war und ihn wieder auf den Tisch zu stellen. Auf dem Kopf trug er eine Kappe aus Filz und über seinem schwarzen Hemd, das in einer schwarzen Hose steckte, ein schwarzes Jackett. In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören.
Nachdenklich schüttelte Azouz den Kopf. „Was ist nur aus dem Abendland geworden?“, seufzte er. Erstaunt hob Friedrich den Kopf. „Wie meinst du das?“. Azouz schwieg kurz, aber erwiderte schließlich: „Als ich als junger Mann hierher kam dachte ich, dies sei das Paradies. Ich dachte dieser Ort sei der Ursprungsort von Moral und Werten, die Wiege des Humanismus, das Ehebett in dem sich Toleranz und Tradition vereinigen.“ „Und das traf nicht zu?“, hakte Friedrich verwirrt nach. „Doch!“, rief Azouz aus, „Aber mittlerweile tut es das nicht mehr. Der Ursprungsort der Moral wurde zu dem Ort an dem sie begraben liegt. Ihre Werte verfaulen. Der Humanismus
ist seiner Wiege längst entwachsen und versucht in pubertärer Auflehnung das Grab der Moral zu schänden, anstatt selbst neue Werte zu zeugen.!“ „Und die Toleranz?“, rülpste Fritz. „Die Toleranz betrügt die Tradition mit der Beliebigkeit, was die Tradition veranlasst sich von der Toleranz scheiden zu lassen!“ Azouz, der mit seinem letzten Ausruf aufgesprungen war, lies sich zurück auf seinen Stuhl fallen, und atmete tief ein. „Aber, aber mein Freund!“, versuchte Friedrich Azouz zu beschwichtigen. „Noch immer ist der Westen Europas das wahrscheinlich demokratischste Gebiet dieses Planeten! Wir haben noch immer eine florierende Wirtschaft, ein stabiles politisches System, und das beste Bildungssystem der Welt!“ Azouz schnaubte verächtlich. Er schwieg und beobachtete eine sterbende Biene, die gerade in Fritzens Bierglas ertrank. „Bildung für wen?“, fragte er schließlich, „Heute zeugt doch kaum jemand mehr Kinder! Und falls er es doch tut, bekniet er hinterher die Mutter es abzutreiben. Wusstest du, dass allein in Deutschland jeden Tag mehrere tausend potentielle Bürger im Mutterleib getötet werden?“ Fritz trank einen großen Schluck Bier aus seiner Flasche, wenn auch genaustens darauf bedacht die Sterbende nicht mit zutrinken. Friedrich unterbrach Azouz: „Jede deutsche Frau bringt in ihrem Leben im Schnitt immer noch knapp eineinhalb Kinder zur Welt. Das ist wohl mehr als genug!“ Azouz schüttelte leicht den Kopf. „Mag sein. Aber selbst jene Kinder die zur Welt kommen verhalten sich nicht mehr wie sich Kinder eigentlich zu verhalten hätten. Die Jugend von Heute ist faul, undiszipliniert, frech, vorlaut, und häufig sogar gewalttätig!“ Azouz unterbrach sich kurz um Atem zu holen, und beobachte Fritz bei dem Versuch mit der Bierflasche eine Fliege zu erschlagen, die vor ihm auf dem Tisch gelandet war. Er scheiterte, und Azouz fuhr fort: „Die Gesellschaft verroht. Die Jugend wird immer früher sexuell aktiv. Orgien und Saufgelage sind das einzige, wofür sich die jungen Leute heute noch interessieren. Und für Politik interessieren sie sich allenfalls so viel wie ein Polareskimo für Bienenzucht!“.
Friedrich lächelte. „Das liegt aber nur daran, dass ihnen ein Interesse in die Politik auch allenfalls soviel nützt, wie einem Eskimo die Bienenzucht. Nämlich überhaupt nichts.“ „Aber ist das nicht erst recht ein Zeichen für den Niedergang des Abendlandes?“, fragte Azouz, „Wenn Politiker ihre Wähler – nein – ihr Volk verraten …“ „Das haben sie doch schon immer gemacht.“, erwiderte Friedrich, „Wenn du danach gingst, hätte der Niedergang des Abendlandes schon mit seiner Gründung begonnen.“ „Eventuell hat er das ja.“, sagte Azouz. „Das zu sagen, wäre Polemik!“, entgegnete Friedrich.
„Dennoch! Ich beharre darauf! Mit dem Abendland geht es bergab!“, schrie Azouz“
„Man müsste einen Plan zu seiner Rettung entwickeln“, sagte Fritz.
„Na, dann retten wir mal das Abendland!“, lachte Friedrich.
Und sie schwiegen.
Die Sonne ging langsam unter, tauchte das über der Balkontür hängende Kruzifix in schimmernde Schatten. Einzig ein vereinzelter Lichtstrahl beleuchtete noch den Heiland aus Messing, Seine rechte Wange. Die Drei schwiegen noch immer.
„Und was, wenn es nicht gerettet werden will?“, fragte Fritz. Niemand antwortete ihm.
Die drei alten Männer schwiegen wieder, wie es nur alte Männer können: sterbend.