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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Kurt jagt [Eine Kurzgeschichte]



deserted-monkey
31.01.2010, 23:42
Ziemlich schräge Geschichte, bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine Geschichte ist. Wahrscheinlich braucht man ziemlich viel Fantasie, um das hier unterhaltend zu finden (oder auch nicht). Na jedenfalls, würde mich freuen wenn's gelesen würde.

Wer's lieber als PDF lesen möchte (wegen Formatierung und so): PDF (http://npshare.de/files/1cc6e093/Kurt%20jagt.pdf)








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Kurt jagt



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Für Kurt war es kein Problem, Gas zu geben.
Hundsmiserabel zugerichtet hing er hinter dem Steuer des Cadillacs, den er seinem ersten Opfer vor wenigen Stunden gestohlen hatte. Etwas jagte ihn. Etwas, dass er nicht klar in Worte zu fassen vermochte, vielleicht so etwas wie eine unsichtbare Wand, die alles auffrisst. Oder pechschwarze Krähen, die hektisch Teile aus dem Puzzle der Realität picken.
In Bastrop, Texas, hatte er einen Mann ermordet. Normalerweise liefen seine Überfälle glatt, doch im malerischen Bastrop hatte er das erste Mal Pech gehabt. Niemand konnte ahnen, dass der Verkäufer eines kleinen Lebensmittelladens außerhalb der Stadt ebenfalls eine Knarre ziehen würde. Da war alles wie von selber gegangen, wie ein Film, der abgespult wird, in Zeitlupe. Seine Finger hatten sich um den Abzug gekrallt, ließen los und zogen, genau dreimal. Zwei der Kugeln durchschlugen den Rumpf des Verkäufers, die erste hatte er aus Nervosität knapp neben dessen Kopf geschossen. Den Ausdruck im Gesicht des zu Boden Gehenden würde er niemals vergessen: Leere. Es war eine ausdruckslose, geisterhafte Maske. Nachdem Kurt die Kasse gelehrt hatte, kotzte er.
Er war zu Fuß unterwegs, oder versuchte zu trampen, was ihn aber auf Dauer zu viel Anstrengungen kostete; darum durchsuchte er mit klammen Fingern die Leiche, um einen Autoschlüssel ausfindig zu machen. Und er fand auch einen, der zu dem Cadillac passte, der im Hof hinter dem Laden stand. Ein schönes Modell, aber das war ihm völlig nichtig. Als er in den Wagen stieg, glaubte er eine Veränderung in ihm wahrzunehmen, etwas brannte ihn von Innen her aus. War es Wut, die in ihm loderte? Aber warum? Nein, es war als erfülle ihn plötzlich eine unbändige Kraft, die ihn blitzschnell vorwärtstrieb. Alle seine Sinne fühlten sich von Sekunde zu Sekunde klarer, seine Sicht wölbte sich zu einem Fischauge, bis sie in seine ursprüngliche Form zurücksprang und ihm verborgene Dinge enthüllte. Genau deshalb schien er auch die Steckenwesen zu sehen, mit ihren bemitleidenswerten Köpfen und dürren Körpern. Mitten im Hof befand sich eines, ruderte mit seinen holzdünnen Ärmchen, während es mit dem Haupt Gesichter wahlloser Menschen formte. Einige sah Kurt genauer (meist wechselte des Wesen aber zu schnell), konnte jedoch nichts mit ihnen in Verbindung bringen. Aber Angst machte es ihm schon. Die Gesichter schienen zu schreien, auch wenn man nichts hörte. Kurt hatte sofort die Tür zugeknallt und den Motor gestartet, als das Bilderspiel zum Sprung auf den Wagen ansetzen wollte. Mit dem Fuß voll auf dem Gaspedal und quietschenden Reifen war er aus der Einfahrt geschossen, keine Sekunde zu früh, beinahe hätte es ihn gnadenlos erwischt.
Seitdem raste er.

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Jedoch hatte es an einer Tankstelle einen unglücklichen Zwischenfall gegeben. Die Benzinanzeige des Wagens war nämlich praktisch auf Null, als Kurt ihn stahl. Nach circa einer halben Stunde Fahrzeit hielt er an, stieg aus und betrat mit gezogener Pistole den kleinen Shop eben dieser Tankstelle. Das Feuer brannte immer noch in ihm, wenn nun auch durchmischt mit schleichender Panik. Doch er hatte sich noch gut genug im Griff, nicht auszurasten. Unsanft hatte er den Mann irgendwie aus dem Shop hinaus bugsiert, und ihn mit dem Lauf an der Schläfe den Tank des Cadillac füllen lassen. Nicht einmal die Mühe den Tankdeckel wieder drauf zuschrauben, hatte er sich gemacht, sondern war einfach weiter gebraust und hatte den Inhaber der Tankstelle verstört zurückgelassen. Jedenfalls hatte er das geglaubt. Denn so weit er auch fuhr, immer wieder tauchte die Tankstelle am linken Straßenrand auf. Die ersten Male ignorierte er den Typen, der dort jedesmal an der Einfahrt stand, doch dann wurden ihm dessen Gegrinse und vulgäre Zeichensprache zu viel. Mit einem Höllentempo hielt er auf den Mann zu. Bevor er ihn rammen konnte, wurde es finster. Nur für eine Sekunde oder weniger, als hätte Kurt geblinzelt und die Welt mit ihm, dann wurde er auf der anderen Seite herausgeschleudert. Vielleicht konnte man sich das so vorstellen, als wäre er mit dem Cadillac durch die Matscheibe eines riesigen Fernsehers gefahren, wie von einem Film in den nächsten gespuckt. Als die Räder des Wagens wieder Boden berührten, schrumpfte hinter ihm die Umgebung zusammen, formte den Kopf des nächsten Steckenwesens. Der Hintergrund wurde wie ein lästiges Poster vom Firmament gerissen, in einem lautlosen Strudel in den viereckigen, flimmernden Kasten gezogen. Aus diesem war Kurt und sein Fahrzeug erschienen, plötzlich in Nevada unterwegs. Ein großes, grünes Schild mit gelber Schrift verkündete, dass es bis nach Spring Valley noch hundertzwanzig Kilometer waren.

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Eine Zeit ging es gut, Kurt zwang sich zu innerer Ruhe. Konzentrierte sich auf die Straße, genoss einfach nur das Gefühl des Fahrens und schloss sämtliches Andere aus. Aber diese trügerische Ruhe währte nicht lange, nur etwa bis siebzig Kilometer vor Spring Valley. Im flimmernden Sonnenlicht vor ihm erschien ein mächtiger Roadtruck, der die ganze Straßenbreite auszufüllen schien. Kurt dachte nicht daran, vom Gas zu gehen.
Neben ihm im Sitz saß schlagartig eines der Wesen, es hatte einen verschrumpelten Kürbiskopf und eine Motorsäge dabei. Während der Cadillac und der im Vergleich monströse Truck aufeinander zurasten, verschwamm das ganze Universum in ihrem Geschwindigkeitsrausch. Das Steckenwesen streckte seinen mageren Ärmchen aus und konnte die schwere Säge kaum halten. Sein Kopf hatte etwas von einer Vogelspinne. Kurt holte aus und zerschlug das Ding neben sich mit dem Ellenbogen, kurz danach rammte ihn der Truck erbarmungslos in die Front. Wieder wurde der Cadillac hochgehoben und herumgeschleudert, an einen anderen Ort transferiert. Doch diesmal war die Reise nicht so sanft, Kurt litt höllische Schmerzen, als der Cadillac auf der Straße landete. Er blutete aus dutzenden kleinen Wunden und Schnitten, die er sich beim Übertreten irgendwo gerissen hatte. Sein Kopf war plötzlich müde und er wusste nicht mehr, wo er war. Die Scheinwerfer zertrennten die Dunkelheit, durch die er jagte.
Für Kurt gab es nichts mehr, nur die Straße. Wo würde sie ihn diesmal hinführen? Vielleicht im Kreis herum bis nach Bastrop, Texas? Solange keines der Steckenwesen auftauchte, war er in Sicherheit. Aber die Finsternis barg ein schreckliches Geheimnis, dass ihn früher oder später einholen würde. Vielleicht hatte es etwas mit den seltsamen Wesen zu tun, die er seit kurzem sah, aber sicher war er sich da nicht. Am besten war es, einfach weiterzufahren.

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Langsam begannen die Verletzungen zu jucken und zu brennen und zu stinken, aber Kurt ignorierte diese Tatsache gekonnt. Es gab wichtigeres zu tun, als auf die Signale seines strapazierten Körpers zu achten. Wie ein Feuerball hatte sich die Sonne am weit entfernten Horizont erhoben, über Kurt schwebten Wolken, es regnete. Blitze knallten auf den Cadillac hernieder, doch dieser schien jeder Naturgewalt zu trotzen. Kein Wunder, bei diesem Fahrer. Kurt stieg auf die Bremse, als er ein Kind am Straßenrand entlanggehen sah. Dabei handelte sich um ein junges Mädchen von allerhöchstens zehn Jahren, es hatte die roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und hüpfte fröhlich auf dem Asphalt herum. Als Kurt neben ihm anhielt und sich über den Sitz lehnte, um die Beifahrertür zu öffnen, lächelte es ihn unschuldig an. Ich möchte nicht mit dir kommen, mir gefällt es hier, sagte dieses Lächeln.
Kurt kurbelte die Scheibe herunter. "Helfen Sie mir", stammelte er flüsternd. Frisches Blut tropfte zwischen ihm und dem Mädchen zu Boden. Er spürte sich kaum noch. War es für ihn zu Ende? War ihm letztendlich alles widerfahren, was das Leben oder Gott für ihn geplant hatte? Offenbar noch nicht, denn der Körper des Mädchens begann sich auf einmal unter spasmischen Zuckungen zu verformen. Zu spät erkannte Kurt die tödliche Falle. Das Bild des Kindes verflüssigte sich, türmte sich vor ihm auf, streckte seine gierigen Fransen nach ihm aus. Es strömte durch das offene Fenster herein. Kurt wurde von der Masse gepackt, sie umfing ihn wie einen Sarg, vor seinen Augen wirbelte Schleim und grauer Saft. Als es ihn schließlich freigab, spuckte er sogar von dem Zeug.
In seinem Leib fühlten sich sämtliche Knochen gebrochen und eine unangenehme Kälte war in seine Glieder gekrochen.

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Dermaßen hundsmiserabel zugerichtet bretterte Kurt weiter, immer weiter. Sein Wagen brauchte weiß der Teufel kein Benzin mehr, die Anzeige stand immer noch auf grün. Wie viele Meilen würde er noch zurücklegen müssen, um das Grauen, das ihm auf den Fersen war, abzuschütteln? Wahrscheinlich unendlich viele. Es würde niemals aufgeben, dass wusste Kurt.
Seine Hände und sein Verstand waren eingeschlafen, als es ihn drohte aufzuholen. Wie eine lebendige, rasende Wand, die beinahe fest erschien, verfolgte ihn sein Alptraum und kam immer dichter heran. Hinter ihr existierte nichts mehr, alles wurde verschlungen. Oder was sie zurückließ, konnte Kurt vielleicht mit seinem einfachen Auge gar nicht erkennen. Sein Blick war nach vorn gerichtet, nach wie vor auf die Straße.
Die Jagd dauerte nicht ewig. Kurt war ein Gefangener. Vor ihm auf dem daher gleitenden Asphalt zeichneten sich mehrere Schemen ab. Je schneller der Cadillac über ihn dahin schoss, desto klarer konnte er ihre Konturen ausmachen. So lange dauerte das Schauspiel, bis sie zu ausgewachsenen Steckenwesen gediehen waren. Dicht gedrängt scharten sie sich nun, tanzten auf Kurt und seinen Wagen zu. Kurts Arme hatten absolut keine Kraft mehr, sie sanken schlaff an seiner Seite hinab, aber der Cadillac blieb wie durch eine höhere Macht gelenkt sicher auf der Straße. Dann rammte er die ersten der Wesen, und abgerissene Teile ihrer seltsamen Anatomie flogen über die Windschutzscheibe hinweg, wobei sie schmierige Schlieren auf ihr hinterließen. Für Kurt hätte nur noch eine gute Zigarette gefehlt, um ihn zum Helden des Tages zu machen, während er durch die Reihen der Alptraumwesen hindurch pflügte. Jedoch standen diese immer näher aufeinander, einige schienen sogar miteinander verbunden. So wurde es für Kurt und den Cadillac immer schwerer, durch ihre Körper zu schmettern. Schließlich bremste der Wagen weiter und weiter ab, bis er nur noch im Schritttempo vorwärtskam, wobei die Scheiben dermaßen von den Flüssigkeiten der Zerfetzen starrten, dass Kurt keinen Blick mehr auf seine Umgebung erhaschen konnte. Im Inneren des Cadillac war es düster geworden, finster bis der Motor erstarb. Kurt wartete zitternd in der Dunkelheit.

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Auch nach langer Zeit tat sich nichts. Hatten sie ihn allein gelassen? War er nicht der Gejagte, der erlegt werden musste? War es nicht so gewesen, bis anhin? Kurt öffnete schwerfällig die Tür. Dunkles Sonnenlicht umflutete ihn, am Himmel türmten sich schwere Wolken. Wie ein Sack klatschte er aus dem Rahmen, schlug schmerzhaft auf dem noch warmen Asphalt auf. Die Steckenwesen standen ganz reglos um ihn herum, als erwarteten sie etwas. Kurt wusste selbstverständlich, was das war. Und dann kam sie auch schon über ihn. In allerletzter Sekunde konnte er sich noch zu einer verzweifelten Rettungsaktion durchringen. Mit einem seiner zerschundenen Arme griff er nach den Beinen eines der Wesen, um es mit einem Ruck von den Füssen zu holen. Dies klappte sogar wie beabsichtigt, jedoch war die unheimliche, alleszerstörende Wand schneller. Bevor das Wesen auf Kurt hinunterfallen konnte, hatte die Wand die Hälfte seines Körpers gefressen.
Danach erlöste es ihn. Mit einem Schlag, der einer elektrischen Entladung gleichkam, donnerte das Wesen auf Kurt herunter und begrub ihn. Als er seine Augen wieder öffnete, lag er an einem staubigen Straßenrand. Weit und breit gab es nichts außer flimmernder Hitze, Kakteen und Sand. Halt, das stimmte nicht ganz, plötzlich rollten vier Räder vor ihm über die Straße. Sie gehörten einem knallgelben Jeep, wie Kurt vermutete. Jemand stieg aus, Kurt konnte nur dessen Stiefel erkennen.
"Können Sie mich mitnehmen?", fragte er dennoch. Und seine Frage wurde erhört. Sanft hob ihn die Person hoch und verfrachtete seinen halbierten Körper in das Fahrzeug. Sogar seine Zigarette bekam er. Hier gab es den ersten vernünftigen, normalen Menschen. War er entkommen? Hatte er die Mission des Helden geschafft? Ja, zumindest fühlte er sich so. Stammte der Mann, der neben ihm am Steuer saß, nicht aus Bastrop, Texas?
Der Jeep fuhr an, und als sich die Dunkelheit über das Land senkte, sah man nur den glühenden Stängel einer Zigarette durch die Nacht gleiten.

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