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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Die Suche nach der verlorenen Zeit ist sinnlos.



Ianus
18.12.2009, 17:46
Mir scheint, was wir hier gerade tun ist recht sinnlos.

Ich meine, wir speichern hier hunderte oder tausende von Beiträgen, liefern im Dutzend Information an Social Networks, Konsumentenzielgruppenforscher und Addressensammler ab. Da draußen sitzen dutzende von Einzelpersonen und Gruppierungen, die der Idee anhängen, dass sie unser Selbst durch die möglichst genaue Erfassung von möglichst viel Information entlang des Zeitlaufes begreifen werden. Und danach entscheiden können, ob wir für sie arbeiten dürfen, welche Bücher wir lesen wollen oder welche Personen Lebensabschnittspartner für uns werden können.

Diese Idee - das man Personen als eine Addition von Selbstäußerungen oder Wahrnehmungen erfassen und einteilen kann - ist sehr bescheuert.

Ich will ein paar Gründe dafür aufführen:

Ein interessantes Beispiel sind Social Networks. Es war vermutlich sogar dieses Jahr noch, dass in allen Medien auf und ab gebetet wurde, dass Arbeitgeber diese überwachen und als Entscheidungsgrundlage heranziehen würden, wenn sie einen anstellen würden.
Einer gewissen Stacy Synder ist dies tatsächlich passiert. Man verweigerte ihr den Abschluss zum Lehramt, sie durfte nicht Lehrerin werden, weil ein Teilnehmer ihres Kurses ein Bild von ihr im Internet fand und an den Kursleiter weiterleitete:

http://i.imagehost.org/0737/ht_snyder_080505_mn.jpg
Drunken Pirate

Eine solche Person ist moralisch als Lehrkraft nicht tragfähig.

Was das erste Problem gleich mal herausstreicht: Kontext. Hallo, wir sind im Internet. Im Internet findest du Fakten und keinen Kontext. Die Suchmaschine ordnet die Treffer nicht nach Kontext sondern nach überprüfbaren Stichworten. Und nachdem der anonyme Melder das Bild als "most inappropriate behaviour for a future teacher" gemeldet hatte, nahm natürlich niemand mehr den Kontext der Social Networks war.
Der nicht ist, das Verhalten dieser Person in einer schulischen Umgebung widerzugeben.
Da wurde Schindluder mit einem Photo getrieben. Gleichwohl mit diesem hier:

http://i.imagehost.org/0224/angela_merkel_toeten.jpg

Frau Merkel ist offensichtlich eine Gefahr für das Leben aller Deutschen...und für den Weltfrieden. Denn es ist schwer zu glauben, dass sie das Töten nur auf Deutschland beschränken wird.

Haha? Nicht wirklich. Das dies Haha sein sollte, lernen wir in der ersten Vorlesung über Medientheorie, aber in der Allgemeinheit ist noch nicht angekommen, dass ein Photo - also eine technologische Abbildung der Lichtverhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt - erst durch verschiedene Manipulationstechniken Bedeutung bekommt. Die Kontextualisierung durch Beschriftung und Bildausschnittwahl sind dabei die mächtigsten.

http://www.gemeinde.bozen.it/UploadImgs/5793_che_guevara.jpg

Held der Unterdrückten

http://www.gemeinde.bozen.it/UploadImgs/5793_che_guevara.jpg

Feind der freien Welt

http://www.gemeinde.bozen.it/UploadImgs/5793_che_guevara.jpg

Ikone der Spaßgesellschaft

Mit welcher Bildunterschrift würdet ihr den Mann einstellen?


Zweitens:

Meine Goodreads-Page (http://www.goodreads.com/user/show/2998085).

Amazon kooperiert mit der Seite und greift auf die Information zu, die ich da freigebe. In der Hoffnung, dass sie mit der Information ein besseres Käuferprofil erstellen können.
Natürlich habe ich die circa 1500 Comics in meinem Besitz auf der Seite mit keinem Wort erwähnt. :bogart: Gleichfalls sind weder die tausenden Kindersachbücher, die Fantasyromane oder die Scifi darauf angegeben. Warum? Weil ich kein Interesse habe, mich online an diese zu erinnern.

Hier treffen Faktensuche und Kontext zusammen: Im Kontext des Internets würde ich gerne Fakten über meine gelesenen Bücher zur Verfügung haben.
Ich will schnell nachsehen können, ob ich das Buch schon gelesen habe.

Hinzu kommt der Zeitlauf: Dies sind alle Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe und die ich für meine Person im Moment als bedeutend empfinde.
Ich benötige diese Information online, da die Bücher über viele Orte verstreut sind.

Da ist viel Information verfügbar und die Information ist aktuell genug, dass mir Amazon sagen könnte, welches Buch ich als nächstes für das Internet lesen sollte. Blos lese ich nicht für das Internet, danke. :A Habt noch Spaß mit eurer Information.


Drittens: Ich lebe und meine Grenzen sind groß.

Ich bin mir selbst ein Mysterium. Kontext und Zeitverlauf machen, dass vieles von dem, was ich vor einem halben Jahr hier im Forum geschrieben habe heute für mich Nonsense ist. (http://www.multimediaxis.de/search.php?searchid=1804899) Als ich auf den ersten CT ging, fand ich mich ständig überrascht von mir selbst. :D Die Leute sprachen von einer Variante von mir, die für mich als Person irrelevant war. Für sie als Personen stellte sie aber mich selbst dar.

90% der wertvollen Information ist total veraltert, da ich mich als Person weiter entwickle und viele Kontexte für mich selbst habe. Ihr könnt gerne in meiner verflogenen Zeit nach einem Schlüssel suchen, aber genauso gut könntet ihr die Erde, zu der mein Exkrement inzwischen geworden ist nach mir fragen.


Was hier auch erwähnt werden sollte, ist die Unsittlichkeit des Erinnerns.

Die moralischen Implikation der ständigen Erinnerung, die man im Internet über uns aufbaut sind nicht ganz unwichtig. Erinnern und erinnert zu werden ist mitunter unsittlich grausam. Einem Freund kann man den Unsinn, den er vor Jahren gemacht hat noch jahrelang nachziehen, wenn man sich erinnert. Insofern wie er darüber nichts mehr tun kann und aus der Ermahnung nur die versammelte Gruppe einer billige Erheiterung zieht, verletzt man dadurch die Freundespflicht. Für einen kurzen Moment vergällt man ihm die Gesellschaft der Freunde, stellt ihn an den Rand und weist ihn darauf hin, dass er seinen Platz in unserem Kreis hat und diesen auf eigene Gefahr bricht. Nur seine Anwesenheit hält den Damm der Erinnerung geschlossen. Dies ist eine recht gewöhnliche Form der gesellschaftlichen Grausamkeit, aber sie ist insofern noch verzeihlich, da ihr ultimatives Ratio die Bindung einer Person in einen ihr nicht unbedingt unangenehmen Kontext darstellt.

Ich verweise hier auf das erste Beispiel zurück. Es ist in meinen Augen unsittlich, dass ein Fremder glaubte, einfach so das Recht zu haben Stacy Synder an ihre Handlung zu erinnern.

Und nun auf, auf in die wundervolle Irrelevanz, mein Beitrag.

Mordechaj
18.12.2009, 19:47
Noch ein Vorteil der Bohème.


Wer solchen Spaß ins Internet trägt, ist meiner Meinung nach selber Schuld: Es ist mittlerweile allgemein bekannt, dass hier viele rumschnüffeln und mal ganz ehrlich, wer Spaß daran findet, sich volltrunken fotographieren zu lassen und sich im Hinterher noch darauf zu verlinken oder dergleichen, noch perverser sind Prestigefreundschaften, "Guck mal, ich hab 13.000 Freunde bei Myspace." - "Ja guck mal, ich hab 35 im studiVZ und von denen kenne ich sogar die Vornamen und hab sie persönlich kennen gelernt.", selber Schuld...
Das heißt nicht, dass das, was der guten Stacy da widerfahren ist, rechtens gewesen wäre, viel mehr noch, du erwänst oft genug das Wort Kontext, welches hier tatsächlich von tragender Bedeutung ist. Dass dieser Kontext von den Fließbandschergen der Netz-Stasi aber nicht wahrgenommen wird und es nur auf spezielle Informationen ankommt, sollte auch klar sein.

Gerade deshalb verlasse man sich auf die mittlerweile gebotenen Einstellungen zur Privatsphäre und halte sich allgemein von Seiten fern, welche Drittanbietern Infos zustecken. Wir ersticken auch so schon im Werbemüll.
Gerade deshalb lege man keine öffentlich zugänglichen Fotoalben an, meine Güte, es ist doch nun wirklich scheiß egal, wie abgefahren die letzte Party war, die überbelichteten, verwackelte, artefaktverschmierten Bilder kann man sich auch Mailen oder per Hand weiterreichen. Ich lade mir doch auch keine Leute von der Straße in mein Zimmer ein und zeige auf die Problemecken, weil diese Leute ja nicht wissen können, dass ich nach 9 Stunden intensiver Patientenversorgung zu meiner Zimmerpflege nicht mehr in der Lage bin.

Und mal ganz ehrlich, wer sich in alkoholisiertem Zustand ablichten und hochladen lässt und meint, das hätte keine Auswirkungen und es würde keiner mitbekommen, ist in etwa so blauäugig wie die Arbeitgeber, die einen promiskuitiven Abstinenzler in ihren Einrichtungen sitzen sehen.
Viel mehr noch, wer die Informationen, die über einen selbst im Internet kursieren, nicht kontrolliert, hat nunmal den Schaden. Das ist mit ein wenig Vorsicht und Absprache mit Bekannten sehr leicht möglich, sogar ohne bei bestimmten Formularen einen falschen Namen anzugeben; allein, wenn man meinen Namen bei Google eintippt findet man nicht eine einzige Information über mich, welche man nicht in meinem Lebenslauf oder in einem Bewerbungsgespräch ebenso erfahren würde, ich bin in genau einem Social Network angemeldet, welches auf hoher Stufe Privatssphäre bietet, und selbst dort gebe ich nur Informationen von mir Preis, die ich auch einem völlig Fremden anvertrauen würde.

Es zeugt nicht von Anstand, im Lebenswandel anderer herumzuwühlen, das sollte klar sein. Aber wenn ich mein Auto auf der Straße parke, schließe ich es ab und stell das Leergut in den Kofferraum oder wenigstens auf die Fußmatte der Rückbank. Privatssphäre muss geschützt, die Anonymität des Internets gewahrt sein, später über widerfahrenes Unrecht herumjammern hilft wenig. Ich bin da sehr elitär und ich werde auch niemals ein Unternehmen leiten, aber: Wer das nicht begreift und wer sich dem öffentlichen Hohn bzw. dem unsittlichen Erinnern, wie du es sehr treffend betitelst, so leichtfertig aussetzt, der dürfte bei mir auch nicht arbeiten.

Ianus
18.12.2009, 20:30
Selbst ein offenes Auto entschuldigt keinen Diebstahl. Die Öffentlichkeit wird nicht lange Angstfrei bleiben, wenn man ungeladen in die offenen Privathäuser geht und aus den Breischüsselchen isst.

Wobei frecher Mundraub wohl der passendere Vergleich wäre. Man stiehlt den Leuten ihr Hab und Gut, blos weil sie es in der Öffentlichkeit sichtbar bei sich tragen. Nee, effektiv reißt man einem das Gesicht herunter und behauptet, mit der Haut und dem bischen Fleisch nun den Ausdruck der Person zu besitzen.

Leon der Pofi
18.12.2009, 22:02
es sollte eine kleine stichprobe erhoben werden, wieviele menschen mit einem che guevara shirt gekleidet sind und nicht einmal wissen, wie er heißt, noch warum er bekannt ist

Luras de Anzonius
18.12.2009, 22:21
Die Probe würde erst einmal ein erschütterndes Ergebnis haben

aber helfen würd es auch nich: (t
Die meisten Menschen sind aber wirklich selbst schuld
"Wer sich auf einen Berg stellt muss daran denken das der Wind dort stärker weht"

ich meine war es Stacy wirklich wert einmal mit ihren freunden über das bild zu lachen und als gegenzug nicht lehrer werden zu dürfen

deswegen bin ich auch dagegen irgendwelche Privaten dinge in zum Beispiel : SchülerCC
"auszustell"
man hat einfach nichts davon

Ianus
18.12.2009, 22:21
es sollte eine kleine stichprobe erhoben werden, wieviele menschen mit einem che guevara shirt gekleidet sind und nicht einmal wissen, wie er heißt, noch warum er bekannt ist Ist das irgendwie von Belangen? Ist nicht, als wüsste irgendjemand, dass sie Palästinenserschals tragen und somit den Mord an Juden verherrlichen. Oder so. :D

Mordechaj
18.12.2009, 22:50
Selbst ein offenes Auto entschuldigt keinen Diebstahl.
Das ist unabstreitbar war. Ich würde sogar noch weiter gehen und die Metapher ganz auslösen, selbst der fahrlässigste Umgang mit den persönlichen Informationen enschuldigt noch nicht, das damit Schabernack getrieben wird. Aber muss man die Sache wirklich ausreizen? Warum schützen die Leute ihr Auto besser vor Unbefugten als ihre Privatsphäre?


Die Öffentlichkeit wird nicht lange Angstfrei bleiben, wenn man ungeladen in die offenen Privathäuser geht und aus den Breischüsselchen isst.
Eben, die Angst müsste sich schon lange gesetzt haben - nur Neueinsteiger können noch behaupten, von Netzschnüffelei nichts zu wissen. Es ist nicht zu ändern, es braucht ja nicht mal besondere Paranoia, lediglich einen äußerst natürlichen Umgang mit dem Ureigenen, es heißt das unnatürliche damit Herumschmeißen einzudämmen. Es ist scheinheilig oder dumm Zirkel und Hammer umrandet vom Ährenkranz auf dem Dorfplatz aufzuplakatieren und sich dann zu ärgern, dass einem Geschichtsdefizite vorgeworfen werden. Klar, es gibt einen großen Unterschied zwischen meinem privaten Leben und meinem Berufsleben, weshalb es meinen Chef auch nicht zu interessieren hat, wo ich meinen Lohn verfeiere, aber dann sollte ich es der Welt auch nicht auf die Nase drücken, denn das öffentliche Auftreten ist ähnlich distant zum privaten.


Man stiehlt den Leuten ihr Hab und Gut, blos weil sie es in der Öffentlichkeit sichtbar bei sich tragen.
Es ist ja auch höchst fahrlässig, wenn ich mein verdiamantetes Straußenei um den Hals trage. Niemand würde das tun. Niemand würde fremden Leuten auf den Zahn schreiben, dass man sich gerne als Pirat verkleidet mit irgendwelchem Billigfusel volllaufen lässt. Niemand ornaniert in der Öffentlichkeit - naja, Ausnahmen im alten Griechenland seien hier unbeachtet. Niemand zeigt Bilder von seinen zwei Wochen alten Pizzaresten auf der Straße herum. Im Internet aber tu ich mal so, als wäre ich vollkommen anonym, mime den Drunken Pirate, kacke in Videos aus fahrenden Autos und zeige gern meine verlotterte Messiwohnung. Und weil mich in der Welt ja sowieso niemand kennt, steht eben mein Name bei - ein Schelm, wer hier seine Vorteile draus zieht.


Nee, effektiv reißt man einem das Gesicht herunter und behauptet, mit der Haut und dem bischen Fleisch nun den Ausdruck der Person zu besitzen.
Das ist sehr wahr. Trotzdem ist man immer noch der, der die idealen Stellen zum Anpacken mit Chirurgiemarker angezeichnet und sein Gesicht in feuchten Lehm drückt. Bemerkung am Rande: In der Konsumwelt will der Verbraucher auf seine Bedürfnisse beschränkt werden. Am Besten noch auf die oberflächlichsten, je einfacher ich mich selbst definiere, umso einfacher ist auch meine Welt.

Im Internet ist man immer ein bisschen prominent, denn wer einen eigenen Blog hat, hat offensichtlich auch eine Leserschaft, wer Bilder ins Netz stellt, hat auch Betrachter, ebenso wie Youtuber und Vimeoner, folglich steht man im öffentlichen Leben. Hart aber war: Wer sich in der öffentlichen Sphäre aufhält, muss mit Kritik und Einmischung in die eigenen Belange rechnen. Das ist ähnlich mit Leuten, die ihre Mission der Bekehrung wahrnehmen und damit ihren Glauben aus der privaten in die öffentliche Sphäre tragen: Plötzlich sind sie in ihrer Identität und ihrer Privatsphäre angreifbar. Das Tor für die plündernden Horden muss man aber immer erst selbst aufstoßen.


Battle of metaphors. \o/