deserted-monkey
21.02.2009, 16:10
Fragmente der Fracht
-----------------------
1.
Von allem Schrecklichen, was McTardy in seinem Leben bereits gesehen und mitbekommen hatte, war dieser Unfall, der sich zeitgleich mit seinem Verstehen in sein übermüdetes Gehirn brannte, mit Abstand das Entsetzlichste, was er je zu Gesicht gekriegt hatte. Es war bereits nach der Dämmerung und die Hauptstrasse verlassen, doch das Bild, das urplötzlich die Szenerie einer heilen Welt aufgeben musste, sah McTardy so deutlich, als hätte Gott das heilige Licht des Himmels persönlich gen Erde gerichtet, um seinen Bürgern die Abscheulichkeiten zu lehren, zu denen sie zweifellos alle fähig waren. Das tiefe Brummen eines schweren Trucks verdrängte die seichte Countrymusik aus dem Raum, während McTardys müde Augen in die hereinkriechende Dunkelheit starrten. Mit ihr kam das lang ersehnte Verständnis für die Ereignisse der letzten Wochen, welche aus seiner Persönlichkeit beinahe einen anderen Menschen geformt hatten.
Zeitgleich mit dem Verglühen der Zigarette im Aschenbecher, wühlte er in seiner Manteltasche nach den Tabletten, die seine Gedanken auf andere Bahnen lenken sollten. Aber er kam nicht mehr dazu, sie zu schlucken.
Hatte es ihn wirklich dermaßen getroffen, dass Julie das Kind eines anderen Mannes erwartete? Musste sein Unterbewusstsein nicht von Anfang an damit gerechnet haben, dass sie eine untreue und verlogene Fotze war, die sich nur wegen seines regelmäßigen Einkommens mit ihm abgegeben hatte? Ihre Heirat war ein unbedeutender Tag gewesen, als hätten sich zwei Hunde zum Pissen an der Straßenecke getroffen, um danach wieder ihre eigenen Wege zu beschreiten. Natürlich war es kein Wunder, früher oder später hätte sie ihn sowieso verlassen.
Warum war er deshalb in dieses schwarze, ohnmächtige Loch gefallen, aus dessen Tiefen ihn nur Dr. Francks weiße Tabletten erretten konnten? War da mehr gewesen als der gelegentliche Sex, die Stunden der Zweisamkeit vor dem Fernseher und die Abendmahle, die stets in peinliches Schweigen gehüllt gewesen waren? War Julie für ihn so etwas wie der Anker in der Wirklichkeit gewesen, das Ziel am Horizont, dass es nach jedem schweren Tag zu erreichen galt? So schien es, und als McTardy sich darüber Gedanken machte, wurde ihm umso klarer, weshalb sein jetziger Zustand so schnell seine Schatten über eben diese Wirklichkeit gelegt hatte.
Die Schlaflosigkeit hatte ihn seiner menschlichen Sinne beinahe beraubt, traumverloren war er durch die Gegenwart gewandelt, als berührten seine Füße nicht mehr den vertrauten Boden, sondern stünden einen Schritt über einem endlosen Abgrund, dessen Maul seit der Trennung von Julie stetig vor ihm aufklaffte. Sie war es gewesen, die ihm die grundlegenden Dinge über das schwer zu erfassende Leben erklären konnte, und auch sie war es gewesen, die ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Ohne sie war er beinahe verrückt geworden, irre, der Verstand ein plastisches Bildnis eines verlorenen Traumfragmentes. Ein Mensch, welcher nicht mehr wusste was er tat und tun musste, der nicht mehr im Stande war, seine Denk- und Handelsfähigkeiten abzuschätzen.
So war er geflohen aus dem Sumpf der Betonwände und der sinnlos wirkenden Geschäftigkeit der Strassen von Albuquerque, wo er sein gesamtes Leben verbracht hatte. Außerhalb dieser Mauern fühlte er sich frei, auch wenn die Fieberträume blieben, die ihn plagten, wenn ihn der Schlaf schließlich doch einholte. Die Tabletten nahm er immer noch, damit er die Kontrolle bezüglich seiner Hände, die den Cadillac lenkten, nicht verlieren würde. Wären sie irgendeinmal aufgebraucht, würde er den Ort erreicht haben, nach dem er sich so sehr sehnte und wo, so glaubte er zumindest, seine Erlösung auf ihn wartete.
2.
Die junge Frau wurde von den zwölf Tonnen aus dem Leben katapultiert, wie er nach dem Auseinanderbrechen seiner einzigen Beziehung, die ihn, wie sich nun langsam als schleichende Erkenntnis bemerkbar machte, an das Alltägliche geklammert hatte. Mit nun weit aufgerissenen Augen verfolgte McTardy das abscheuliche Bildnis, welches sich vor ihm auf der vermeintlich verlassenen Strasse auftat. Der Kühlergrill des Lasters zerknirschte die Knochen mit der Präzision eines Dampfhammers, verteilte das spritzende Blut in langen, fliegenden Fäden auf dem kalten Asphalt, wo es unergründliche Muster auf das Grau des Bodens malte. Die Scheibe des Drive-Inns verhinderte, das sein erschütterter Schrei nach draußen drang; dort erloschen die Scheinwerfer des Trucks im Finsteren, wie Kerzen ausgeblasen, nachdem McTardy gesehen hatte, was er nicht sehen durfte.
Der schmutzige, alte Mann hinter dem Tresen war auf eine grauenhafte Weise zu fasziniert von dem gerade Geschehenen, als dass er fähig gewesen wäre, nach dem Telefon zu greifen, um die Sanität oder die Polizei zu verständigen. McTardy erhob sich mit einer unbeholfenen Ruckartigkeit, die Tabletten zu allen Seiten von der Tischfläche fliegen ließ.
Als er durch die Tür in die Nacht hinaustrat und der verdatterte Alte hinter ihm Worte zu sprechen begann, die sein empfundenes Grauen auszudrücken versuchten, bemerkte er, dass der Kopf der jungen Dame bis vor die Stufen der Veranda gerollt war. Ihre Augen blickten ihm verstört aus den zerschmetterten Gesichtszügen entgegen, als begriffen sie noch nicht, dass es nichts mehr zu Verstehen gab. McTardy kotzte daneben auf den Boden, versprühte die Hälfte über seinen Mantel, während ihm die Magensäure versuchte, aus der Nase zu entweichen. Wankend richtete er sich aus dieser gekrümmten Position auf, torkelte einen Moment auf der Stelle wie ein Betrunkener, bevor er die Kontrolle über seine Glieder wieder halbwegs erlangte.
Gelenkt von seinen Beinen, die in eine mechanische Antriebsquelle verfallen waren, ging er auf den stehenden Truck zu, dessen Motor immer noch leise, spuckende Geräusche von sich gab. McTardy wollte es nicht aus der Nähe sehen, auf dem Blut unter seinen quietschenden Schuhen wollte er nicht dahinschreiten, aber irgendetwas tief in seiner Seele Verborgenes trieb ihn dazu, weiterzugehen. Die Führerkabine war verlassen, wie der Friedhof, auf dem McTardys ehemals verrückte und alkoholkranke Mutter auf die Ewigkeit wartete. Tränen liefen über sein Gesicht und die Tabletten hatten eine Spur von der Türe des Drive-Inns bis vor den Truck gelegt, aber das bemerkte er nicht, viel mehr erweckte der Kühlergrill des Lasters eine morbide Faszination auf sein inneres Selbst. Obwohl der Stahl des Monsters das Fleisch des Menschen mit mehr als hundert Stundenkilometern gerammt hatte, klebte nicht ein Tropfen Blut daran. Nichts war verbogen, die Oberfläche wies keinerlei Schrammen oder Kratzer auf.
Dieser Truck stellte die ganze Reinheit des Todes dar, der tonnenschwer auf McTardys Schultern lastete und sachte zu drücken begann, bis ihm die Knochen irgendwann bersten würden.
3.
Vielleicht war die junge Frau, die verteilt über einen Umkreis mehrerer Meter ihr Ende gefunden hatte, dem fremden Kinde von Julie nicht unverwandt, oder stellte für ihn sogar genau dieses kleine Wesen dar, das im Bauch seiner verlorenen Wirklichkeit gedieh. Hohe, lüsterne Stimmen flüsterten in der Nacht; McTardy schluckte eine handvoll Tabletten und salzige Tränen herunter.
Hinter ihm schrie der Besitzer des Drive-Inns in gebeutelter Pein, die McTardy selbst hier draußen noch wie einen rasselnden Knochensack zu schütteln vermochte. Seine Sicht verbog sich zu einem krummen Fischauge, das ihn die Dinge nicht mehr klar erkennen und seine Iris vor Schmerzen zucken ließ.
Finstere Schatten, die selbst die Dunkelheit der Nacht in sich aufsogen wie nasse Schwämme verbrauchte Kreide, waberten im Inneren des Drive-Inns und zertrennten den Körper des Alten in einem Wirbelsturm aus Blutfetzen und fliegenden Möbelstücken. Obschon seiner Sehfähigkeit Schranken gesetzt worden waren, erkannte McTardy darin zuckende und schreiende Gesichter, die ihn anwiesen, sich dem Anhänger des Trucks und dessen verheißungsvollem Inhalt zu stellen. Bevor er das jedoch tun konnte, zerplatzten die Glühbirnen der Lampen, die überall um das Drive-Inn herum aufgestellt worden waren, und die Dunkelheit sog sein Unverständnis mit ihr in die Weite der Nacht hinaus.
4.
Quietschend bewegten sich die Scharniere am Anhänger des Trucks und gaben den Blick auf dessen Inhalt frei. Im Inneren des planenbedeckten Frachtraumes spielte sich eine Szene ab, der McTardy mit ungläubig zusammengekniffenen Augen beiwohnte. Alle waren hier, Julie, nackt mir ihrem Neugeborenen in den Armen, das einem Anderen gehörte; seine Mutter, ihr vom Alkohol aufgedunsenes Gesicht zeigte keinerlei Regung, als ihre Blicke sich begegneten; sein Vater in seinem geliebten, maßgeschneiderten Anzug und seiner steifen Krawatte; Dr. Franck, der seine eigenen Tabletten kaute und dabei lächelte wie ein vergnügtes Kindlein.
Während McTardy die Schatten unter die Kleidung krochen und sich in seinen Eingeweiden einzunisten begannen, sprach Julie mit einer bittersüßen Traumstimme zu ihm, die versprach:
“Johnny, du wolltest die Wirklichkeit greifen, du wolltest die Ungewissheit verdrängen und das Unmögliche nicht verstehen. Das wolltest du doch, oder nicht? Hier hast du alles, was dir deine Träume nicht offenbarten, du dir aber schon immer so sehnlichst gewünscht hast.”
John McTardy verstand nicht, er war dazu nicht mehr in der Lage, sein Gemütszustand hatte Formen angenommen, derer ein vernünftiger Mensch nicht einmal im Drogenrausch fähig gewesen wäre. Dr. Franck lachte und fütterte dem Kind in Julies Armen von seinen Tabletten.
“Ich wollte nur dich, Julie. Nur dich.”, flüsterte McTardy in den leeren Truck hinein und erneut sprudelten die nassen Tränen aus seinen glasigen Augen, hinter dessen Lidern sich die Schatten zu manifestieren begannen.
“Was ist mit dem Kind?”, fragte seine Mutter plötzlich mit ihrer scharfen Alkoholikerstimme.
“Es ist nicht von mir.”, sprach McTardys Mund, verzerrt von einer schmerzvollen Manie des Grauens. Währenddessen brachen die Schatten aus seinem Körper und drohten ihn vollständig in sich aufzusaugen. Plötzlich loderte ein nährendes Feuer in seinem Zentrum auf, gab ihm neue Kraft, um sich auf seinen wackeligen und schlotternden Beinen zu halten. Die Szene im Frachtraum veränderte sich darauf, die hassverzerrten Gesichter spotteten jeglicher Lebensfreude und ergossen eine Welle des absolut Negativen auf ihn herunter.
“Zum Glück ist es nicht von dir!”, schrieen ihm die zornigen Münder entgegen. “Aus ihm wäre ein Psychopath geworden! Sieh dich nur einmal an, du mit deinen Tabletten und deinen vergebenen Versuchen, das Leben zu verstehen!”
Das Wesen in ihm, das sein Menschsein noch nicht ganz aufgegeben hatte, protestierte nicht, als er den leeren Frachtraum wieder verschloss und sich daran machte, um den Truck herumzugehen.
McTardy hatte genug gesehen und gehört, um zu verstehen. Einmal hätte er sowieso getötet, wieso also nicht jetzt? Die Schatten in ihm lenkten ihn, erfassten sein Denken und leiteten es in die beabsichtigten Richtungen, damit er endlich tun konnte, was sie von ihm verlangen würden. Vielleicht war er wirklich geistesgestört, das konnte gut sein, aber wenigstens brachte ihm die Gesellschaft seiner neuen Wunder Genugtuung. Von nun an würde der makellose Truck ihm gehören, mitsamt seiner Fracht und Geheimnissen, mitsamt dem Leben und seinen versteckten Wendungen. Die Tabletten zerdrückte er in der Manteltasche, ließ das Pulver aus seinen Fingern rieseln und vom Nachtwind davontragen.
Er brauchte nichts mehr, um sich an die Wirklichkeit zu heften, brauchte keinen Anker mehr im Fleisch des Seins zu versenken. In sich spürte er, das alles wirklich war.
5.
Als ein kläglicher, neuer Morgen graute, fuhr ein Zwölftönner Richtung Albuquerque.
-----------------------
1.
Von allem Schrecklichen, was McTardy in seinem Leben bereits gesehen und mitbekommen hatte, war dieser Unfall, der sich zeitgleich mit seinem Verstehen in sein übermüdetes Gehirn brannte, mit Abstand das Entsetzlichste, was er je zu Gesicht gekriegt hatte. Es war bereits nach der Dämmerung und die Hauptstrasse verlassen, doch das Bild, das urplötzlich die Szenerie einer heilen Welt aufgeben musste, sah McTardy so deutlich, als hätte Gott das heilige Licht des Himmels persönlich gen Erde gerichtet, um seinen Bürgern die Abscheulichkeiten zu lehren, zu denen sie zweifellos alle fähig waren. Das tiefe Brummen eines schweren Trucks verdrängte die seichte Countrymusik aus dem Raum, während McTardys müde Augen in die hereinkriechende Dunkelheit starrten. Mit ihr kam das lang ersehnte Verständnis für die Ereignisse der letzten Wochen, welche aus seiner Persönlichkeit beinahe einen anderen Menschen geformt hatten.
Zeitgleich mit dem Verglühen der Zigarette im Aschenbecher, wühlte er in seiner Manteltasche nach den Tabletten, die seine Gedanken auf andere Bahnen lenken sollten. Aber er kam nicht mehr dazu, sie zu schlucken.
Hatte es ihn wirklich dermaßen getroffen, dass Julie das Kind eines anderen Mannes erwartete? Musste sein Unterbewusstsein nicht von Anfang an damit gerechnet haben, dass sie eine untreue und verlogene Fotze war, die sich nur wegen seines regelmäßigen Einkommens mit ihm abgegeben hatte? Ihre Heirat war ein unbedeutender Tag gewesen, als hätten sich zwei Hunde zum Pissen an der Straßenecke getroffen, um danach wieder ihre eigenen Wege zu beschreiten. Natürlich war es kein Wunder, früher oder später hätte sie ihn sowieso verlassen.
Warum war er deshalb in dieses schwarze, ohnmächtige Loch gefallen, aus dessen Tiefen ihn nur Dr. Francks weiße Tabletten erretten konnten? War da mehr gewesen als der gelegentliche Sex, die Stunden der Zweisamkeit vor dem Fernseher und die Abendmahle, die stets in peinliches Schweigen gehüllt gewesen waren? War Julie für ihn so etwas wie der Anker in der Wirklichkeit gewesen, das Ziel am Horizont, dass es nach jedem schweren Tag zu erreichen galt? So schien es, und als McTardy sich darüber Gedanken machte, wurde ihm umso klarer, weshalb sein jetziger Zustand so schnell seine Schatten über eben diese Wirklichkeit gelegt hatte.
Die Schlaflosigkeit hatte ihn seiner menschlichen Sinne beinahe beraubt, traumverloren war er durch die Gegenwart gewandelt, als berührten seine Füße nicht mehr den vertrauten Boden, sondern stünden einen Schritt über einem endlosen Abgrund, dessen Maul seit der Trennung von Julie stetig vor ihm aufklaffte. Sie war es gewesen, die ihm die grundlegenden Dinge über das schwer zu erfassende Leben erklären konnte, und auch sie war es gewesen, die ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Ohne sie war er beinahe verrückt geworden, irre, der Verstand ein plastisches Bildnis eines verlorenen Traumfragmentes. Ein Mensch, welcher nicht mehr wusste was er tat und tun musste, der nicht mehr im Stande war, seine Denk- und Handelsfähigkeiten abzuschätzen.
So war er geflohen aus dem Sumpf der Betonwände und der sinnlos wirkenden Geschäftigkeit der Strassen von Albuquerque, wo er sein gesamtes Leben verbracht hatte. Außerhalb dieser Mauern fühlte er sich frei, auch wenn die Fieberträume blieben, die ihn plagten, wenn ihn der Schlaf schließlich doch einholte. Die Tabletten nahm er immer noch, damit er die Kontrolle bezüglich seiner Hände, die den Cadillac lenkten, nicht verlieren würde. Wären sie irgendeinmal aufgebraucht, würde er den Ort erreicht haben, nach dem er sich so sehr sehnte und wo, so glaubte er zumindest, seine Erlösung auf ihn wartete.
2.
Die junge Frau wurde von den zwölf Tonnen aus dem Leben katapultiert, wie er nach dem Auseinanderbrechen seiner einzigen Beziehung, die ihn, wie sich nun langsam als schleichende Erkenntnis bemerkbar machte, an das Alltägliche geklammert hatte. Mit nun weit aufgerissenen Augen verfolgte McTardy das abscheuliche Bildnis, welches sich vor ihm auf der vermeintlich verlassenen Strasse auftat. Der Kühlergrill des Lasters zerknirschte die Knochen mit der Präzision eines Dampfhammers, verteilte das spritzende Blut in langen, fliegenden Fäden auf dem kalten Asphalt, wo es unergründliche Muster auf das Grau des Bodens malte. Die Scheibe des Drive-Inns verhinderte, das sein erschütterter Schrei nach draußen drang; dort erloschen die Scheinwerfer des Trucks im Finsteren, wie Kerzen ausgeblasen, nachdem McTardy gesehen hatte, was er nicht sehen durfte.
Der schmutzige, alte Mann hinter dem Tresen war auf eine grauenhafte Weise zu fasziniert von dem gerade Geschehenen, als dass er fähig gewesen wäre, nach dem Telefon zu greifen, um die Sanität oder die Polizei zu verständigen. McTardy erhob sich mit einer unbeholfenen Ruckartigkeit, die Tabletten zu allen Seiten von der Tischfläche fliegen ließ.
Als er durch die Tür in die Nacht hinaustrat und der verdatterte Alte hinter ihm Worte zu sprechen begann, die sein empfundenes Grauen auszudrücken versuchten, bemerkte er, dass der Kopf der jungen Dame bis vor die Stufen der Veranda gerollt war. Ihre Augen blickten ihm verstört aus den zerschmetterten Gesichtszügen entgegen, als begriffen sie noch nicht, dass es nichts mehr zu Verstehen gab. McTardy kotzte daneben auf den Boden, versprühte die Hälfte über seinen Mantel, während ihm die Magensäure versuchte, aus der Nase zu entweichen. Wankend richtete er sich aus dieser gekrümmten Position auf, torkelte einen Moment auf der Stelle wie ein Betrunkener, bevor er die Kontrolle über seine Glieder wieder halbwegs erlangte.
Gelenkt von seinen Beinen, die in eine mechanische Antriebsquelle verfallen waren, ging er auf den stehenden Truck zu, dessen Motor immer noch leise, spuckende Geräusche von sich gab. McTardy wollte es nicht aus der Nähe sehen, auf dem Blut unter seinen quietschenden Schuhen wollte er nicht dahinschreiten, aber irgendetwas tief in seiner Seele Verborgenes trieb ihn dazu, weiterzugehen. Die Führerkabine war verlassen, wie der Friedhof, auf dem McTardys ehemals verrückte und alkoholkranke Mutter auf die Ewigkeit wartete. Tränen liefen über sein Gesicht und die Tabletten hatten eine Spur von der Türe des Drive-Inns bis vor den Truck gelegt, aber das bemerkte er nicht, viel mehr erweckte der Kühlergrill des Lasters eine morbide Faszination auf sein inneres Selbst. Obwohl der Stahl des Monsters das Fleisch des Menschen mit mehr als hundert Stundenkilometern gerammt hatte, klebte nicht ein Tropfen Blut daran. Nichts war verbogen, die Oberfläche wies keinerlei Schrammen oder Kratzer auf.
Dieser Truck stellte die ganze Reinheit des Todes dar, der tonnenschwer auf McTardys Schultern lastete und sachte zu drücken begann, bis ihm die Knochen irgendwann bersten würden.
3.
Vielleicht war die junge Frau, die verteilt über einen Umkreis mehrerer Meter ihr Ende gefunden hatte, dem fremden Kinde von Julie nicht unverwandt, oder stellte für ihn sogar genau dieses kleine Wesen dar, das im Bauch seiner verlorenen Wirklichkeit gedieh. Hohe, lüsterne Stimmen flüsterten in der Nacht; McTardy schluckte eine handvoll Tabletten und salzige Tränen herunter.
Hinter ihm schrie der Besitzer des Drive-Inns in gebeutelter Pein, die McTardy selbst hier draußen noch wie einen rasselnden Knochensack zu schütteln vermochte. Seine Sicht verbog sich zu einem krummen Fischauge, das ihn die Dinge nicht mehr klar erkennen und seine Iris vor Schmerzen zucken ließ.
Finstere Schatten, die selbst die Dunkelheit der Nacht in sich aufsogen wie nasse Schwämme verbrauchte Kreide, waberten im Inneren des Drive-Inns und zertrennten den Körper des Alten in einem Wirbelsturm aus Blutfetzen und fliegenden Möbelstücken. Obschon seiner Sehfähigkeit Schranken gesetzt worden waren, erkannte McTardy darin zuckende und schreiende Gesichter, die ihn anwiesen, sich dem Anhänger des Trucks und dessen verheißungsvollem Inhalt zu stellen. Bevor er das jedoch tun konnte, zerplatzten die Glühbirnen der Lampen, die überall um das Drive-Inn herum aufgestellt worden waren, und die Dunkelheit sog sein Unverständnis mit ihr in die Weite der Nacht hinaus.
4.
Quietschend bewegten sich die Scharniere am Anhänger des Trucks und gaben den Blick auf dessen Inhalt frei. Im Inneren des planenbedeckten Frachtraumes spielte sich eine Szene ab, der McTardy mit ungläubig zusammengekniffenen Augen beiwohnte. Alle waren hier, Julie, nackt mir ihrem Neugeborenen in den Armen, das einem Anderen gehörte; seine Mutter, ihr vom Alkohol aufgedunsenes Gesicht zeigte keinerlei Regung, als ihre Blicke sich begegneten; sein Vater in seinem geliebten, maßgeschneiderten Anzug und seiner steifen Krawatte; Dr. Franck, der seine eigenen Tabletten kaute und dabei lächelte wie ein vergnügtes Kindlein.
Während McTardy die Schatten unter die Kleidung krochen und sich in seinen Eingeweiden einzunisten begannen, sprach Julie mit einer bittersüßen Traumstimme zu ihm, die versprach:
“Johnny, du wolltest die Wirklichkeit greifen, du wolltest die Ungewissheit verdrängen und das Unmögliche nicht verstehen. Das wolltest du doch, oder nicht? Hier hast du alles, was dir deine Träume nicht offenbarten, du dir aber schon immer so sehnlichst gewünscht hast.”
John McTardy verstand nicht, er war dazu nicht mehr in der Lage, sein Gemütszustand hatte Formen angenommen, derer ein vernünftiger Mensch nicht einmal im Drogenrausch fähig gewesen wäre. Dr. Franck lachte und fütterte dem Kind in Julies Armen von seinen Tabletten.
“Ich wollte nur dich, Julie. Nur dich.”, flüsterte McTardy in den leeren Truck hinein und erneut sprudelten die nassen Tränen aus seinen glasigen Augen, hinter dessen Lidern sich die Schatten zu manifestieren begannen.
“Was ist mit dem Kind?”, fragte seine Mutter plötzlich mit ihrer scharfen Alkoholikerstimme.
“Es ist nicht von mir.”, sprach McTardys Mund, verzerrt von einer schmerzvollen Manie des Grauens. Währenddessen brachen die Schatten aus seinem Körper und drohten ihn vollständig in sich aufzusaugen. Plötzlich loderte ein nährendes Feuer in seinem Zentrum auf, gab ihm neue Kraft, um sich auf seinen wackeligen und schlotternden Beinen zu halten. Die Szene im Frachtraum veränderte sich darauf, die hassverzerrten Gesichter spotteten jeglicher Lebensfreude und ergossen eine Welle des absolut Negativen auf ihn herunter.
“Zum Glück ist es nicht von dir!”, schrieen ihm die zornigen Münder entgegen. “Aus ihm wäre ein Psychopath geworden! Sieh dich nur einmal an, du mit deinen Tabletten und deinen vergebenen Versuchen, das Leben zu verstehen!”
Das Wesen in ihm, das sein Menschsein noch nicht ganz aufgegeben hatte, protestierte nicht, als er den leeren Frachtraum wieder verschloss und sich daran machte, um den Truck herumzugehen.
McTardy hatte genug gesehen und gehört, um zu verstehen. Einmal hätte er sowieso getötet, wieso also nicht jetzt? Die Schatten in ihm lenkten ihn, erfassten sein Denken und leiteten es in die beabsichtigten Richtungen, damit er endlich tun konnte, was sie von ihm verlangen würden. Vielleicht war er wirklich geistesgestört, das konnte gut sein, aber wenigstens brachte ihm die Gesellschaft seiner neuen Wunder Genugtuung. Von nun an würde der makellose Truck ihm gehören, mitsamt seiner Fracht und Geheimnissen, mitsamt dem Leben und seinen versteckten Wendungen. Die Tabletten zerdrückte er in der Manteltasche, ließ das Pulver aus seinen Fingern rieseln und vom Nachtwind davontragen.
Er brauchte nichts mehr, um sich an die Wirklichkeit zu heften, brauchte keinen Anker mehr im Fleisch des Seins zu versenken. In sich spürte er, das alles wirklich war.
5.
Als ein kläglicher, neuer Morgen graute, fuhr ein Zwölftönner Richtung Albuquerque.