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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Endstation



PiqueValet
10.02.2009, 17:02
So, nach einer langen Zeit, ohne wirklich etwas geschrieben zu haben, hat es mich heute irgendwie gepackt. Also habe ich eine alte Idee wieder aufgeschnappt und eine geschichte daraus gemacht.
Viel Spaß beim lesen und über Kritik freue ich mich selbstverständlich ebenso sehr wie über Lob. ^^

Endstation

Eigentlich fahren tote Menschen nicht mit der U-Bahn, dachte er und meinte damit in erster Linie sich selbst.
Ein sanftes Rütteln durchfuhr den Wagon, als die Bahn sich in Bewegung versetzte und er sich vollkommen seinen Gedanken hingab. Noch vier Stationen.
Sein Name war Moses, ein seltsamer Name, wie er fand, doch seine Großmutter war gläubige Jüdin gewesen und schien wohl großen Einfluss auf seine Namensgebung gehabt zu haben. Auch er hatte Kinder, ihnen jedoch hatte er den Bezug zu jeglicher Religion erspart.
Marcel, so hieß sein Sohn und gleichzeitig das ältere seiner Kinder, den Namen seiner Tochter, Jennifer, hatte seine Frau ausgesucht…Seine Frau…Sie hieß…Er stockte, wie hieß sie noch gleich?
Er hatte ihr Bild in Erinnerung, die weichen, braunen Locken, das lächelnde Gesicht und die kleinen Falten um ihre Augen, die kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase, die sie so störten…Julia…
Ja, Julia hieß sie, wie konnte er das nur vergessen.

Ein weiteres sanftes Rütteln, der Wagen hielt an. Mit einem Zischen öffneten sich die Türen, um die drängenden Menschenmassen von draußen hereinströmen zu lassen. Moses jedoch schenkte ihnen keine Beachtung, seine Gedanken hatten bereits eine ganz andere Richtung eingeschlagen, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Noch drei Stationen.

Da war etwas, etwas, was er nicht zuordnen konnte, ein Teil seiner Erinnerung, der so blass und unvollständig wirkte. Er sah die Welt wie durch eine Glasscheibe hindurch, er hörte Kinder lachen, dann ein Licht, ein kurzer, erstickter Schrei, Schwärze.
Je länger er sich darauf konzentrierte, desto weiter rückten diese Bilder wieder von ihm fort, vielleicht wollten sie sich ja noch gar nicht greifen lassen, dachte er.
Etwas nervös war Moses schon, er hatte seine Familie seit langer Zeit nicht mehr gesehen und jetzt, wo er wieder so dicht an ihnen dran war, da wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte wenn…

Dieses Mal bemerkte er das Anhalten der Bahn, das Quietschen der Reifen zerriss seine Gedanken und der Andrang der wartenden menge erschien ihm diesmal so laut.
Er musste sich orientieren, an welcher Haltestelle war er gerade? Musste er aussteigen oder war er sogar zu weit gefahren?
Sein Zeitgefühl hatte sich längst verabschiedet…Nein, er musste noch weiterfahren…
Ein Junge setzte sich ihm gegenüber, einer dieser jugendlichen in ihren dicken Jacken, den viel zu großen Hosen, die ihre Kappen prinzipiell verkehrt herum tragen. Dieser hier hatte große Kopfhörer auf den Ohren, aus denen dumpfe Hip-Hop Musik an Moses Ohr drang.
Erst jetzt viel ihm auf, wie schmutzig es hier drinnen war. Menschen drängten sich aneinander, die Wände waren beschmiert und es roch nach Schweiß.
Allein diese Feststellung und der sanfte Beat aus den Kopfhörern des Jungen begleiteten ihn abermals in seine Gedankenwelt. Noch zwei Stationen.

Eine Weile musste Moses nachdenken, wo war er stehen geblieben?
Ja richtig, seine Familie…Was sollte er also tun, wenn er ihnen plötzlich wieder gegenüber stand. Würden sie sich überhaupt freuen ihn zu sehen? Würden sie ihm verzeihen? Wie sollte er sie überhaupt begrüßen, sollte er einfach zu ihnen hingehen und sagen: „Hallo, ich bin wieder da.“?
Was wenn sie ihn abweisen würden? Er könnte es ihnen ja nicht einmal verübeln, nach der langen Zeit. Vielleicht ging es ihnen auch einfach gut, so wie es jetzt war und er würde sie nur stören, doch jetzt konnte er nicht mehr zurück, dazu hatte er zu viele Fragen.

Noch eine Station.

Er war sich sicher, sie würden es verstehen, sicher hatten sie ihn doch auch vermisst. Klar, es würde nie mehr werden wie früher, aber er musste sich entschuldigen, darüber reden, die Dinge klären, bevor es dafür zu spät war und wie schnell das gehen konnte, das wusste er bereits.
Immer tiefer verlor Moses sich in diesen Gedanken, immer weiter drängte er die Umwelt von sich weg, blendete sie fast vollkommen aus und dennoch spürte er es wie eine heiße Nadel, die sich in seinen Kopf und die Gedanken hinein bohrte.

Halt.

Erst beim Aussteigen bemerkte er, wie kalt es draußen war. Der Atem gefror vor seinem Gesicht zu grauen Wölkchen und er musste die Hände in der Jackentasche begraben. Es wurde früh dunkel um diese Zeit, also erwartete ihn keine Sonne, als er die Rolltreppe der U-Bahn nach oben fuhr, einzig die Lichter der unweit gelegenen Stadt und die wenigen Sterne, die durch die Wolken drangen erhellten die Szenerie ein wenig.
Als Moses losging, die Straße entlang, versuchte er sich abzulenken, nicht auf das Kribbeln in seinem Bauch zu achten und nicht länger darüber nachzudenken, was gleich passieren würde. Er achtete auf die knirschenden Geräusche, die seine Schritte verursachten, auf das Rascheln der Büsche und Bäume auf den Feldern, die sich im Wind wogen, auf den Lärm der vorbeifahrenden Autos…
Gleich war er da…Er lief die Mauer entlang, seine Finger glitten über den rauen Stein, bis er das Tor erreichte, das in den Garten führte. Es war offen. Die Klinke fühlte sich Kalt auf seiner Hand an, als das Tor mit einem leisen Quietschen aufschwang.
Seine schritte lenkten ihn zielstrebig über den Kiesweg hinweg, auf das weiße Haus in der Mitte des Gartens zu.
Seine Gedanken sprangen zurück zu den vergangenen Tagen. Die Tatsache, das er den Unfall überlebt hatte, wurde von den Ärzten bereits als kleines Wunder bezeichnet, die Tatsache jedoch, das er nach einem halben Jahr wieder aus dem Koma erwacht ist, konnte ihm niemand so recht erklären und um ehrlich zu sein, es interessierte ihn auch nicht mehr wieso…
Rechts…Hier muss ich rechts…
Dachte er und seine Beine befolgten den Befehl blind, führten ihn nach rechts, entlang an der Fassade des kleinen Häuschens, etwas tiefer in den Garten, bis er stehen blieb.

„Hallo, hier bin ich!“

Flüsterte er, als sein Blick auf die drei marmornen Steine viel, die wie Zähne aus der Erde klafften.

La Cipolla
14.02.2009, 06:23
Toll! Ich dachte die ganze Zeit über "Wenn er tot ist, solltest du das nicht am Anfang erwähnen", aber ja, das Ende hat mich dann doch überrascht. ;)
Im Normalfall würde ich eventuell die ganzen Namen oder auch die Länge ankreiden, aber hier passt beides einfach mal zum Inhalt. Man könnte höchstens darüber nachdenken, die letzten beiden Gedankenabschnitte (Um "Noch eine Station." herum) zusammenzufassen, immerhin geht es praktisch um eine sehr ähnliche Thematik, und kürzere Sachen wirken am Ende ja immer besser.

Am Schreibstil hab ich nichts auszusetzen.
Also im Ganzen klasse!

flow
14.02.2009, 10:51
Gänsehaut, hat mir sehr gut gefallen.

Tachchen
14.02.2009, 10:59
Morgen ^^

der Andrang der wartenden menge erschien ihm diesmal so laut.
Das "so" würde ich umändern, es passt nicht mit dem laut und ohne einen Vergleich zusammen. "sehr" würde eher passen.

Ansonsten kann ich nur sagen, dein Text ist echt klasse gemacht. Du hast es sehr schön hinbekommen, Spannung aufzubauen und sowohl nicht zuviel als auch nicht zu wenig hineingepackt.

Alles in allem: dir ist wirklich was sehr schönes gelungen :)

PiqueValet
15.02.2009, 22:26
N'abend erstmal, ^^

@ La Cipolla

Danke dir!
Ja, das mit dem Zusammenfassen habe ich auch schon überlegt aber irgendwie ist es beim Schreiben so aus mir rausgesprudelt, weiß nicht, nachträglich verändern möchte ich es irgendwie nicht mehr, da nehme ich lieber ein paar Macken in Kauf. ^^

@ flow

Schön, freut mich wenn es dir gefallen hat, danke!

@ Tachchen

Stimmt, "sehr" wäre wohl die günstigere Wortwahl gewesen, was aber das Umändern angeht gilt hier das Selbe wie bei La Cipolla, ich weiß nicht warum, ich ändere Dinge die ich geschrieben habe nur sehr ungerne um, lieber versuche ich solche Sachen dann beim nächsten Mal besser zu machen, dementsprechend danke für's drauf Hinweisen.

Und natürlich danke für das Kompliment, ist schön zu lesen. ^^