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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Vom Verreisen und von großem Leid



Mordechaj
19.05.2008, 14:59
Das große Leid des Generals

Der General saß auf seinem Stuhl; – auf seinem Stuhl? Nein, es war eines dieser grässlichen Künstlermöbel aus Eschenholz mit seichten Einschnitzungen geometrischer Formen; Kreise, Trapeze. Und unter ihm ... sein Atem stockte; sechs Dreiecke, die gleich groß waren, immer mit zwei Ecken zwei berührten und im gleichen Abstand von ihm wegzeigten. Das Zeichen brannte wie Feuer in seinen Augen und er röchelte vor Ekel. Röchelte? Sein Mund war zugeklebt, seine Augen verbunden, dennoch sah er sich – sich und die Menschen um ihn her. Menschen? Monster! Diese Wesen mit ihren Fratzen, große hakige Nasen, spitze, von festem Fleisch verdeckte Wangenknochen, dichte Augenbrauen, schwarzes Haar, breite, runde Lippen, diese maskenhafte Kopfform – und schwarze Kutten, Männer wie Frauen. Ekelhaft! Und diese tiefbraunen Augen, diese abscheulichen Blicke: so falsch und dreist zugleich. So fragend und selbstgerecht – Abschaum! Diese stummen Mienen, als schrien sie, als würden sie leiden – Leid, ihr sollt leiden, verdammter Dreck! Ihr sollt ...

Der General wachte schweißgebadet auf. Ohne die leiseste Tunlichkeit sprang er aus dem Bett und floh in sein Arbeitszimmer. Cognac, ein Glas. Es spülte durch seinen Schlund wie heißes Wasser. Noch eins, dann griff er zum Telefon.
— Hier Schreber. Hat sie ausgesagt.
— Nein, Herr General.
— Dann brecht der Zigeuner•••• die Beine, die Polonska wird ihr Maul schon aufreißen. Sie weiß, wo dieser Abschaum von Judenbrut sich verkriecht.
— Ja, Herr General.
— Und sagen Sie den Wärtern bescheid, ich werde in zehn Minuten eintreffen. Ich will zusehen, wie sie bei ihrer schmutzigen Seele darum bettelt, dieses gierige Pack verraten zu dürfen.

Der General trank noch ein Glas guten Cognac, bevor er sich eine Cigarette anzündete und sich den langen, schwarzen Mantel überstreifend das Haus verließ. Sein Mercedes lief schnell warm; und als er ihn direkt hinter dem Eisentor abstellte und der Nieselregen sich auf die Motorhaube setzte, verdampfte das Wasser in hauchdünne Wölkchen.




Die Ayznstains verreisen

Sie kamen am Morgen des 1. Dezember. Drei Männer in Schwarz überbrachten uns die freudige Nachricht: Wir sollten nach Palästina reisen und dort bleiben dürfen. Mameleh und Papa hatten schon immer von dort geredet, jedoch nannten sie es stets Yerushalayim.
— Kumm, stey oyf, wir hob’n veynik tsayt., sagte Mameleh, als die Männer weggegangen waren. Wir hatten fünf Tage um alle unsere Angelegenheiten zu erledigen und unsere Sachen zu packen; je ein kleiner Koffer für uns vier und Papas alter Rucksack standen am vierten Tag im Flur unserer Wohnung.
Esther verstand nicht:
— Ober Mameleh, ikh mog hi nit weg, ikh will bai mayn fraynde blaib’n.
— Zay nit verucht, wir forn morgn in de land dos hot G-tt uns tsuzogt, mayn ketzelakh. Do wirsht noi fraynd finde, do hots a sakh jidishe kinderlakh.
— Meay ober ikh mog hi blaib’n!
Doch es war entschieden. Am 6. Dezember standen wir an einem kleinen abgelegenen Bahnsteig in tiefem Schnee mit tausend anderen, die mit uns ins gelobte Land fahren würden.
Unser Wagon war sehr voll, es gab kaum Platz sich auf den Boden zu kauern oder sich abi vu zu bewegen. Es war dunkel und laut, die ganze Fahrt über. Ich wusste nicht, wo Esther und meine Eltern waren.
In der Nacht hörte ich Menschen weinen.

Drei Tog später wurde ich vom Quietschen der Zugbremsen geweckt und schließlich wurden die Wagonverschläge geöffnet.
Die kalte Winterluft hatte noch nie so frisch und befreiend gerochen. Der Schnee in den wir gestoßen wurden, hatte noch nie so gut geschmekht, so gut den Magen gefüllt. Esthers lebloser Körper wurde auf einen Haufen mit anderen Menschen geworfen. Unsere Koffer auf einen Haufen mit anderen Koffern.
Papa wurde mit anderen Männern und Frauen weggebracht.

Da standen wir, ich und Mameleh, allein mit hundert anderen auf einer Insel zwischen den Schienen.
Wir wussten nicht, wo wir waren, nicht, was geschehen würde. Nur eines war uns klar geworden: Das war nicht das heilige Land, das G-tt uns versprochen hatte. Das war nicht Yerushalayim.
Einer der Molechim kam auf uns zu und stieß Mutter mit einem harten Schlag abermals in den Schnee.



Es ist künstlerisch jetzt nich sooo herausragend, allerdings hatte ich heute Nacht einen kleinen Durchbruch der AuschwitzI/II-Birkenau-Erinnerungen und Irena Sendler ist diesen Monat gestorben, folglich musste ich diesen "Ideenflash" irgendwie verarbeiten. Ich hoffe jedenfalls, es ist trotzdem irgendwie lesenswert.
Das Jiddisch, das nicht in der Wörtlichen Rede steht ist eher Spielerei mit der Authentizität.

DieHeiligeSandale
19.05.2008, 22:04
Vom Stil her schonmal einwandfrei, so viel steht fest.
Interessant finde ich, dass speziell in den Dialogen in jeweils den letzten Absätzen deiner beiden Texte sich in sehr extremer Form die Unterschiede zwischen den Akteuren heraus kritallisieren.
Bei dem ersten Text finde ich, dass dieser Hass, den der General offenbar verspürt, sehr gut rüber kommt. Von "sein Mund war zugeklebt" bis zum Absatz, sehr beeindruckend. Dann auch seine Wortwahl im Dialog, abstoßender und agestoßener geht es wohl kaum.
Im zweiten Text fehlen mir vergleichbare Abschnitte leider. Es kommen irgendwie nicht wirklich Emotionen rüber, lässt mich insgesamt eher kalt. Vielleicht ansatzweise "anrührend" (schlechtes Wort, etwas Besseres fällt mir nur leider gerade nicht ein) ist das Schicksal von Esther, in Hinblick auf den vorhergehenden Dialog.

Nun ja, insgesamt fehlt es mir leider an Emotionalität (kann sein, dass das gewollt ist), Tiefgang und Facetten. Es werden letztendlich zwei altbekannte Klischees erneut vorgestellt.
Positiv aufgefallen sind mir dein Stil und deine Jiddischkenntnisse, die dem Ganzen wirklich zu mehr Authenzität verhelfen.
Du sagst ja selber, künstlerisch ist es nicht wirklich herausragend, und da muss ich dich leider bekräftigen. Dazu ist es leider etwas zu (böses Wort, nicht böse gemeint) plakativ.

Nun ja, aber sicher, den Versuch war's wert, formell gelungen, hapert dann leider an den "inneren Werten".

Mordechaj
20.05.2008, 15:56
Dankeschön für die ausführliche Resonanz =).

Die Punkte, die du angesprochen hast sind sehr einleuchtend und im Nachhinein scheinst du meine Schwächen in dem Thema schon sehr gut identifiziert zu haben =)). Mir gefällt rein inhaltlich die erste auch besser, allein, weil die im Vergleich mehr Tiefe hat, als die andere. Das Plakative rührt wohl auch daher, dass ich mich ziemlich stark auf den Fakt selber beschränkt habe, die Emotionalität fehlt an der Kürze, die wiederum daher schließt, dass ich mich mit dem Thema rein psychisch nicht über einen längeren Zeitraum auseinandersetzen kann. Warum ich den Versuch trotzdem gewagt habe, siehe oben ...
Im Endeffekt fehlt es mir mit eben diesem Thema auch an Erfahrung; krankhaften Hass kann man immer leicht nachzeichnen, aber allein die Information, dass man die Menschen all ihre Sachen hat mitnehmen lassen, um die hernach noch zu verwenden, nimmt mir persönlich irgendwie alles an wirklich steigernden Ansatzpunkten vorweg. Rein interpretatorisch könnte ich mir natürlich das Brecht-Schild vor die Nase halten und sagen: "Hey, es geht um den Ethos der Geschichte, nich um meinen Pathos", allerdings ist es so, wie du gesagt hast, es fehlt einfach; denn der Unbezwingbarkeit des Themas von meiner Seite.

Nunja, jedenfalls komm ich mit deinen Kritikpunkten sehr gut zurecht und vielen Dank nochmal für Lob und Kritik =). 'Plakativ' ist übrigens überhaupt keine so schlechte Beschreibung, ich hab dir da im ersten Moment schon recht gegeben; es war eben nur sonne recht verquere Art von "von der Seele schreiben", das dann an meiner eigenen Verdrängtheit gescheitert ist ;).