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Aurae
18.11.2007, 11:40
Hallo,

ich wollte mal fragen, ob mir jemand sagen kann, wann, gemäß dem deutschen Grundgesetz, Neuwahlen eintreten können. Die einzige Möglichkeit, die ich bisher gefunden habe, ist das konstruktive Misstrauensvotum. Ich suche aber noch mehr, und zusätzlich Anwendungen dieser Möglichkeiten in der deutschen Geschichte.
Wär echt super, wenn mir jemand helfen könnte; danke im Voraus.

Tii-chan
19.11.2007, 18:14
Hab ich mal so gefunden, aber ich glaube das hast du schon x.x:


Konstruktives Mißtrauensvotum und Vertrauensfrage -
ihre Bedeutung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland


Dozent:

Prof. Dr. Bischoff
eingereicht von:
Doreen Bretschneider
Fachbereich 1
Studiengang 1997
Kurs 1106
Berlin, 05.01.1998


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Artikel 67 und 68 des Grundgesetzes
2.1. Historische Grundlagen - die Weimarer Verfassung
2.2. Das konstruktive Mißtrauensvotum - der Artikel 67 GG
2.3. Die Vertrauensfrage - der Artikel 68 GG

3. 1972 - das Jahr der sozialdemokratischen Krise
3.1. Der Mißtrauensantrag gegen Willy Brandt
3.2. Regierung ohne Mehrheit und die Folgen

4. 1982/83 - das Ende der sozial-liberalen Koalition
4.1. Der Konflikt zwischen dem Kanzler und seiner Partei
4.2. Der Bruch der Koalition
4.3. Der Sturz des Kanzlers
4.4. Der Weg zu den Neuwahlen

5. Resümee

Literaturverzeichnis




1. Einleitung

Zur Konkretisierung des Themas werde ich als erstes die verfassungsrechtlichen Grundlagen des konstruktiven Mißtrauensvotums und der Vertrauensfrage, sowie den historischen Hintergrund darlegen. Dann werde ich schildern, wann von der Möglichkeit des konstruktiven Mißtrauensvotums bzw. der Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag Gebrauch gemacht wurde. Im Verlauf dessen werden auch die politischen Hintergründe dafür erörtert. Zum Schluß versuche ich auf die Frage einzugehen, ob sich das konstruktive Mißtrauensvotum und die Vertrauensfrage bewährt haben und werde eigene kritische Wertungen vornehmen.
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2. Die Artikel 67 und 68 des Grundgesetzes

2.1. Historische Grundlagen - die Weimarer Verfassung

In der am 11.08.1919 von der Nationalversammlung der Weimarer Republik verabschiedeten Verfassung war im Art. 54 die Möglichkeit des "destruktiven Mißtrauensvotums" verankert. Das bedeutete, daß das Parlament jedem Minister und dem Bundeskanzler das Mißtrauen aussprechen konnte, wenn sich dafür eine Mehrheit im Parlament fand. In diesem Fall mußten sie zurücktreten. Das Problem dabei bestand darin, daß nicht gleichzeitig ein neue Regierung bzw. ein neuer Kanzler gewählt werden mußte. So fanden sich zu dieser Zeit oft Mehrheiten für den Sturz des Kanzlers, aber keine Mehrheiten für die Wahl eines neuen. Die damit auftretenden Regierungskrisen führten dann zu einer häufigen Anwendung des sog. Notverordnungsrechts seitens des Reichspräsidenten. Das trug zur Diskreditierung der parlamentarischen Demokratie bei. In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurde dadurch das Land nahezu unregierbar.
Um dies zu vermeiden, wurde im Grundgesetz der BRD das konstruktive Mißtrauensvotum verankert.
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2.2. Das konstruktive Mißtrauensvotum - der Artikel 67 GG

Im Art. 67 GG ist festgelegt, daß der Bundestag dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur aussprechen kann, indem der Bundestag mit seiner Mehrheit (nach Art. 121 GG ist damit die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Parlaments gemeint) einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten um Entlassung des Bundeskanzlers ersucht. Dadurch wird ein Kristallationszwang auf die Opposition ausgeübt. Ist die Mehrheit des Parlaments also nicht mehr gewillt, den Kanzler weiterhin zu unterstützen bzw. zu dulden, kann sie auf diese Weise einen neuen Kanzler wählen. Dieser besitzt volle gesetzliche Legalität und demokratische Legitimität. Kommt für die Wahl eines neuen Kanzlers keine Mehrheit zusammen, gilt das konstruktive Mißtrauensvotum als gescheitert.
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2.3. Die Vertrauensfrage - der Artikel 68 GG

Andererseits kann der Kanzler selbst prüfen, ob er noch die Zustimmung der Mehrheit im Parlament besitzt. Dazu sagt der Art. 68 GG, daß, wenn sein Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Mehrheit im Parlament findet, der Kanzler den Bundespräsidenten um Auflösung des Bundestages ersuchen kann. Die Auflösung des Bundestages ist der einzige Weg zu Neuwahlen und kann nur über die Vertrauensfrage erreicht werden. (Die andere Möglichkeit gem. Art. 63 GG ist nicht Gegenstand dieser Hausarbeit und wird deshalb vernachlässigt.)
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3. 1972 - das Jahr der sozialdemokratischen Krise

3.1. Der Mißtrauensantrag gegen Willy Brandt

Die Bundestagswahlen von 1969, bei der die CDU/CSU 46,1 %, die SPD 42,7 % und die FDP 5,8 % der Stimmen erhielt, führten zu einer schwachen Koalition von SPD
und FDP mit nur 12 Stimmen Mehrheit im Parlament. Willy Brandt, der Parteivorsitzende der SPD, wurde neuer Kanzler. In den Fragen der Ostpolitik waren sich beide Parteien einig. Die Koalition versuchte, ein neues Verständigungskonzept zwischen den beiden deutschen Staaten zu erreichen. Die CSU und weite Teile der CDU waren da ganz anderer Ansicht.
Seit 1970 führte die Bundesrepublik mit der DDR Verhandlungen über die gegenseitige Anerkennung. In unseriösen Zeitungen erschienen immer wieder Auszüge aus den geheimen Verhandlungsunterlagen, um die Bundesregierung bloßzustellen und ihr "Verrat" an der eigenen Bevölkerung vorzuwerfen.
Anfang 1972 spitzte sich die Situation zu. Die CDU/CSU-Fraktion des Bundestages war nicht gewillt, den Ostverträgen zuzustimmen. Dabei stand sie aber vor einem Problem: Entweder die Verträge werden durch die Koalition, gegen die Stimmen der Opposition, beschlossen, dann ist es für etwaige Korrekturen seitens der Opposition zu spät; oder die Opposition bringt mit Hilfe der Stimmen von "Abweichlern" aus der Koalition die Verträge zu Fall, dann würde das außenpolitische Ansehen der Bundesrepublik stark darunter leiden. Aus diesem Grund beschloß die CDU-Führung, einen Sturz der Regierung durch einen konstruktiven Mißtrauensantrag gegen Willy Brandt herbeizuführen, um an die Macht zu kommen. Dieses mußte noch vor der Abstimmung über die Ostverträge erfolgen.
Es gab in der Koalition, sowohl in den Reihen der FDP als auch der SPD, mehrere Abgeordnete, die der Ostpolitik ablehnend gegenüberstanden. Einige dieser Abgeordneten traten dann der CDU bei und nahmen ihre Mandate gleich mit. Sie beriefen sich dabei auf Art. 38 GG, wonach sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an keine Partei gebunden sind. Dieses Verhalten stieß in der Öffentlichkeit auf breite Ablehnung, denn die Abgeordneten hatten auf Parteilisten kandidiert und waren dem Programm der Partei verpflichtet. Es gab Hinweise, daß bei einigen Parteiübertritten seitens der CDU finanziell "nachgeholfen" worden war. Dabei wurde ihnen auch vermutlich für die nächste Wahl ein sicherer Listenplatz versprochen. Konkrete Beweise dafür gab es aber nicht.
Durch diese Übertritte wurde die Koalitionsmehrheit immer knapper und für Willy Brandt rückte die Gefahr seines Sturzes immer näher. Als am 23.04.1972 der Abgeordnete Wilhelm Helms seinen Austritt aus der FDP bekanntgab, war das die ent
scheidende Stimme, die der Koalition jetzt fehlte. Das Kräfteverhältnis im Parlament betrug nunmehr 249 Sitze für die Opposition und 247 Sitze für die Koalition. Die Mehrheit von SPD und FDP war gekippt worden. Die CDU/CSU hatte nunmehr rein rechnerisch eine Mehrheit im Bundestag und nutzte die Gelegenheit. Am 24.04.1972 beschloß der CDU-Bundesvorstand, durch ein konstruktives Mißtrauensvotum die Regierung zu stürzen. Als Kanzlerkandidat wurde der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel aufgestellt. Bedenken in den eigenen Reihen gegen diesen Schritt blieben unbeachtet.
Die sowjetische Regierung in Moskau verfolgte diese Entwicklung sehr genau und signalisierte der CDU Gesprächsbereitschaft für Neuverhandlungen über die Ostverträge, falls der Sturz der Regierung gelingen sollte.
Am 25.04.1972 stellte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag einen konstruktiven Mißtrauensantrag gegen Willy Brandt. Die Abstimmung darüber sollte gemäß Art. 67 GG am 27.04.1972 stattfinden.
Die Anteilnahme der Bevölkerung war enorm. Es fanden Warnstreiks und Kundgebungen statt. Ein Generalstreik wurde geplant. Willy Brandt genoß ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit. In einer repräsentativen Meinungsumfrage in Baden-Württemberg Anfang April 1972 hatten sich 64 % der Bevölkerung für die Ostpolitik ausgesprochen. Eine andere Meinungsumfrage ergab sogar 82 %.
Hinter verschlossenen Türen fanden intensive Gespräche mit unentschlossenen Abgeordneten statt. Die CDU/CSU versuchte, FDP-Abgeordnete noch zu überzeugen, dem Mißtrauensantrag zuzustimmen. Die SPD ihrerseits unternahm alles, die Weggelaufenen doch noch umzustimmen. Vermutlich wurden von beiden Seiten Stimmen "gekauft", um das Abstimmungsergebnis jeweils zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Bis zur letzten Minute vor der Abstimmung war sich keiner sicher, wie diese ausgehen würde.
Am 27.04.1972, wenige Momente vor der Abstimmung, hielt der FDP-Vorsitzende und Außenminister Walter Scheel eine beeindruckende Rede, in der es unter anderem hieß: "...Wenn es zur Regel werden sollte, daß Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten durch Parteienwechsel, also ohne Wählervotum, verändert werden, dann stirbt die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie...".
Damit sprach er das Problem der Mandatsmitnahme bei Parteienwechsel der Abgeordneten an, die viele nicht für rechtens hielten, da der Wähler nicht den Abgeordneten persönlich, sondern die Partei gewählt habe. Nicht wenige meinten sogar, daß die Abgeordneten dann das Mandat hätten zurückgeben müssen.
Das Ergebnis der Abstimmung war dann für fast alle überraschend: statt der benötigten und erhofften 249 Stimmen erhielt Barzel nur 247 Stimmen. Woran das lag und welche Abgeordneten der CDU ihm ihre Stimme verweigert hatten, konnte nicht genau festgestellt werden. Offensichtlich waren sich die Abgeordneten der Opposition doch nicht so einig bezüglich der Ostpolitik gewesen, es fehlte an der inneren Geschlossenheit.
Damit war das konstruktive Mißtrauensvotum gegen Brandt gescheitert.
Möglicherweise lag es auch im Interesse der CDU/CSU, nicht die Regierungsmacht zu erlangen, denn da in dem wichtigen Bereich der Ostpolitik offensichtlich Uneinigkeit herrschte, hätte eine neue Regierung vor großen Schwierigkeiten gestanden.
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3.2. Regierung ohne Mehrheit und die Folgen

Die nun folgenden Wochen und Monate waren für die Koalition nicht einfach. Eine Koalitions-Mehrheit im Parlament war praktisch nicht mehr vorhanden. Mehrere Versuche, "Abtrünnige" wieder zurückzugewinnen, schlugen fehl. Als am 28.04.1972 über den Kanzlerhaushalt abgestimmt wurde, trat erstmalig eine Patt-Situation auf; jeweils 247 Abgeordnete sprachen sich dafür bzw. dagegen aus. Auch bei weiteren wichtigen Entscheidungen bemerkte die Koalition schmerzhaft, daß ihr die für eine stabile Regierung notwendige Mehrheit fehlte. Wenigstens die Ostverträge passierten am 17.05.1972 mit knapper Mehrheit den Bundestag.
In dieser Situation dachte die SPD und auch die FDP immer öfter über Neuwahlen nach. Die Koalition wollte klare Mehrheitsverhältnisse herbeiführen.
Bereits vor dem gescheiterten Mißtrauensvotum vom 27.04.1972 hatten sich sowohl Opposition als auch Koalition darüber Gedanken gemacht. Anfang April 1972 war die FDP gegen Neuwahlen gewesen, da sie sich organisatorisch und finanziell nicht in der Lage sah, in einer Wahl anzutreten. Der CDU waren die Bedenken der FDP bekannt und schon allein deshalb wollte sie zu diesem Zeitpunkt Neuwahlen. Sie hoffte, die Stimmen der ehemaligen FDP-Wähler zu erhalten bzw. die FDP unter die 5 %-Hürde zu drücken, damit der SPD der Koalitionspartner fehlt. Deshalb hatte sie versucht, mit Hilfe des konstruktiven Mißtrauensvotums die Regierung zu übernehmen, um dann den Bundestag gemäß Art. 68 GG aufzulösen und Neuwahlen zu arrangieren.
Dieser Schachzug war der CDU nicht geglückt und nun sah die CDU keine Veranlassung mehr, sich in Neuwahlen dem Volk zu stellen. Denn nach ihrem Versuch, den in der Bevölkerung sehr beliebten Kanzler mit nicht ganz einwandfreien Methoden zu stürzen, hatte ihr Ansehen sehr gelitten. Die Partei wollte sich erst neu profilieren und dann zur Wahl stellen.
Aber für die Koalition war die Situation so nicht mehr tragbar. Sie versuchten die CDU davon zu überzeugen, sich ebenfalls für vorgezogenen Neuwahlen auszusprechen. Der stellvertretende Regierungssprecher Rüdiger von Wechmar (FDP) sagte dazu: "...Entweder die lassen uns regieren oder sie stimmen vorgezogenen Neuwahlen zu." Aber die Versuche, mit der Opposition Abmachungen zu treffen, schlugen fehl. Die CDU/CSU wollte die Regierung "auflaufen" lassen, um ihr eigenes Ansehen zu steigern. Sie wollte das Scheitern der Bundesregierung deutlich sichtbar machen, z.B. durch einen Rücktritt des Kanzlers oder durch das Scheitern weiterer wichtiger Entscheidungen, die zeigen, daß die Regierungskoalition nicht die Mehrheit besitzt. Andererseits war aber einigen CDU-Funktionären klar, daß die CDU/CSU eine Mitverantwortung für den weiteren Ablauf der Regierungsgeschäfte trug.
Da die Opposition kein Einlenken zeigte, einigten sich Willy Brandt und Walter Scheel am 24.06.1972 gemeinsam darauf, den Bundestag nach der Sommerpause durch das Stellen der Vertrauensfrage aufzulösen und für November 1972 Neuwahlen anzustreben, da die Patt-Situation im Bundestag zu einem Stillstand der Gesetzgebung führte und die Opposition jegliche konstruktive Mitarbeit versagte.
Am 20.09.1972 stellte Willy Brandt im Bundestag die Vertrauensfrage. Er erhielt, wie erwartet, nur 233 der erforderlichen 249 Stimmen der Abgeordneten. Anschließend begab er sich sofort zum Bundespräsidenten Gustav Heinemann und schlug diesem die Auflösung des Bundestages gemäß Art. 68 GG vor. Noch am selben Tag unterzeichnete dieser, nach Rücksprache mit allen drei Fraktionsvorsitzenden, die Auflösungsanordnung. Als Termin für Neuwahlen wurde der 19.11.1972 festgesetzt.
Der Wahlkampf stand ganz im Zeichen der Außenpolitik. Der sozial-liberalen Koalition war es gelungen, durch mehrere Verträge die Beziehungen zu den wichtigsten osteuropäischen Staaten zu normalisieren. Sie konnte Ergebnisse ihrer Politik vorweisen und versprach gleichzeitig eine Fortsetzung dieser Politik, u.a. durch die Ratifizierung des Grundlagenvertrages mit der DDR. Dies stieß auf breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Da sich die Koalition entschied, dieses Vertragswerk zwar vor der Wahl festzuschreiben und zu veröffentlichen, aber erst nach der Wahl zu unterzeichnen, geriet die Wahl vom 19.11.1972 zu einem Plebiszit über die Ostpolitik.
Der Wahlkampf wurde unter einer noch nie dagewesenen Beteiligung der Bevölkerung geführt. Vor allem die SPD und die FDP, die im Laufe des Wahlkampfes das höchste Maß an Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelten, erfuhren eine enorme Flut von Zustimmungserklärungen aus der Bevölkerung.
Die CDU/CSU führte einen aus Unternehmerkreisen finanzierten und unterstützten Wahlkampf. Großen Teilen der Bevölkerung waren die Versuche, Willy Brandt zu stürzen, in schlechter Erinnerung geblieben.
Der Wahlkampf war außerdem sehr stark auf Willy Brandt und Rainer Barzel als persönliche Vertreter ihrer Parteien fixiert.
Dies alles führte zu einer enormen politischen Mobilisierung. Am 19.11.1972 betrug dann die Wahlbeteiligung 91,1 %, das war die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik. Die SPD erreichte ihr bestes Wahlergebnis seit 1949 und kam auf 45,8 %. Damit war sie erstmalig stärker als die CDU/CSU, die nur
44,9 % erreichte. Auch die FDP hatte sich auf 8,4 % gesteigert.
Damit besaß die Koalition, die wieder aus SPD und FDP bestand, eine herausragende Mehrheit im 7. Deutschen Bundestag von 271 Sitzen gegenüber der CDU/CSU-Fraktion mit nur 225 Sitzen.
Der Versuch der Union, durch Methoden, die viele für unlauter und hinterhältig hielten, und durch Taktieren an die Macht zu gelangen, hatte sie statt dessen ins Abseits katapultiert.
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4. 1982/83 - Das Ende der sozial-liberalen Koalition

4.1. Der Konflikt zwischen dem Kanzler und seiner Partei

Seit den letzten Bundestagswahlen 1980 bildeten SPD und FDP wieder die Regierungskoalition. Die FDP hatte im Wahlkampf auf die SPD/FDP-Koalition gesetzt und mit 7,9 % ein ausgesprochen gutes Wahlergebnis erzielt. Bundeskanzler war seit 1974 Helmut Schmidt (SPD).
Doch in dieser Zeit kam es zu einem Anstieg der Ölpreise, der eine Krise der deutschen Wirtschaft nach sich zog. Die Unternehmer forderten von der Regierung einschneidende Maßnahmen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, u.a. Senkung der Reallöhne, Verzicht auf staatliche Beschäftigungsprogramme zur Senkung der Arbeitslosigkeit und Reduzierung der staatlichen Ausgaben. Die FDP schloß sich dieser Meinung zunehmend an und profilierte sich damit als "Sparpartei". Eine Kritik an den in den letzten Jahren gestiegenen Sozialausgaben war auch in der Bevölkerung weit verbreitet. In der letzten Zeit war die reale Kaufkraft gesunken und die Arbeitslosenzahlen gestiegen; die Schuld dafür wurde vor allem dem Staat und seinen hohen Ausgaben gegeben.
Um die Wirtschaft anzukurbeln, beschloß das Bundeskabinett u.a., die Lohn- und Einkommenssteuer zum 01.01.1984 zu senken, aber die Mehrwertsteuer von 13 auf 14 % zum 01.07.1983 zu erhöhen. Dies stieß in der SPD auf Widerstand, denn nun sollten auch die Kleinverdiener die angebotspolitischen Anreize für die Unternehmer bezahlen.
Der Kanzler hielt diesen Kompromiß mit der FDP für notwendig, aber die SPD-Fraktion war damit nicht einverstanden. Nun griff Helmut Schmidt zu einem ungewöhnlichen Mittel, um die Reihen seiner Fraktion hinter sich zu bringen. Er drohte mit seinem Rücktritt, und zwar nicht seiner Partei, sondern der FDP. Offensichtlich wollte er damit sein wahren Interessen verschleiern, sich vor der SPD als unnachgiebiger
Sozialdemokrat profilieren, der alles versucht, um die Interessen seiner Partei zu vertreten, und die Wut der SPD gegen die FDP lenken. Der Plan ging auf, die SPD war stolz, ihre Forderung nach Entlastung der Kleinverdiener durch das Senken der Lohn- und Einkommenssteuer durchgesetzt zu haben und froh, daß die FDP nicht alle ihre Wünsche, wie z.B. Karenztage, hatte einbringen können.
Aber das war dem Kanzler noch nicht genug. Am 03.02.1982 stellte er im Bundestag die Vertrauensfrage. Das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Vertrauensfrage wirklich mit dem in Art. 68 GG vorgesehenen Ziel gestellt, zu überprüfen, ob der Kanzler noch das Vertrauen des Parlaments besitzt. Helmut Schmidt wollte dabei vor allem feststellen, ob seine eigene Fraktion noch hinter ihm stand. Dabei ging es auch um bestehende Differenzen zwischen ihm und dem Parteivorsitzenden Willy Brandt. Er wollte damit innen- und außenpolitisch sichtbar machen, "...daß ein fester Wille hinter der Regierung steht."
Nach der in Art. 68 GG festgelegten 48-Stunden-Frist kam es zur namentlichen Abstimmung. Helmut Schmidt erhielt mit 269 Stimmen die Zustimmung aller Koalitionsabgeordneten. Aber dieser großer Treue-Beweis für den Kanzler täuschte nicht darüber hinweg, daß die Regierung vor dem Zerfall stand. Ein Kanzler, der sich 1,5 Jahre nach der Wahl dem Votum seiner Partei stellen mußte, befand sich in einer geschwächten Position.
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4.2. Der Bruch der Koalition

Immer öfter zeigte sich, daß FDP und SPD in wichtigen politischen Fragen verschiedener Meinung waren. Als die Bundesregierung im Juni 1982 die Eckdaten für den Bundeshaushalt 1983 beschließen mußte, traten diese Differenzen deutlich hervor. Durch die schwache Konjunktur klaffte im Haushalt ein Milliardenloch. Die Koalitionspartner rauften sich zusammen und einigten sich schließlich auf umfangreiche Streichungs- und Finanzierungsmaßnahmen. So sollte z.B. der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erhöht werden, für gesetzlich Krankenversicherte wurden Leistungen gekürzt und einige Steuervorteile entfielen. Außerdem wurde eine Senkung der Nettokreditaufnahme gegenüber dem Vorjahr vereinbart. Dieser Kompromiß entsprach in vielerlei Hinsicht mehr den Vorstellungen der FDP als denen der SPD.
Dabei war auch festzustellen, daß der Kanzler in vielen Dingen mit der FDP einer Meinung war. Bei den Verhandlungen über den Haushalt hatte sich gezeigt, daß die Regierung grundsätzlich zu Konsens fähig war. Aber die SPD war zu Kompromissen nicht mehr bereit. Wieder hatte Helmut Schmidt das Problem, daß ihm die Rückendeckung seiner Parteifraktion fehlte. In mehreren Fraktionsreden versuchte er, die Partei davon zu überzeugen, sich kompromißfähig zu zeigen. Er begründete seine Zustimmung zu den Haushaltsdaten mit ökonomischer Notwendigkeit.
Auch im Laufe des Jahres 1982 fanden in immer geringeren Abständen Kürzungsaktionen statt. Durch diese Kürzungen von Sozialleistungen handelte der Staat prozyklisch und so wurde die Zunahme die Arbeitslosigkeit sogar noch gefördert. Das brachte der SPD, die eigentlich die soziale Gerechtigkeit hatte wahren wollen und versucht hatte, die Kürzungen zu verhindern, einen Verlust an Wählerpotential. Die Sympathie-Werte für die SPD sanken unter 30 %. Auch die FDP mußte in Meinungsumfragen Stimmenverluste hinnehmen. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß die sozial-liberale Koalition in den nächsten Bundestagswahlen ihre Mehrheit verlieren würde.
Daraufhin beschloß die FDP-Führung, den Koalitionswechsel anzusteuern. Dabei mußte sie behutsam vorgehen, denn bei den Wahlen 1980 hatte sie ihren hohen Stimmenanteil hauptsächlich der Werbung für eine SPD/FDP-Koalition zu verdanken gehabt, und sie wollte nicht noch mehr Anhänger ihrer Partei verlieren.
In Gesprächen zwischen FDP und CDU/CSU wurde man sich schnell einig, die Regierung zu stürzen und eine neue Koalition und damit eine neue Regierung zu bilden. Auch kam man überein, nach der Übernahme der Regierungsmacht alsbaldige Neuwahlen anzustreben. Diese Neuwahlen sollten eine Bestätigung der neuen Regierung darstellen, was zwar nach dem Grundgesetz nicht notwendig war, aber damit wurde dem in der Bevölkerung weit verbreiteten Rechtsempfinden, daß eine solche Regierungsneubildung nur das Volk entscheiden kann, Rechnung getragen. Allerdings gelang es der FDP durchzusetzen, daß diese Neuwahlen nicht schon im Winter 1982, sondern erst im Frühjahr 1983 stattfinden sollten. Der Grund dafür war einleuchtend: Durch den Wechsel des Koalitionspartners würde die FDP in eine tiefe Krise geraten und ihr Wählerpotential verunsichern. Um sich neu zu profilieren und bei der Wahl viele Stimmen, insbesondere die Zweitstimmen der CDU-Wähler zu erhalten, benötigte die FDP noch Zeit.
Aber auch die SPD steuerte im Sommer 1982 offen einen Bruch der Koalition an. Die Differenzen zwischen den Koalitionspartnern waren zu gravierend, eine gütliche Einigung konnte nicht mehr erzielt werden. Man beschimpfte sich gegenseitig in aller Öffentlichkeit. Der Parteivorsitzende Willy Brandt reihte die FDP sogar in die Reihen der SPD-Gegner ein.
Der Kanzler zog aus all dem die Konsequenzen. In einer Regierungserklärung am 09.09.1982 erklärte er dem CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl, daß er von der Vertrauensfrage bzw. von der Möglichkeit eines Rücktritts keinen Gebrauch machen werde. Er forderte ihn statt dessen auf, ein konstruktives Mißtrauensvotum einzubringen, wenn die Opposition an die Macht wolle. Er wies ihn aber sofort darauf hin, daß er sich dann zusätzlich zur gesetzlichen Legalität auch die "historische Legitimität" holen müsse, die ihm nur das Volk in Neuwahlen geben könne. Weiterhin erklärte er, daß er mit einem Minderheitenkabinett nicht regieren werde. Er betonte außerdem, daß die FDP und die Opposition einen klaren Willensentscheid zeigen sollten.
Am 09.09.1982 äußerte sich der Wirtschaftsminister Lambsdorff (FDP) über seine Vorstellungen bezüglich einer fundamentalen wirtschaftlichen Neuorientierung. Dieses Papier stieß sowohl bei der SPD als auch bei der CDU/CSU auf Ablehnung. Der Kanzler warf Lambsdorff vor, mit diesem Papier die Grundlagen der Koalition in Frage zu stellen. Der FDP-Politiker äußerte sich dazu nicht konkret.
Helmut Schmidt wollte jetzt klare Verhältnisse. Mit der SPD-Führung einigte er sich am 15.09.1982 darauf, der Opposition Neuwahlen vorzuschlagen und die vier FDP-Minister zu entlassen. Der Kanzler hoffte, daß die Opposition sich nicht dem Druck der Öffentlichkeit würde entziehen können. Denn die Erfahrungen von 1972 hatten gezeigt, daß ein nicht plebiszitär begründeter Regierungswechsel vom Volk fast wie ein Staatsstreich empfunden wurde.
Am 17.09.1982, noch bevor Helmut Schmidt im Bundestag die Entlassung der FDP-Minister erklären konnte, traten diese selbst zurück. In seiner anschließenden Rede im Parlament gab der Kanzler den Rücktritt der Minister bekannt und setzte auf deren Posten sozialdemokratische Regierungsmitglieder. Dann schlug er Opposition und FDP Neuwahlen vor. Er wußte, daß die Bevölkerung einen Wechsel der Regierung nur akzeptieren würde, wenn sie selbst in Neuwahlen darüber entscheiden könnte. Wären Opposition und FDP auf sein Angebot eingegangen, hätte das dem Ansehen des Parlaments und der Regierung genutzt.
Aber beide Fraktionen hatten sich offensichtlich abgesprochen und lehnten dieses Angebot ab. Sie forderten den Kanzler statt dessen auf, die Vertrauensfrage zu stellen. Sie wollten erreichen, daß er dann keine Mehrheit im Parlament finden würde und damit der Bundestag aufgelöst werden kann.

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4.3. Der Sturz des Kanzlers

Zwischen der CDU/CSU und der FDP fanden nun Koalitonsverhandlungen statt. Dabei gab vor allem der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl zu verstehen, daß er auf die Liberalen baue und eine stabile Mehrheit auf Dauer nur im Bündnis mit der FDP gewährleistet sehe. Die Opposition wollte nun endlich an die Macht. Da der Kanzler von sich aus keine Schritte unternahm, ihnen die Regierungsmacht zu überlassen, beschloß der CDU-Bundesvorstand am 20.09.1982, gegen Helmut Schmidt ein konstruktives Mißtrauensvotum einzubringen und nominierte Helmut Kohl als Kanzlerkandidaten. Als Termin für den Mißtrauensantrag wurde in der ersten Koalitionsrunde zwischen FDP und der Union der 01.10.1982 und als Zeitpunkt für die anzustrebenden Neuwahlen Frühjahr 1983 vereinbart. Die CSU stemmte sich zwar gegen eine Zusammenarbeit mit der FDP, aber die Hoffnung der SPD, daß dadurch vielleicht die neue Koalition scheitern würde, erfüllte sich nicht. Auch daß viele Parteimitglieder die FDP verließen, in den eigenen Reihen nicht wenige Gegner der neuen Koalition vorhanden waren und die Bevölkerung den Koalitionswechsel als Verrat empfand, ließ die FDP-Führung unbeeindruckt.
Am Abend des 28.09.1982 brachten die Fraktionen der FDP und CDU/CSU den konstruktiven Mißtrauensantrag gemäß Art. 67 GG im Bundestag ein. Nach Ablauf der 48-Stunden-Frist, am 01.10.1982, stimmten die Abgeordneten über diesen Antrag ab. Vorher gab es im Parlament heftige Debatten darüber, ob es vor dem Volk zu vertreten sei, eine neue Regierung allein durch Abstimmung im Parlament zu bilden. Bei der nun folgenden namentlichen Abstimmung erhielt Helmut Kohl 256 Stimmen, das waren 7 mehr als erforderlich. Damit war der CDU-Vorsitzende vom Bundestag als neuer Kanzler gewählt worden. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bildeten gemeinsam die neue Regierungskoalition.
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4.4. Der Weg zu den Neuwahlen

Gemäß Art. 67 GG besaß der neue Kanzler die volle verfassungsrechtliche Legalität und damit auch demokratische Legitimität, d.h. es bedurfte keines weiteren Verfahrens, um diese Regierung zu bestätigen. Die Bevölkerung war aber, wie bereits erwähnt, ganz anderer Ansicht. Die Bildung einer neuen Regierung benötigte danach einer plebiszitär-demokratischen Rechtfertigung.
Da die neue Regierung außerdem dem Volk Neuwahlen versprochen hatte, mußte sie jetzt auch dafür sorgen, daß dieses Versprechen eingehalten wurde. Neuwahlen schienen allein schon deshalb gerechtfertigt, weil die FDP-Wähler 1980 ihre Stimme der FDP für eine sozial-liberale Koalition, und nicht für eine christlich-liberale Koalition erteilt hatten. Da die FDP nun ihren Koalitionspartner gewechselt hatte, mußte sie ihre Wähler fragen, ob diese damit einverstanden waren.
Voraussetzung für Neuwahlen war die Auflösung des Bundestages. Der einzige Weg dahin, in dieser Situation, führte über die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG.
Helmut Kohl einigte sich mit den Koalitionsfraktionen dahingehend, daß er die Vertrauensfrage im Parlament stellen würde und die Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP an der Abstimmung nicht teilnehmen sollten. Dieses Verhalten stieß auf Kritik, denn hier sollte die Vertrauensfrage mit dem konkreten Ziel gestellt werden, dem Bundeskanzler nicht das Vertrauen auszusprechen. Dies widersprach dem Gedanken des Art. 68 GG.
Diese Argumentation jedoch hielt die Koalition nicht davon ab, am 17.12.1982 im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Wie vereinbart enthielt sich die Mehrheit der CDU/CSU und FDP-Abgeordneten der Stimme, die SPD sprach dem Kanzler ihr Mißtrauen aus. Nun ersuchte der Kanzler Bundespräsidenten Carstens, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen.
Am 07.01.1983 erklärte der Bundespräsident das Parlament für aufgelöst und ordnete für den 06.03.1983 Neuwahlen an. In seiner Begründung erklärte er, daß ihm diese Entscheidung nicht leicht gefallen sei. Er stellte darin auch fest, daß es nach dem Grundgesetz nur zwei Möglichkeiten für Neuwahlen gäbe. Die eine Möglichkeit wäre ein Rücktritt des Kanzlers. Das hätte sich aber als sehr kompliziert herausstellen können, denn es hätten u.U. erst mehrere Wahlgänge zur Wahl eines neuen Kanzlers stattfinden müssen. Erst wenn bei keinem Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht worden wäre, hätte der Bundespräsident das Parlament auflösen können.
Die andere Möglichkeit sei die Vertrauensfrage. Da durch die negativ beantwortete Vertrauensfrage vom 17.12.1982 die Voraussetzungen des Art. 68 GG erfüllt gewesen seien, gab es keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gewünschte Auflösung. Außerdem hatten sich alle Parteien übereinstimmend für Neuwahlen ausgesprochen.
Bei den Bundestagswahlen vom 06.03.1983 wurde die neue Koalition bestätigt. Die CDU/CSU erhielt 48,8 %, ihr höchstes Wahlergebnis seit 1957, die FDP 6,9 % und die SPD nur 38,2 % der Stimmen.
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5. Resümee

Als die Verfassungsväter das konstruktive Mißtrauensvotum und die Vertrauensfrage im Grundgesetz verankerten, wollten sie dadurch die Fehler der Weimarer Republik verhindern. Durch das konstruktive Mißtrauensvotum kann der alte Kanzler nur entlassen werden, wenn gleichzeitig ein neuer gewählt wird. Somit kann das Problem eines Parlaments ohne Kanzler bzw. Regierung nicht mehr auftreten.
Das Selbstauflösungsrecht des Parlaments, in der Weimarer Verfassung verankert, wurde in das Grundgesetz nicht mehr aufgenommen. Damit sollte vermeiden werden, daß, solange eine regierungsfähige Mehrheit vorhanden ist, sich der Bundestag auflöst.
Der Bundespräsident hat nur noch in zwei Fällen das Recht, den Bundestag aufzulösen. Entweder bei der Wahl eines Bundeskanzlers findet sich auch nach dem dritten Wahlgang keine Mehrheit (Art. 63 GG), oder die vom Kanzler gestellte Vertrauensfrage wird negativ beantwortet und dieser schlägt dem Bundespräsidenten die Auflösung des Parlaments vor. Das in der Weimarer Verfassung verankerte Recht des Reichspräsidenten, den Reichstag jederzeit aufzulösen, war Anfang 1933 durch den damaligen Reichspräsidenten Hitler mißbraucht worden; der Reichstag wurde aufgelöst. Deshalb wurde diese Möglichkeit in das Grundgesetz nicht mehr aufgenommen.
Als Willy Brandt am 20.09.1972 die Vertrauensfrage stellte, hoffte er, nicht die Mehrheit im Parlament zu erhalten, um so eine Auflösung des Bundestages und damit Neuwahlen zu ermöglichen. Das Grundgesetz ließ ihm keinen anderen Weg.
Auch als Helmut Kohl am 17.12.1982 die Vertrauensfrage stellte, war es das Ziel, daß ihm das Vertrauen nicht ausgesprochen wird, um die versprochenen Neuwahlen herbeizuführen. Hier war das Ganze sogar abgesprochen, was die freie Entscheidungsmöglichkeit der Abgeordneten gem. Art. 38 GG erheblich eingeschränkt hat.

Der Sinn des Art. 68 GG ist es aber eigentlich, zu überprüfen, ob noch eine Mehrheit hinter dem Kanzler steht. Er sollte diesen Weg nur beschreiten, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren.

Als Helmut Kohl nun die erforderliche Mehrheit nicht erhalten hatte, riefen mehrere Abgeordnete, die mit dieser Vorgehensweise nicht einverstanden waren, gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG das Bundesverfassungsgericht an. Das Hauptargument war, daß schon im Herbst 1982 Neuwahlen möglich gewesen wären.
In seiner Entscheidung vom 16.02.1983 (BVerfGE 62) legte das BVerfG folgendes fest:

Ein über ein konstruktives Mißtrauensvotum gewählter Kanzler benötige nicht neben der verfassungsmäßigen Legalität eine durch Neuwahlen vermittelte Legitimität.
Die Handlungsfähigkeit des Kanzlers müsse durch eine fehlende Mehrheit so beeinträchtigt werden, daß er eine sinnvolle Politik nicht mehr zu verfolgen vermag.
Aufgrund der schwierigen Situation, in der sich die FDP nach dem Ende der bisherigen Koalition befand, konnte Helmut Kohl davon ausgehen, daß eine stabile Mehrheit im Parlament nicht dauerhaft zu erreichen war.
Dadurch meldete das BVerfG zwar Bedenken an, hielt die Vorgehensweise im Grunde aber für richtig.
Die Entwicklung seit 1949 hat gezeigt, daß die vom Grundgesetz vorgesehene Möglichkeit der repräsentativ-demokratischen Regierungsbildung durch das konstruktive Mißtrauensvotum nicht mehr zeitgemäß ist. Es besteht ein gravierender Unterschied zwischen Verfassungstext und Wirklichkeit. Die Parteien können es sich nicht mehr leisten, eine neue Regierung zu bilden, ohne das Volk darüber abstimmen zu lassen.
Daß der Bundestag kein Selbstauflösungsrecht hat, hat ihn jedoch nicht daran gehindert, es trotzdem zu tun. Er mußte dazu nur einen Umweg über Art. 68 GG gehen und die Fraktionen mußten sich untereinander absprechen. Das sollte aber nicht der Sinn der ganzen Sache sein. Vielleicht sollte man über die Möglichkeit, das Selbstauflösungsrecht des Parlaments in das Grundgesetz aufzunehmen, nachdenken. Andererseits könnte es dann aber dazu kommen, daß die Parteien bei einem unklaren Mehrheitsverhältnis im Parlament Zuflucht in der Selbstauflösung suchen.
Konstruktives Mißtrauensvotum und Vertrauensfrage haben einen großen Einfluß auf die bisherige Politik in der Geschichte der Bundesrepublik gehabt. Ihren Sinn haben sie erfüllt; ob die Art der Anwendung immer rechtens war, ist diskussionswürdig.
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Literaturverzeichnis:
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