Trial
11.11.2007, 09:25
Die Insel im Sturm
Es gab da mal eine Insel, die sich tief im Ozean befand, an dem Punkt, der von allen Küsten am weitesten entfernt lag. Sie lag im Auge eines immer währenden Sturms und obgleich auf der Insel selbst meistens Windstille herrschte, so konnte man am Horizont doch leicht jenen finsteren Wall aus Unwetter und Sturm erkennen, der das Erreichen dieser Insel unmöglich machte.
Auf dieser Insel gab es ein kleines Dorf, von dem keiner seiner Bewohner so recht wusste, wie dieses Dorf auf diese Insel kam und seit wann es schon dort stand. Es interessierte sie auch nicht sonderlich. Sie führten auf der Insel ein friedliches und ruhiges Leben, nur gelegentlich zog ein Teil des Sturmes über die Insel und bewässerte so die Felder, welche das ganze Jahr über reiche Ernten einbrachten. Keiner der Bewohner musste Hunger leiden und die Arbeit hielt sich stets in Grenzen, stattdessen verbrachten die Leute ihre Zeit lieber damit, rauschende Feste zu feiern oder sich einfach faul in die Sonne zu legen. „Hier ist das Paradies!“ pflegten sie stets zu sagen und damit hatten sie wohl auch recht.
Ab und an spülten die Wellen auch Treibgut an den Strand der Insel, der die Bewohner daran erinnerte, dass es auch eine Welt außerhalb ihrer Insel geben musste. Meistens waren das Planken von Schiffen, abgebrochene Teile von Masten oder gerissene Schiffstaue, die von der Größe der Schiffe zeugten, die dort draußen auf dem Meer fahren mussten. Die Fischer der Insel sahen dies als eine Warnung, nicht zu weit auf das Meer hinauszufahren, denn wenn schon so gewaltige Schiffe von dem immer währenden Sturm ohne Probleme zerrissen werden konnten, hatten sie mit ihren kleinen Booten erst recht keine Möglichkeit, gegen den Sturm anzusegeln. „Aber was wollen wir auch hier weg?“ sagten sie dann. „Hier ist doch das Paradies!“
Manchmal lagen auch andere Sachen unter dem Treibgut. Bücher, die von fernen Ländern erzählten. Waffen, deren Machart den Dorfbewohnern einen Schauer über den Rücken laufen lies. Nicht selten vermochte man sogar einen leblosen Körper auszumachen, der auf der Wasseroberfläche trieb. Dann schickte man die Kinder weg und betrauerte gemeinsam das Schicksal des Fremden, dessen Reise ihn das Leben gekostet hatte.
„Sie sind wahrlich bedauerlich!“ sprach der Dorfälteste einmal. „Ihre Waffen zeugen von dem, was auch in ihren Büchern steht und sie erzählen nur von Krieg und Verderben, die dort hinter dem Sturm und dem Horizont auf einen warten.“
Die Dorfbewohner sahen einander entsetzt an, konnten sie sich doch nicht vorstellen, was Menschen zu solchen Grausamkeiten verleiten könnte. Seit sie denken konnten, gab es auf ihrer Insel noch nicht einmal einen heftigen Streit. Es herrschte Friede.
„Was wollen wir hier auch weg?“ fragten sie dann aus einem Mund. „Hier ist doch das Paradies!“
Und damit hatten sie wahrhaft recht.
Es war an einem der wenigen stürmischeren Abende, als sich die meisten Dorfbewohner im Inneren der Schenke versammelt hatten und dem Sturm vor dem Fenster zusahen. Draußen klopfte der Regen an die Scheiben, der Wind fegte lautstark über den Dorfplatz und mit einem lauten Donnern erhellte so mancher Blitz den nächtlichen Himmel. Doch die Dorfbewohner waren bereits an dieses Spektakel gewöhnt und sahen ihm gelassen von der warmen Schenke aus zu. Da öffnete sich mit einem Male die Tür und ein kleiner Junge stürzte in den Raum. Noch bevor sie ihn fragen konnten, warum er sich bei diesem Wetter draußen herum trieb, rief er laut „Schnell, kommt schnell! Im Hafen ist ein Boot angekommen, in dem ein Fremder sitzt!“
Die Dorfbewohner stürzten sofort ins Freie und rannten die lange Straße hinunter zum Hafen. Sie rechneten damit, einem gewaltigen Schiff gegenüberzustehen, das diesem Sturm getrotzt haben konnte, doch zu ihrer Überraschung fanden sie nur ein kleines Ruderboot, welchem der Sturm so zugesetzt hatte, dass es an ein Wunder grenzte, das dieses Boot überhaupt noch auf dem Wasser trieb. Im Boot hatte sich ein Mann zusammen gekauert, halb bewusstlos und von seiner Reise mehr als gezeichnet. Sein Gesicht zeigte tiefe Furchen und ein unbändiger Bart zeugte von der Länge seiner Reise. Von seiner Kleidung waren nur noch zerrissene Lumpen übrig geblieben.
Sofort halfen ihm die Dorfbewohner aus seinem Boot, wickelten ihn in eine Decke und trugen ihn mit sich zur Schenke.
Sie setzten ihn in einen bequemen Sessel vor dem Kamin, reichten ihm einen Becher mit Honigwein und gaben ihm eine Schüssel mit warmer Suppe. Begierig aß der Fremde auf und allmählich kehrten seine Lebensgeister wieder in ihn zurück.
„Wo kommt ihr her?“ unterbrach nun endlich einer der Dorfbewohner das Schweigen.
„Von weit, weit weg.“ antwortete der Fremde zögernd aber doch gefasst. „Ich komme aus einem Land, das auf der anderen Seite des Ozeans und dieses Sturmes liegt. In meinem Land herrscht seit langer Zeit Krieg und als ich von jemanden hörte, dass es inmitten des Ozeans eine Insel geben soll, auf der man das Paradies finden kann, tat ich mich mit einigen anderen zusammen um diesen Ort zu finden.“
„Ihr habt diesen Ort gefunden.“ bestätigte ihn der Älteste umgehend. „Doch sagt, was wurde aus den Anderen?“
„Wir segelten mit einem gewaltigem Schiff los, eines der Größten, welches die sieben Meere je gesehen haben. Wir segelten sehr lange, doch dann kamen wir in den Sturm. Am Anfang war alles noch kein Problem, doch je tiefer wir in den Sturm segelten, desto schwieriger wurde das Weiterkommen. Die Wellen prügelten unbarmherzig gegen unseren Rumpf und bald schon riss unser Mast. Wir hätten umkehren sollen, als wir noch die Möglichkeit hatten, aber...“
Er seufzte und zögerte einen langen Moment. „Das Schiff ging unter und ich konnte mich gerade noch so in einem der Rettungsboote in Sicherheit bringen. Doch nun trieb ich alleine und ohne Vorräte durch den Sturm, viele Jahre lang.“
„Viele Jahre lang, sagt ihr?“ unterbrach ihn einer der Dorfbewohner. „Aber wie kann das sein, ohne Vorräte und nur mit diesem kleinen Boot?“
„Am Anfang dachte ich auch, dass ich meinen sicheren Tod nur hinausgezögert hätte. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, mich in die Fluten zu stürzen und so vielleicht einen schnelleren Tod zu finden.“ antwortete der Fremde. „Doch ich entschloss mich aus irgendeinem Grund dazu, zu kämpfen und es wenigstens zu versuchen, weiterzukommen. Ich wollte nicht einfach so aufgeben, nach alledem, was ich für diese Reise geopfert habe. Und ich lernte allmählich, mit dem Sturm zu leben.“
Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher, ehe er fortfuhr. „Ihr müsst wissen, dass der Sturm nicht immer gleich stark wütet. Mal ist er stärker, mal ist er schwächer. Ich erkannte schnell, wie man die Wolken zu deuten hatte, um so die Stellen zu vermeiden, an denen er wütet und stattdessen die Stellen zu finden, an denen es regnet. Ich trank vom Regenwasser und bin so nicht verdurstet, auch wenn es manchmal Tage dauern konnte, ehe wieder ein starker Regen fiel. Ich war am Anfang oft entkräftet.“
„Aber irgendetwas müsst ihr doch auch gegessen haben!“
„Fisch. Roher, ekelhafter Fisch. Das größte Problem war es erstmal, diesen Fisch zu fangen, doch ich fand bald einige Wege, mit denen das möglich war und schulte mein Auge darauf, möglichst vielversprechende Fischgründe schon aus großer Entfernung auszumachen. Manchmal lies es sich dabei nicht vermeiden, tiefer in den Sturm zu segeln, doch ich trotzte dem Seegang mit aller Kraft, die ich noch in mir hatte.“
„Und wie ist es überhaupt möglich mit so einem kleinen Boot diesem Sturm zu trotzen, wenn doch schon so viele Galeonen von ihm bereits zerrissen wurden?“
Der Fremde musste fast schon ein wenig lachen, als er diese Frage hörte. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber es ist überhaupt nur mit einem so kleinem Boot möglich, den Sturm zu überstehen. Ein großes und stolzes Schiff wird von allen Seiten von den Wellen zerrissen, aber dieses kleine, unscheinbare Boot wurde von ihnen in einem Stück gelassen, da es als Ganzes vom Seegang erfasst wird. Es hat mich zwar oft meine letzte Kraft gekostet, mich auch nur irgendwie noch an dieses kleine Boot zu klammern und der Sturm warf mich umher, als ob ich ein Nichts wäre, aber ich habe trotzdem bis zu diesem Tag überlebt und dem Sturm samt all seinen Wellen getrotzt.“
„Nun denn, mein Freund!“ erhob der Älteste nun das Wort. „Du bist womöglich der Erste, der es geschafft hat, diesem Sturm zu trotzen und hast eine wahrhaft unglaubliche, schwierige und lange Reise hinter dir. Aber nun bist du endlich an deinem Ziel angekommen! Ich heiße dich hiermit als Teil unserer Gemeinschaft willkommen. Ruhe dich aus und erhole dich gut, wir haben für dich ein leeres Haus in das du ziehen kannst.“
Der Fremde erholte sich sehr schnell wieder von den Strapazen seiner langen Reise und schon am nächsten Morgen sah man ihm kaum noch an, was er alles durchgemacht hatte. Die Dorfbewohner nahmen ihn sofort als einen der Ihren auf und das Haus, welches man ihm gab, hätte man mit Fug und Recht auch Palast nennen können.
Am Anfang war der Fremde unsagbar glücklich darüber, endlich an diesem Ort angekommen zu sein und genoss das Leben in vollen Zügen. Bei den rauschenden Festen vergaß er schnell die Strapazen, die er auf sich nehmen musste um an diesen Ort zu gelangen und an sonnigen Tagen konnte man ihn frohen Mutes die Hauptstraße entlanggehen sehen. Es war alles schöner, als er es sich je hätte träumen lassen können.
Doch nach einiger Zeit – die einen sagten, es wären ein paar Wochen gewesen, die anderen meinten, es wäre erst nach einem Jahr passiert – begann er sich zu verändern. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken und als ihn jemand durch Zufall darauf ansprach meinte er nur, dass er irgendetwas vermisste, jedoch nicht wusste, was es ist.
„Was kannst du schon vermissen, Freund?“ sagte der andere daraufhin. „Dort draußen ist nur der Sturm, in dem du jeden Tag um dein Überleben kämpfen musstest, doch hier ist das Paradies, wo du alles hast, was du dir je gewünscht hast.“
„Das stimmt.“ sagte der Fremde wehmütig, während er allmählich zu verstehen begann, was die ganze Zeit an seiner Seele nagte. „Und ich glaube, das genau das das Problem ist.“
Nach diesem Abend zog er sich zunehmend zurück und sein Verhalten bereitete den Leuten im Dorf Kopfzerbrechen.
„Er geht ständig in den Hafen und repariert sein Boot.“ meinte da einer der Fischer. „Ich frage mich ohnehin, warum er dieses Stück Holz nicht gleich versenkt hat. Warum gibt er sich jetzt die Mühe, es wieder seetüchtig zu bekommen?“
„Wahrscheinlich verbindet er mit diesem Boot einfach nur sehr viele Erinnerungen.“ beruhigte ihn der Dorfälteste. „Lass ihn daran arbeiten, nur so kann er mit dem, was geschehen ist, abschließen.“
„Wenn der Sturm über unsere Insel fegt, stellt er sich an die Klippen und blickt auf das Meer hinaus.“ warf nun ein Anderer ein. „Was, wenn er sich von den Klippen werfen will?“
„Ich bitte euch!“ beruhigte sie der Dorfälteste mit zuversichtlicher Stimme. „Welchen Grund sollte er schon haben, so etwas zu tun?“
Aus einem unerfindlichen Grund beunruhigte es sie es jedoch zutiefst, dass sie auf diese Frage keine schlüssige Antwort fanden.
Es war an einem jener stürmischen Abende, genau wie dem, an welchem der Fremde angekommen war. Wieder einmal hatten sich die meisten Dorfbewohner in der Schänke versammelt und sahen bei einem Becher Honigwein dem Sturm zu, der sich vor dem Fenster abspielte.
Da öffnete sich die Türe und ebenso wie an jenem Abend kam der kleine Junge in die Schenke gestürmt, doch dieses Mal war das Entsetzen in seinem Blick nicht mehr in Worte zu fassen. „Schnell, kommt alle zum Hafen, schnell!“ schrie er in den Raum hinein. „Der Fremde will ablegen!“
Sie rannten, so schnell sie es nur konnten, in Richtung des Hafens. Dort konnten sie den Fremden sehen, der gerade dabei war, in sein kleines wackliges Boot zu steigen, ohne Vorräte und mit nichts weiter ausgestattet, als mit seinen beiden Rudern.
„Haltet ein, Freund!“ rief ihm der Dorfälteste zu, sobald er es geschafft hatte, in Rufweite zu gelangen. „Wenn ihr wieder in diesen Sturm hinausfährt, findet ihr vielleicht nie wieder zurück!“
„Das nehme ich gerne in Kauf.“ antwortete der Fremde nur bestimmt, aber kühl. „Ich danke euch von ganzem Herzen für alles, was ihr für mich getan habt, aber für mich ist nun der Zeitpunkt gekommen um von euch Abschied zu nehmen, wahrscheinlich sogar für immer.“
„Aber da draußen erwartet euch nur der sichere Tod!“ rief jemand aus der Menge.
„Das dachte ich auch, ehe ich hier ankam. Was dort draußen wirklich auf mich wartet, kann niemand genau sagen, aber es geht mir auch nicht darum, irgendwo anzukommen. Ich möchte nur wieder zurück in den Sturm.“
Die Dorfbewohner sahen ihn entsetzt an. Nie war er ihnen so fremd gewesen wie in diesem Moment. „Aber...“ stotterte der kleine Junge „Aber das hier ist doch das Paradies!“
Der Fremde beugte sich zu ihm herab und blickte ihn fest an. „Du bist noch jung und als ich los gesegelt bin, war ich vielleicht gar nicht mal so viel älter als du. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir und wirst auf dieser Insel in Freude groß werden, ein zufriedenes Leben führen und glücklich sterben, weil du nichts anderes kennst, aber ich...“
Er war einen Moment lang still. Dann trat er an die Kaimauer heran und drehte sich zu den Dorfbewohnern um. Sein Blick war so fest und von solcher Überzeugung, das sogar der Sturm der um sie alle tobte für diesen einen Moment in Vergessenheit geriet. Seine kraftvolle Stimme war das einzige, was sie jetzt noch bewusst wahrnahmen.
„Ich habe fast mein ganzes Leben damit verbracht, auf diesem Ozean zu treiben und diesem Sturm zu trotzen! Mehr als einmal habe ich mit dem Tode gerungen, war am Ende meiner Kräfte angelangt und hilflos den mächtigen Wellen ausgesetzt. Aber ich habe trotzdem gekämpft! Ich habe mit allem, was mir noch geblieben ist gekämpft und diesem Sturm bis zum letzten Augenblick getrotzt, ganz einfach weil ich leben wollte. Und das habe ich getan! Ich habe niemals aufgegeben, obwohl es unmöglich war, diesen Kampf zu gewinnen. Doch ich habe ihn gewonnen und ich bin trotz aller Macht, mit der sich dieser Sturm mir entgegengestellt hat, an meinem Ziel angekommen. Ich bin da, wo ich immer hin wollte. Ich bin der Einzige, der das bisher geschafft hat.“
Er stieg in das kleine Boot, das schon jetzt von den Wellen stark auf und ab geworfen wurde. Trotzdem blieb er aufrecht stehen.
„Doch nun, wo ich wirklich alles habe, was ich je haben wollte, nun wo ich endlich meinen lang ersehnten Frieden gefunden habe, merke ich, wie sehr mir der aussichtslose Kampf gegen den Sturm eigentlich fehlt. Ich weiß, dass es mich alles kosten wird, was ich habe, wenn ich nochmal in diesen Sturm hinaus fahre. Ja, wahrscheinlich wird es mich sogar mein Leben kosten.“
Endlich setzte er sich hin und lies die Ruder zu Wasser. Die Dorfbewohner konnten nichts anderes tun, als ihm dabei zuzusehen, wie er aufs offene Meer hinaus ruderte und ihnen seine allerletzten Worte zu rief, die ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben sollten.
„Aber mein Leben war schon immer der Kampf gegen diesen Sturm. Und solange ich gegen ihn kämpfe, lebe ich!“
Er kam nicht wieder zurück und auch kein anderer kam an seiner Stelle. Nur das Treibgut, das auch weiterhin an der Küste angeschwemmt wurde, zeugte davon, dass es noch andere außer ihm geben musste, die gegen den Sturm kämpften. Erfolg hatte jedoch keiner von ihnen, denn es kam niemand Weiteres auf der Insel an. Allmählich waren sie sich einig, dass er nie zurückkommen würde und wahrscheinlich schon längst in dem Sturm untergegangen war, dem er sein Leben lang trotzen wollte.
Doch wann immer einer jener Abende kam, an dem Unwetter über die Insel hereinbrachen, der Sturm durch die Straßen fegte und der Himmel seine Schleusen öffnete, dann verließen die Dorfbewohner ihre Häuser und sie begaben sich auf die Klippen um Ausschau nach einem kleinen Boot zu halten, welches Kurs auf die Insel hielt.
Es gab da mal eine Insel, die sich tief im Ozean befand, an dem Punkt, der von allen Küsten am weitesten entfernt lag. Sie lag im Auge eines immer währenden Sturms und obgleich auf der Insel selbst meistens Windstille herrschte, so konnte man am Horizont doch leicht jenen finsteren Wall aus Unwetter und Sturm erkennen, der das Erreichen dieser Insel unmöglich machte.
Auf dieser Insel gab es ein kleines Dorf, von dem keiner seiner Bewohner so recht wusste, wie dieses Dorf auf diese Insel kam und seit wann es schon dort stand. Es interessierte sie auch nicht sonderlich. Sie führten auf der Insel ein friedliches und ruhiges Leben, nur gelegentlich zog ein Teil des Sturmes über die Insel und bewässerte so die Felder, welche das ganze Jahr über reiche Ernten einbrachten. Keiner der Bewohner musste Hunger leiden und die Arbeit hielt sich stets in Grenzen, stattdessen verbrachten die Leute ihre Zeit lieber damit, rauschende Feste zu feiern oder sich einfach faul in die Sonne zu legen. „Hier ist das Paradies!“ pflegten sie stets zu sagen und damit hatten sie wohl auch recht.
Ab und an spülten die Wellen auch Treibgut an den Strand der Insel, der die Bewohner daran erinnerte, dass es auch eine Welt außerhalb ihrer Insel geben musste. Meistens waren das Planken von Schiffen, abgebrochene Teile von Masten oder gerissene Schiffstaue, die von der Größe der Schiffe zeugten, die dort draußen auf dem Meer fahren mussten. Die Fischer der Insel sahen dies als eine Warnung, nicht zu weit auf das Meer hinauszufahren, denn wenn schon so gewaltige Schiffe von dem immer währenden Sturm ohne Probleme zerrissen werden konnten, hatten sie mit ihren kleinen Booten erst recht keine Möglichkeit, gegen den Sturm anzusegeln. „Aber was wollen wir auch hier weg?“ sagten sie dann. „Hier ist doch das Paradies!“
Manchmal lagen auch andere Sachen unter dem Treibgut. Bücher, die von fernen Ländern erzählten. Waffen, deren Machart den Dorfbewohnern einen Schauer über den Rücken laufen lies. Nicht selten vermochte man sogar einen leblosen Körper auszumachen, der auf der Wasseroberfläche trieb. Dann schickte man die Kinder weg und betrauerte gemeinsam das Schicksal des Fremden, dessen Reise ihn das Leben gekostet hatte.
„Sie sind wahrlich bedauerlich!“ sprach der Dorfälteste einmal. „Ihre Waffen zeugen von dem, was auch in ihren Büchern steht und sie erzählen nur von Krieg und Verderben, die dort hinter dem Sturm und dem Horizont auf einen warten.“
Die Dorfbewohner sahen einander entsetzt an, konnten sie sich doch nicht vorstellen, was Menschen zu solchen Grausamkeiten verleiten könnte. Seit sie denken konnten, gab es auf ihrer Insel noch nicht einmal einen heftigen Streit. Es herrschte Friede.
„Was wollen wir hier auch weg?“ fragten sie dann aus einem Mund. „Hier ist doch das Paradies!“
Und damit hatten sie wahrhaft recht.
Es war an einem der wenigen stürmischeren Abende, als sich die meisten Dorfbewohner im Inneren der Schenke versammelt hatten und dem Sturm vor dem Fenster zusahen. Draußen klopfte der Regen an die Scheiben, der Wind fegte lautstark über den Dorfplatz und mit einem lauten Donnern erhellte so mancher Blitz den nächtlichen Himmel. Doch die Dorfbewohner waren bereits an dieses Spektakel gewöhnt und sahen ihm gelassen von der warmen Schenke aus zu. Da öffnete sich mit einem Male die Tür und ein kleiner Junge stürzte in den Raum. Noch bevor sie ihn fragen konnten, warum er sich bei diesem Wetter draußen herum trieb, rief er laut „Schnell, kommt schnell! Im Hafen ist ein Boot angekommen, in dem ein Fremder sitzt!“
Die Dorfbewohner stürzten sofort ins Freie und rannten die lange Straße hinunter zum Hafen. Sie rechneten damit, einem gewaltigen Schiff gegenüberzustehen, das diesem Sturm getrotzt haben konnte, doch zu ihrer Überraschung fanden sie nur ein kleines Ruderboot, welchem der Sturm so zugesetzt hatte, dass es an ein Wunder grenzte, das dieses Boot überhaupt noch auf dem Wasser trieb. Im Boot hatte sich ein Mann zusammen gekauert, halb bewusstlos und von seiner Reise mehr als gezeichnet. Sein Gesicht zeigte tiefe Furchen und ein unbändiger Bart zeugte von der Länge seiner Reise. Von seiner Kleidung waren nur noch zerrissene Lumpen übrig geblieben.
Sofort halfen ihm die Dorfbewohner aus seinem Boot, wickelten ihn in eine Decke und trugen ihn mit sich zur Schenke.
Sie setzten ihn in einen bequemen Sessel vor dem Kamin, reichten ihm einen Becher mit Honigwein und gaben ihm eine Schüssel mit warmer Suppe. Begierig aß der Fremde auf und allmählich kehrten seine Lebensgeister wieder in ihn zurück.
„Wo kommt ihr her?“ unterbrach nun endlich einer der Dorfbewohner das Schweigen.
„Von weit, weit weg.“ antwortete der Fremde zögernd aber doch gefasst. „Ich komme aus einem Land, das auf der anderen Seite des Ozeans und dieses Sturmes liegt. In meinem Land herrscht seit langer Zeit Krieg und als ich von jemanden hörte, dass es inmitten des Ozeans eine Insel geben soll, auf der man das Paradies finden kann, tat ich mich mit einigen anderen zusammen um diesen Ort zu finden.“
„Ihr habt diesen Ort gefunden.“ bestätigte ihn der Älteste umgehend. „Doch sagt, was wurde aus den Anderen?“
„Wir segelten mit einem gewaltigem Schiff los, eines der Größten, welches die sieben Meere je gesehen haben. Wir segelten sehr lange, doch dann kamen wir in den Sturm. Am Anfang war alles noch kein Problem, doch je tiefer wir in den Sturm segelten, desto schwieriger wurde das Weiterkommen. Die Wellen prügelten unbarmherzig gegen unseren Rumpf und bald schon riss unser Mast. Wir hätten umkehren sollen, als wir noch die Möglichkeit hatten, aber...“
Er seufzte und zögerte einen langen Moment. „Das Schiff ging unter und ich konnte mich gerade noch so in einem der Rettungsboote in Sicherheit bringen. Doch nun trieb ich alleine und ohne Vorräte durch den Sturm, viele Jahre lang.“
„Viele Jahre lang, sagt ihr?“ unterbrach ihn einer der Dorfbewohner. „Aber wie kann das sein, ohne Vorräte und nur mit diesem kleinen Boot?“
„Am Anfang dachte ich auch, dass ich meinen sicheren Tod nur hinausgezögert hätte. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, mich in die Fluten zu stürzen und so vielleicht einen schnelleren Tod zu finden.“ antwortete der Fremde. „Doch ich entschloss mich aus irgendeinem Grund dazu, zu kämpfen und es wenigstens zu versuchen, weiterzukommen. Ich wollte nicht einfach so aufgeben, nach alledem, was ich für diese Reise geopfert habe. Und ich lernte allmählich, mit dem Sturm zu leben.“
Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher, ehe er fortfuhr. „Ihr müsst wissen, dass der Sturm nicht immer gleich stark wütet. Mal ist er stärker, mal ist er schwächer. Ich erkannte schnell, wie man die Wolken zu deuten hatte, um so die Stellen zu vermeiden, an denen er wütet und stattdessen die Stellen zu finden, an denen es regnet. Ich trank vom Regenwasser und bin so nicht verdurstet, auch wenn es manchmal Tage dauern konnte, ehe wieder ein starker Regen fiel. Ich war am Anfang oft entkräftet.“
„Aber irgendetwas müsst ihr doch auch gegessen haben!“
„Fisch. Roher, ekelhafter Fisch. Das größte Problem war es erstmal, diesen Fisch zu fangen, doch ich fand bald einige Wege, mit denen das möglich war und schulte mein Auge darauf, möglichst vielversprechende Fischgründe schon aus großer Entfernung auszumachen. Manchmal lies es sich dabei nicht vermeiden, tiefer in den Sturm zu segeln, doch ich trotzte dem Seegang mit aller Kraft, die ich noch in mir hatte.“
„Und wie ist es überhaupt möglich mit so einem kleinen Boot diesem Sturm zu trotzen, wenn doch schon so viele Galeonen von ihm bereits zerrissen wurden?“
Der Fremde musste fast schon ein wenig lachen, als er diese Frage hörte. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber es ist überhaupt nur mit einem so kleinem Boot möglich, den Sturm zu überstehen. Ein großes und stolzes Schiff wird von allen Seiten von den Wellen zerrissen, aber dieses kleine, unscheinbare Boot wurde von ihnen in einem Stück gelassen, da es als Ganzes vom Seegang erfasst wird. Es hat mich zwar oft meine letzte Kraft gekostet, mich auch nur irgendwie noch an dieses kleine Boot zu klammern und der Sturm warf mich umher, als ob ich ein Nichts wäre, aber ich habe trotzdem bis zu diesem Tag überlebt und dem Sturm samt all seinen Wellen getrotzt.“
„Nun denn, mein Freund!“ erhob der Älteste nun das Wort. „Du bist womöglich der Erste, der es geschafft hat, diesem Sturm zu trotzen und hast eine wahrhaft unglaubliche, schwierige und lange Reise hinter dir. Aber nun bist du endlich an deinem Ziel angekommen! Ich heiße dich hiermit als Teil unserer Gemeinschaft willkommen. Ruhe dich aus und erhole dich gut, wir haben für dich ein leeres Haus in das du ziehen kannst.“
Der Fremde erholte sich sehr schnell wieder von den Strapazen seiner langen Reise und schon am nächsten Morgen sah man ihm kaum noch an, was er alles durchgemacht hatte. Die Dorfbewohner nahmen ihn sofort als einen der Ihren auf und das Haus, welches man ihm gab, hätte man mit Fug und Recht auch Palast nennen können.
Am Anfang war der Fremde unsagbar glücklich darüber, endlich an diesem Ort angekommen zu sein und genoss das Leben in vollen Zügen. Bei den rauschenden Festen vergaß er schnell die Strapazen, die er auf sich nehmen musste um an diesen Ort zu gelangen und an sonnigen Tagen konnte man ihn frohen Mutes die Hauptstraße entlanggehen sehen. Es war alles schöner, als er es sich je hätte träumen lassen können.
Doch nach einiger Zeit – die einen sagten, es wären ein paar Wochen gewesen, die anderen meinten, es wäre erst nach einem Jahr passiert – begann er sich zu verändern. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken und als ihn jemand durch Zufall darauf ansprach meinte er nur, dass er irgendetwas vermisste, jedoch nicht wusste, was es ist.
„Was kannst du schon vermissen, Freund?“ sagte der andere daraufhin. „Dort draußen ist nur der Sturm, in dem du jeden Tag um dein Überleben kämpfen musstest, doch hier ist das Paradies, wo du alles hast, was du dir je gewünscht hast.“
„Das stimmt.“ sagte der Fremde wehmütig, während er allmählich zu verstehen begann, was die ganze Zeit an seiner Seele nagte. „Und ich glaube, das genau das das Problem ist.“
Nach diesem Abend zog er sich zunehmend zurück und sein Verhalten bereitete den Leuten im Dorf Kopfzerbrechen.
„Er geht ständig in den Hafen und repariert sein Boot.“ meinte da einer der Fischer. „Ich frage mich ohnehin, warum er dieses Stück Holz nicht gleich versenkt hat. Warum gibt er sich jetzt die Mühe, es wieder seetüchtig zu bekommen?“
„Wahrscheinlich verbindet er mit diesem Boot einfach nur sehr viele Erinnerungen.“ beruhigte ihn der Dorfälteste. „Lass ihn daran arbeiten, nur so kann er mit dem, was geschehen ist, abschließen.“
„Wenn der Sturm über unsere Insel fegt, stellt er sich an die Klippen und blickt auf das Meer hinaus.“ warf nun ein Anderer ein. „Was, wenn er sich von den Klippen werfen will?“
„Ich bitte euch!“ beruhigte sie der Dorfälteste mit zuversichtlicher Stimme. „Welchen Grund sollte er schon haben, so etwas zu tun?“
Aus einem unerfindlichen Grund beunruhigte es sie es jedoch zutiefst, dass sie auf diese Frage keine schlüssige Antwort fanden.
Es war an einem jener stürmischen Abende, genau wie dem, an welchem der Fremde angekommen war. Wieder einmal hatten sich die meisten Dorfbewohner in der Schänke versammelt und sahen bei einem Becher Honigwein dem Sturm zu, der sich vor dem Fenster abspielte.
Da öffnete sich die Türe und ebenso wie an jenem Abend kam der kleine Junge in die Schenke gestürmt, doch dieses Mal war das Entsetzen in seinem Blick nicht mehr in Worte zu fassen. „Schnell, kommt alle zum Hafen, schnell!“ schrie er in den Raum hinein. „Der Fremde will ablegen!“
Sie rannten, so schnell sie es nur konnten, in Richtung des Hafens. Dort konnten sie den Fremden sehen, der gerade dabei war, in sein kleines wackliges Boot zu steigen, ohne Vorräte und mit nichts weiter ausgestattet, als mit seinen beiden Rudern.
„Haltet ein, Freund!“ rief ihm der Dorfälteste zu, sobald er es geschafft hatte, in Rufweite zu gelangen. „Wenn ihr wieder in diesen Sturm hinausfährt, findet ihr vielleicht nie wieder zurück!“
„Das nehme ich gerne in Kauf.“ antwortete der Fremde nur bestimmt, aber kühl. „Ich danke euch von ganzem Herzen für alles, was ihr für mich getan habt, aber für mich ist nun der Zeitpunkt gekommen um von euch Abschied zu nehmen, wahrscheinlich sogar für immer.“
„Aber da draußen erwartet euch nur der sichere Tod!“ rief jemand aus der Menge.
„Das dachte ich auch, ehe ich hier ankam. Was dort draußen wirklich auf mich wartet, kann niemand genau sagen, aber es geht mir auch nicht darum, irgendwo anzukommen. Ich möchte nur wieder zurück in den Sturm.“
Die Dorfbewohner sahen ihn entsetzt an. Nie war er ihnen so fremd gewesen wie in diesem Moment. „Aber...“ stotterte der kleine Junge „Aber das hier ist doch das Paradies!“
Der Fremde beugte sich zu ihm herab und blickte ihn fest an. „Du bist noch jung und als ich los gesegelt bin, war ich vielleicht gar nicht mal so viel älter als du. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir und wirst auf dieser Insel in Freude groß werden, ein zufriedenes Leben führen und glücklich sterben, weil du nichts anderes kennst, aber ich...“
Er war einen Moment lang still. Dann trat er an die Kaimauer heran und drehte sich zu den Dorfbewohnern um. Sein Blick war so fest und von solcher Überzeugung, das sogar der Sturm der um sie alle tobte für diesen einen Moment in Vergessenheit geriet. Seine kraftvolle Stimme war das einzige, was sie jetzt noch bewusst wahrnahmen.
„Ich habe fast mein ganzes Leben damit verbracht, auf diesem Ozean zu treiben und diesem Sturm zu trotzen! Mehr als einmal habe ich mit dem Tode gerungen, war am Ende meiner Kräfte angelangt und hilflos den mächtigen Wellen ausgesetzt. Aber ich habe trotzdem gekämpft! Ich habe mit allem, was mir noch geblieben ist gekämpft und diesem Sturm bis zum letzten Augenblick getrotzt, ganz einfach weil ich leben wollte. Und das habe ich getan! Ich habe niemals aufgegeben, obwohl es unmöglich war, diesen Kampf zu gewinnen. Doch ich habe ihn gewonnen und ich bin trotz aller Macht, mit der sich dieser Sturm mir entgegengestellt hat, an meinem Ziel angekommen. Ich bin da, wo ich immer hin wollte. Ich bin der Einzige, der das bisher geschafft hat.“
Er stieg in das kleine Boot, das schon jetzt von den Wellen stark auf und ab geworfen wurde. Trotzdem blieb er aufrecht stehen.
„Doch nun, wo ich wirklich alles habe, was ich je haben wollte, nun wo ich endlich meinen lang ersehnten Frieden gefunden habe, merke ich, wie sehr mir der aussichtslose Kampf gegen den Sturm eigentlich fehlt. Ich weiß, dass es mich alles kosten wird, was ich habe, wenn ich nochmal in diesen Sturm hinaus fahre. Ja, wahrscheinlich wird es mich sogar mein Leben kosten.“
Endlich setzte er sich hin und lies die Ruder zu Wasser. Die Dorfbewohner konnten nichts anderes tun, als ihm dabei zuzusehen, wie er aufs offene Meer hinaus ruderte und ihnen seine allerletzten Worte zu rief, die ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben sollten.
„Aber mein Leben war schon immer der Kampf gegen diesen Sturm. Und solange ich gegen ihn kämpfe, lebe ich!“
Er kam nicht wieder zurück und auch kein anderer kam an seiner Stelle. Nur das Treibgut, das auch weiterhin an der Küste angeschwemmt wurde, zeugte davon, dass es noch andere außer ihm geben musste, die gegen den Sturm kämpften. Erfolg hatte jedoch keiner von ihnen, denn es kam niemand Weiteres auf der Insel an. Allmählich waren sie sich einig, dass er nie zurückkommen würde und wahrscheinlich schon längst in dem Sturm untergegangen war, dem er sein Leben lang trotzen wollte.
Doch wann immer einer jener Abende kam, an dem Unwetter über die Insel hereinbrachen, der Sturm durch die Straßen fegte und der Himmel seine Schleusen öffnete, dann verließen die Dorfbewohner ihre Häuser und sie begaben sich auf die Klippen um Ausschau nach einem kleinen Boot zu halten, welches Kurs auf die Insel hielt.