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Thema: Der Zug von El Paradiso

  1. #1

    Der Zug von El Paradiso

    El Pedrecho war ein kleines verschlafenes Städtchen am Rande der Ewigkeit, an einem dieser Orte, wo man tausende Stunden gehen kann und trotzdem nirgendwo hinkommt.
    An einem dieser Orte, wo die Menschen einem aus müden Augen ansehen, den Blick abwenden, wenn man ihn erwiedert und dann schweigend ihres Weges ziehen.
    An einem dieser Orte, wo Zeit keine Bedeutung hat, wo jeder vor sich hinlebt, bis sein bitteres Ende naht.
    Laurent war nicht ein solcher Mensch, er war eigentlich nur per Zufall hier. Jetzt fragt man sich bestimmt, was Laurent an diesem gottverlassenen Ort zu suchen hatte, wo er doch so städtlich aussah, überhaupt nicht wie ein Landei, nein, im Gegenteil.
    Verloren in Gedanken einer besseren Welt, einer besseren Zukunft und auf der Suche nach dem Glücklichsein, durchquerte er Dörfer, Städte, Länder, ja sogar ganze Kontinente. Er hatte es vor langer Zeit schon aufgegeben, für eine Versicherungsfirma den Lakai zu spielen, die endlos langen Gespräche mit schwierigen Kunden, die auch schwere Brieftaschen hatten und dadurch noch viel schwieriger wurden, gingen ihm gewaltig auf den Sack, wenn ich mich mal so ausdrücken darf.
    An diesem Tag war sein Kopf befreit von all den Sorgen, Ängsten und Gefühlen, die sonst immer in ihm herumspukten. Er fühlte sich frei, nicht glücklich, aber zumindest frei. Das war schonmal ein Anfang. Sein hübsches Gesicht lächelte die wenigen Vorbeigehenden an und obwohl niemand sein Lächeln erwiederte, fühlte er sich angenehm frisch und gut gelaunt. Bahnhöfe waren nie schön, so wie auch dieser es nicht war, doch wenn man einen Zug erwischen wollte, musste man sich wohl oder übel an einem solchen Ort die Zeit vertreiben. Laurent vertrieb sich die Wartezeit mit seinem freundlichen Lächeln und gutgemeinten Sprüchen, aber die Menschen hier waren anders, grober, härter.
    Schliesslich fischte er sich eine zerrissene, Jahre alte Zeitung aus einem Mülleimer und begann, darin herumzublättern. Es fiel ihm eine Schlagzeile auf der dritten Seite ins Auge, die mit grossen Lettern verkündete:

    Wieder Überfall auf den El Paradiso Zug
    Dutzende Reisende bestohlen und empört


    Er las die Kolumne, obwohl sie ihn eigentlich nicht gross interessierte, obschon er auf den Zug nach eben diesem beschriebenen El Paradiso wartete.
    Geld hatte er sowieso keines mehr, deshalb hatte er auch keine Angst, überfallen zu werden. Überfälle hatte er schon zur Genüge erlebt, in all den Jahren in denen er alleine von Stadt zu Stadt und von Land zu Land gezogen war. Einer mehr oder weniger, was machte das schon gross aus?
    Laurent wartete.

    * * * * * * * * * * * * *

    Stampfend, pfeiffend und schnaubend, eine grosse schwarze Dampfwolke hinter sich herziehend, fuhr der Zug im Bahnhof von El Pedrecho ein.
    Niemand stieg aus, niemand stieg ein, ausser Laurent, der sich munter auf die Stufen der Einstiege schwang und mit einem letzten Lächeln im Innern des kohlegetriebenen Stahlkolosses verschwand. Im Zug sassen nur spärlich Leute, sie sahen alle gleich aus, müde, mürrisch und mit einem finsteren Blick in die Leere gerichtet, als könnten sie dort etwas sehen, das noch kein Mensch je vor ihnen gesehen hatte. Laurent achtete kaum auf diese Leute, doch einer fiel ihm auf, er war gleich als die anderen, aber doch irgendwie anders. Neben ihn setzte er sich und nickte freundlich. Der Mann erwiederte sein Nicken kaum, oder nur so schwach, das Laurent es nicht erkennen konnte.
    <<Guten Tag, Sir. Mein Name ist Laurent. Ich suche auf Reisen immer jemanden, mit dem ich eine gute Unterhaltung führen kann. Sie haben doch nichts dagegen?>>
    <<Nein>> erwiderte der Mann, seine Pfeiffe nickte auf und ab, als er die Worte sprach. <<Ich habe nichts gegen ein Gespräch.>>
    <<Fein. Ich bin Laurent.>> Er streckte dem Mann die Hand entgegen, doch dieser schüttelte sie nicht, stattdessen zündete er sich seine Pfeiffe neu an.
    <<Entschuldigen Sie mein Benehmen, aber ich schüttle keine fremden Hände.>>
    Der Qualm des Rauchgerätes stieg Laurent beissend in die Nase, aber er unterdrückte einen entsprechenden Kommentar. Dieser Mann war vielleicht der einzige Mensch hier, der mit ihm reden wollte.
    <<Kein Problem. Es ist gut, vorsichtig zu sein.>>
    <<Sie scheinen mir aber nicht allzu vorsichtig. Wissen Sie, meinem besten Freund wurde sie abgehackt, als er einem Fremden die Hand geben wollte.>>
    Laurent sah den Mann einigermassen betroffen an, doch so sehr schockierte es ihn nicht, er hatte schon weit Schlimmeres gesehen. Trotzdem sagte er:
    <<Das tut mir Leid. Es passiert viel Schlimmes auf der Welt und abgehackte Hände gehören sicherlich dazu.>>
    Langsam fährt der Zug an, er schnaubt und stösst und quietscht und rattert. Das Gespräch zwischen Laurent und dem Mann verstummt kurz.
    <<Wie lange dauert die Fahrt bis nach El Paradiso?>> fragte Laurent und der Mann sah ihn plötzlich ganz kalt an.
    <<Lange>> sagte er. <<Lange, mein armer Junge, sehr lange.>>
    Und das war das Letzte, was er zu Laurent jemals sagte.

    * * * * * * * * * * * * *

    Die Landschaft zog am Fenster vorbei, wie in einem Film, dessen Tonaufnahme so schlecht ist, das man nur ein Rattern und Dröhnen vernehmen kann.
    Der Mann neben Laurent war schon lange verschwunden; so leise wie der Tag zur Nacht überwechselt hatte er sich davongeschlichen. Laurent hatte nicht einmal gemerkt, wie sich der Mann erhoben hatte und an ihm vorbei aus dem Abteil geeilt war.
    Wieso hatte er sich so schnell von ihm entfernt, als er sein Reiseziel genannt hatte? Laurent wusste es natürlich nicht, wie sollte er auch erahnen, was ihn dort erwarten würde.

    * * * * * * * * * * * * *

    Dann kam der Überfall. Zwei Männer mit Sombreros, die so gross waren, das jeder Mexikaner im Zug vor Neid erblasste, stürmten durch den schmalen Korridor, zwischen den noch schmaleren Sitzen hindurch. Der Vordere war ein hagerer Typ mit einem dreckigen unrasierten Halsabschneidergesicht, in dessen Hand ein Cowboyhut war, in den man all seine Dollars werfen musste. Der Hintere sah irgendwie aus wie John Wayne, nur das er viel fetter war und sein Gesicht eine grosse Narbe zierte. Er hielt eine abgesägte Remington in der Hand, drückte den Lauf jedem Passagier grinsend unters Kinn, nickte und lächelte, bedankte sich sogar, wenn jemand sein sauer verdientes Geld im Hut des Anderen verschwinden liess. Die beiden klapperten den ganzen Zug ab, machten dreckige sexistische Witze und langten den Frauen an die Brüste.
    Zu jedem kamen sie, jedem knöpften sie sein Geld ab, wirklich jedem, ausser zu Laurent kamen sie nicht. Als sie auf ihn zuschritten, hielt Laurent die letzten zwei Dollar, die er noch besass, in die Höhe und wollte sie dem Typ schon in den Hut werfen, als sie einfach an ihm vorbeigingen. Sahen ihn nicht einmal an, kein freches Grinsen, der Lauf zielte in die Luft statt unter sein Kinn, so als wäre er gar nicht da.
    Und irgendwie war er tatsächlich nicht da, niemand beachtete ihn, niemand hatte zu ihm gesprochen ausser dem Mann, der ihn so hektisch aber doch völlig unauffällig verlassen hatte. Was, wenn der Mann gar nicht real gewesen ist? Was, wenn er selber gar nicht real war? Laurent kämpfte die Gedanken aus seinem Gehirn und sank zurück in das warme Polster des Sitzes.

    * * * * * * * * * * * * *

    Von einem lauten Quietschen wurde Laurent geweckt. Der Zug hatte angehalten, vor den Fenster waberte Schwärze, es war mitten in der Nacht und sie waren mitten im Nirgendwo. Sie?
    Er stand auf, ging nach vorne und ihm fiel auf, das niemand mehr in seinem Wagen sass, niemand. Wo waren die Leute hin, die eben noch schweigend und rauchend in ihren Sesseln gehockt hatten, einige zeitungslesend und andere einfach vor sich hingammelnd?
    Laurent hatte ein leicht unbehagliches Gefühl ihm Bauch, als er den nächsten Wagen betrat. Niemand. Der ganze Zug war leer und ausgestorben.
    Keine Anzeichen von Menschen waren zu sehen, keine liegengebliebenen Fahrkarten, keine ausgelöschten Zigaretten, keine Zeitungen, keine eingedrückten Sitzpolster, kein Nichts. Niemand hatte je im Zug gesessen. Laurent wusste sich zu beruhigen, indem er langsam Ein- und Ausatmete, ein und aus.
    Mit doch schon leicht schwachen und zitternden Knien, ging er nach vorne in die Zugmaschine, die schwarze Dampflokomotive, den Koloss aus Stahl und Eisen. Einen Chauffeur gab es nicht, stattdessen stand dort der Teufel selbst und er hatte ein zartes Instrument in seiner Hand, eine Geige, eine Geige die doch keine war und auch nie eine gewesen ist.
    Dann fing er sachte auf ihr zu spielen an und als seine Stimme den leeren Zug durchflutete, brach Laurent in Tränen aus, denn das Lied erzählte sein Leben.

    <<I'm a lonesome Man travellin' day 'n' night
    i'm as lonesome as anyone ever can be
    but tonight i'm free i'm free on the runaway train
    the train to my heart and destiny.>>


    Als die Melodie verstummte, kam der Zug in El Paradiso an.

    * * * * * * * * * * * * *

    Laurent stieg aus und Entsetzen übermannte ihn, als er den abscheulichen Ort sah, der vor ihm lag. Auf einem grossen, gelb vergilbten Schild stand die Aufschrift:
    <<Willkommen in El Paradiso. Willkommen im Himmel.>>
    So hatte sich Laurent den Himmel nicht vorgestellt, so stellt sich niemand den Himmel vor, so durfte der Himmel nicht sein, so konnte er nicht sein. So schrecklich.
    Er wollte zurück nach El Pedrecho, zu den Leuten, die so abschätzig waren, wie man nur sein konnte; fort von diesem grauenvollen Ort, von dem er erwartete hätte, dass er das Paradies auf Erden wäre. Laurent stand am Bahnhof von El Paradiso und vertrieb sich die Wartezeit mit Wimmern und Schluchzen und indem er sich immer wieder die Hände vor die Augen schlug, um das Grauen nicht zu sehen.
    Laurent wartete.
    Und wartete.
    Bis in alle Ewigkeit.

    Geändert von deserted-monkey (27.12.2006 um 16:14 Uhr)

  2. #2
    Moin,

    hab leider schon länger nicht mehr hier reingeschaut, was evtl. auch gerade daran liegt, das mich meine Muse nicht mehr besuchen kommt

    So wie immer zuerst ein paar Sachen, die mir beim Lesen spontan aufgefallen sind.

    Zitat Zitat
    Schliesslich fischte er sich eine zerrissene, Jahre alte Zeitung aus einem Mülleimer und begann, darin herumzublättern.
    Also entweder produzieren die Bewohner hier nur sehr wenig Müll oder es ist purer Zufall, dass eine Jahre alte Zeitung im Müll liegt...

    Okay, ergibt im Nachhinein Sinn.

    Zitat Zitat
    Langsam fährt der Zug an, er schnaubt und stösst und quietscht und rattert. Das Gespräch zwischen Laurent und dem Mann verstummt kurz.
    Ist dieser Wechsel zwischen den Zeitformen absicht?

    Also es gibt schon recht grosse Sombreros und ich vermute mal, der Zug hat so Abteile, nicht die Normalen, sondern die, die mit einer Tür abgetrehnt werden, dass heisst der Gang ist doch sehr schmal, so dass der Sombrero eigentlich beiden Wänden ankommen könnte...

    Zitat Zitat
    sexistische Witze und langten den Frauen an die Titten.
    Hmm Titten das klingt eigentlich schon fast wieder geil.

    Zitat Zitat
    stattdessen stand dort der Teufel selbst und er hatte ein zartes Instrument in seiner Hand, eine Geige, eine Geige die doch keine war und auch nie eine gewesen ist.
    Hatte nicht der Roboterteufel in einer Futurama Folge auch eine Geige? Kam mir nur gerade so in den Sinn ^^

    So nur zum eigentlichen Kern der Bewertung. Also ich denke die Geschichte ist dir durchwegs gelungen, ich hab schon spannenderes von dir gelesen, allerdings lässt diese Geschichte viel offen und ist denke ich deshalb auch so gelungen. Okay ich hab sie jetzt auch nur einmal gelesen, weil ich leider arbeiten muss, aber joa, in der Zeitung ist von einem Überfall zu lesen, nun kann man ja davon ausgehen, dass das dieser, in deiner Geschichte geschilderter, Überfall ist. Nur, warum steht hier duzende und nicht alle Passagiere? Alle starrten ins Leere und nur einer konnte mit ihm reden, einem Freund wurde der Arm abgetrehnt. Wenn alle diese Leute in die Hölle kämen (oder ist El Paradiso mitten zwischen Hölle und Himmel und du spielst eher auf Jack O Lantern an?), warum kann dann keiner mit ihm reden. Ach ich will jetzt mal erst gar nicht zu viele Theorien aufstellen, vielleicht erzählst du mir ja zuerst mal deine, denn ich hätte da einige. Das ganze erinnert mich btw. auch ein bisschen an Matrix Revolutions wo Neo an der U-Bahn Station festsitzt.

    Wie auch immer, eine Geschichte mit Tiefgang, die noch viele ungeklärte Fragen in mir auflässt, aber sonst geil, muss sagen gefällt mir, deine anderen Geschichten waren immer klarer. So nun warte ich mal gespannt ^^

  3. #3
    Zitat Zitat von qed Beitrag anzeigen
    Ist dieser Wechsel zwischen den Zeitformen absicht?
    Nein, eigentlich nicht ... Aber ich denke, ich lasse es jetzt trotzdem so stehen, klingt doch gar nicht schlecht...

    Zitat Zitat von qed Beitrag anzeigen
    Hmm Titten das klingt eigentlich schon fast wieder geil.
    Wie meinst du das jetzt, im positiven oder negativen Sinn?

    Zitat Zitat von qed Beitrag anzeigen
    Hatte nicht der Roboterteufel in einer Futurama Folge auch eine Geige? Kam mir nur gerade so in den Sinn ^^
    Der Teufel in meiner Geschichte ist aber sicher keine Anspielung auf diesen Futurama-Teufel

    Zitat Zitat von qed Beitrag anzeigen
    Wie auch immer, eine Geschichte mit Tiefgang, die noch viele ungeklärte Fragen in mir auflässt, aber sonst geil, muss sagen gefällt mir, deine anderen Geschichten waren immer klarer. So nun warte ich mal gespannt ^^
    Welcher Sinn hinter der Geschichte steckt und wie ich sie interpretiert habe, sage ich dir jetzt noch nicht, ich möchte zuerst sehen, wie andere auf diese Geschichte reagieren und was sie sich so für Gedanken dazu machen (wenn sie überhaupt noch von jemandem gelesen und komentiert wird, ist ja schon recht lange on und sonst antworten die Leute immer recht schnell ).

    Du musst arbeiten? Haha, wünsche dir viel Spass dabei
    Dann schreib ich doch gleich noch ein paar Storys, damit dir nicht langweilig wird ... hehe

    Jaaa also dann, man sieht sich ... Gruss

    Monkey

  4. #4
    Joar würd gerne Ferien haben oder noch ein paar Stories schreiben, aber mir fehlt gerade die Inspiration ^^

    Zitat Zitat
    Zitat Zitat
    Hmm Titten das klingt eigentlich schon fast wieder geil.
    Wie meinst du das jetzt, im positiven oder negativen Sinn?
    Ich meine es so, dass im Satz erwähnt wird, das sie sexisistische Bemerkungen machten und den Frauen an die Brüste langten. Titten klingt aber so als wäre das geil. Z.b. wenn du jetzt eine etwas andere Szene beschrieben hättest, wo diese Aktion Geil gewesen wäre, dann ist es imo in Ordnung, so würde ich aber lieber Brüste schreiben denn Titten verwendet man ja wenn man z.b. die Glocken von einer Geil findet.

    Omg Ich weiss, recht komisch formuliert und zudem viel das Wort Geil verwendet, aber ich hoffe du weisst worauf ich hinaus will.

    Und joar wird bestimmt noch vom einen oder anderen gelesen und kommentiert, aber eben ich hab da mehrere Theorien, aber nicht wirklich Zeit die jetzt ausführlich aufzuschreiben. Jedenfalls weiter so

  5. #5

    AW: Der Zug von El Paradiso

    Zitat Zitat von qed Beitrag anzeigen
    Ich meine es so, dass im Satz erwähnt wird, das sie sexisistische Bemerkungen machten und den Frauen an die Brüste langten. Titten klingt aber so als wäre das geil. Z.b. wenn du jetzt eine etwas andere Szene beschrieben hättest, wo diese Aktion Geil gewesen wäre, dann ist es imo in Ordnung, so würde ich aber lieber Brüste schreiben denn Titten verwendet man ja wenn man z.b. die Glocken von einer Geil findet.
    nicht wirklich Oo aber ist wahrscheinlich von person zu person anders...

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