Der Tag war bereits fortgeschritten, als Léo erwachte. Ein großer Vorteil, nicht direkt Teil einer Gemeinschaft zu sein, lag zweifelsfrei darin sich vor Niemandem außer sich selbst rechtfertigen zu müssen, wenn man einfach mal den halben Tag verschläft.
Auch jetzt rappelte sie sich widerwillig hoch, denn ihr Magen gibt ihr eine recht eindeutige Botschaft: es herrscht gähnende Leere in ihm.
Nach einem ausgiebigen Strecken nahm sie sich ein paar Wurzeln aus ihrem Rucksack. Dann durchschritt die Frau nackt wie Gott sie schuf ihr kleines Kabuff und trat nach draußen auf den wackeligen Balkon mit Blick auf Shengs Hope. Emsiges Treiben wie üblich offenbarte sich ihr, als sie sich ihr mageres und zähes Frühstück zu Gemüte führte. Unter ihr graste Mula gemächlich wie immer.
“Sind die immer noch mit ihrem großen Vorbereitungs-Tamtam wegen Adam beschäftigt?“
Wie beiläufig ergriff sie den Kopf Álvaros und wackelte passend zu dem, was sie nun in kratzig verstellter Stimme von sich gab: “Klar, alle sind total aus dem Häuschen und fiebern schon dem Augenblick entgegen, bei dem sie die großen Freiwilligen in ihr garantiertes Selbstmordkommando verabschieden.“
„Na, was erwartest Du auch von denen, die benehmen sich hier wie vor dem großen Zehren, als ob man jemals wieder so leben könnte, so, wie sich alles entwickelt hat inzwischen... Wie viele von den Verdächtigen wollen mitmachen?“
„So ziemlich alle. Vielleicht versuchen sie ja ihre Fehler damit wiedergutzumachen?“
„Oh, komm schon, als ob sie sich überhaupt zusammenreimen können, was sie damals uns allen angetan haben. Die denken sich jetzt ‚Wow, ich kann mal wieder den Held spielen und einen auf dicke Hose machen und wenn es ernst wird, halte ich doch wieder nur an meine Leute unmittelbar neben mir und sorg dafür, dass es bald nur noch uns allein gibt.’ Man kann sie diese Reise unmöglich alleine machen lassen.“
„Das sichere Selbsmordkommando?“
„Ich bin kein Kind mehr, dessen Meinung sie nach Lust und Laune übergehen können. Und wenn ich ihnen die Zungen oder mehr rauschneiden muss, damit sie mir zuhören. Irgendjemand muss aufpassen und notfalls die schwachen Ketten ausschalten.“
Mit den Worten stopfte sie sich die letzte Wurzel in den Mund, schlüpfte hastig in die Stiefel und warf sich ihr Kleid mehr schlecht als recht über und griff sich ihre Machete samt Álvaro, bevor sie die Strickleiter auswarf und eilig hinunter kletterte. Dort angekommen zog sie die Leiter wieder hoch und klickte das dazu nötige Seil nach getaner Arbeit aus. Das Maultier blickte milde interessiert auf. Das Seil wurde zum improvisiertem Halfter und ein empörtes Wiehern entglitt dem Tier, als es von seiner ruhigen Mahlzeit in Richtung Siedlung gezogen wurde.
Kurz wurde sie an der Mauer argwöhnisch beäugt, doch da sie bislang mehr oder weniger als wirre, aber harmlose Frau sich einen Ruf machte, kam sie ungehindert durch. Es ist immer von Vorteil, die Beute im guten Glauben zu lassen, je länger, desto besser.
Erfahrungsgemäß war das Dusty Derrecks ein guter Anlaufpunkt um Informationen oder unaufdringliche Gespräche mitzubekommen. Dementsprechend lenkte Leocadia ihre Schritte zu diesem „Etablissement“. Schnell ward Mula angebunden. Beim Betreten strömte ihr ein fantastischer Geruch entgegen. Ein Geruch, den sie an solch einem Ort eigentlich nicht vermuten würde- ehrlich gesagt an keinem Ort, der nicht von ihr selbst als Kochstelle auserkoren wurde.
Schnell sah sie durch den Raum über die Gestalten und ihr Blick fiel auf den Ursprung des Dufts; eine Teenagerin, die sich wohl verletzt hatte. Unmerklich leckte sich Léo über die Lippen. Ihr Vorrat an Dörrfleisch ging zuneige und ihre andere Auswahl war auch nicht gerade berauschend. Doch sie gemahnte sich zur Zurückhaltung, sie war wegen anderen Dingen hier.
Dennoch konnte sie sich nicht ganz zurückhalten und ging auf das Mädchen zu und deutete auf die angesengte Schulter. Aus der Nähe kam ihr ein Kräuteraroma entgegen, wahnsinn.
“ Sieht echt übel aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich sowas innerhalb dieses Ortes zuziehen kann.“
Ein wenig lauter an die versammelte Mannschaft gewandt ergänzte sie:
“Ich hab mitbekommen, dass sich hier einige Leute zusammenraufen, um den eingeweckten Mann an einen sinnvollen Ort zu bringen. Das klingt nach einer interessanten Aufgabe, hat hier Jemand eine Idee, wie ich mich nützlich machen könnte dafür?“
Ein halbherziges Lächeln zwängte sich auf ihr Gesicht.