Der Wagen verließ die Hauptstraße, wich zwei großen Kratern aus und schlug den Weg zum alten Fabrikgelände ein. Der Regen trommelte auf das Dach, rhythmisch, beinahe beruhigend. Der Fahrer hatte den Radio abgedreht und so hörte man nur leise den Funkverkehr. Ich verstand kein Wort.
Gandolski saß neben mir auf den Ledersitzen. Der feine Anzug und seine teure Zigarre, die einen ekelhaften Duft im Auto verbreitete, waren Luxus und Gegensatz zu dem, was ich draußen sehen konnte.
Wir passierten mehrere zerschossene Fahrzeuge und schlängelten uns an zerbombten Ruinen vorbei.
Der Fahrer sagte etwas und Gandolski schüttelte den Kopf. „Die Aufständischen“, murmelte er.
Wir fuhren weiter Richtung Osten. Direkt auf das Industriegelände zu und ich fragte mich insgeheim schon, was mich erwarten würde.
Außer Ruinen, Dreck und noch mehr Ruinen.
„Wurde das Industriegelände OST nicht schon vor Jahren zerstört?“
Gandolski maß mich mit einem Lächeln im Gesicht. „Das stimmt wohl, teilweise zumindest. Aber aufgegeben haben wir es nie, Herr Kendel.“
Dunkler Rauch qualmte auf rechter Seite zum Himmel empor, traf sich dort mit den Gewitterwolken und ließ das Firmament noch finsterer erscheinen, als es ohnehin schon war.
Regenwasser malte sich ständig verändernde Formen an die Scheibe und Gandolski sagte hinter mir:
„Aufgeben ist etwas, das aus Verzweiflung geschieht. Und Verzweiflung ist ein Zeichen von Schwäche. Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Sie wissen das, Herr Kendel.“
Ich nickte langsam, ohne ihn wirklich zu beachten. Ich schloss ihn aus meinen Gedanken aus, auch seine Zigarre, den Duft und seinen teuren Anzug. Mein Auge richtete sich auf die gnadenlose Zerstörung, die dieses Viertel der Stadt heimgesucht hatte.
Die Feuer brannten immer noch. Würden noch länger brennen.
Ewig.
Der Regen war da unwichtig.
Ich sah Menschen, wie sie in den Trümmern gruben. Sah ihre Gesichter, zerfurchen und rußig. Verdreckt und nass.
Vor uns tauchte ein Schild auf. Es war verbogen und eine Stütze gebrochen.
Trotzdem konnte ich die Schrift entziffern:
Industriegelände OST
Gandolski lächelte zufrieden. „Gleich sind wir da.“
Wir passierten einen Zaun, der im fahlen grau des Regens so leer und nutzlos aussah, wie ich mich fühlte und im Hintergrund konnte ich die Silhouetten von Schornsteinen sehen.
Früher einmal waren es mehr gewesen.

Das letzte Stück gingen wir zu Fuß. Gandolski hielt einen großen Regenschirm über unsere Köpfe und der Fahrer folgte mit einigen Schritten Abstand.
Wir marschierten an Trümmern vorbei. Brocken und Steinfragmenten, die früher einmal der Stolz der Industrie gewesen waren. Die Ruinen waren nun Symbol des Niedergangs, den dieses Land erlebte.
Wir gehen unter, dachte ich traurig, wir können es gar nicht mehr aufhalten.
Das ganze Gelände war voll mit Resten der einstigen Gebäude, voll mit Kratern, die sich mit Wasser füllten.
Ich konnte keinen Menschen ausmachen, gar nichts. Grau in grau. Leichter Nebel wallte zwischen den noch heil gebliebenen Hallen. Ein Schornstein ragte vor uns in den Himmel empor.
„Muss dieses Gebiet nicht bewacht werden?“, fragte ich.
Gandolski sah mich an, schüttelte dann den Kopf. „Die Aufständischen kommen nicht hierher. Niemand hat bis jetzt die Grenze überschritten. Außer jene, die es dürfen.“
„Ist der Zaun die Grenze?“
„Ja.“
„Und kein Rebell hat bisher versucht, hierher zugelangen?“
Er lachte. „Nein, warum auch? Trümmer und Gestein haben sie bei sich zu Hause genug, da brauchen sie nicht extra hier raus zu fahren.“
Er machte eine kurze Pause. „Die Anlage ist unterirdisch.“
Ich schwieg und wir gingen wieder eine Weile schweigend nebeneinander. Mein Blick fiel auf die feinen Sachen, die er anhatte, dann auf den Schlamm, durch den wir marschierten. Ich selbst war mehr oder weniger konventionell angezogen, aber auch meine festeren Schuhe hatten bereits eine andere Farbe angenommen. Dreck und Schmutz sammelten sich auf meinem Hosenbund. Gandolski schien das nichts auszumachen.
Endlich steuerte er auf eine Halle zu, die von einem Schornstein erschlagen worden war. Das Dach war eingebrochen und rostende Verstrebungen reckten sich wie flehende Arme in den regengrauen Himmel.
Gandolski blieb vor dem Eingang stehen. „Nach Ihnen, Herr Kendel.“

Nachdem wir das Gebäude betreten hatten, führte mich Gandolski bis zum hinteren Ende. Wir mussten die Überreste des Daches und des Schornsteines umrunden. Wasser tropfte von der Decke und es roch seltsam.
Dann standen wir vor zwei Metalltüren, die senkrecht in den Boden eingelassen waren.
Gandolski stellte sich davor und kurze Zeit später vernahm ich ein leises Surren, als die beiden Flügel zur Seite glitten.
Darunter war eine Metalltreppe, die in die Tiefe führte. Wir gingen hinunter. Hinter uns schloss sich die Tür wieder und nun spendeten nur mehr die Neonlampen Licht, die an der Wand befestigt waren.
Die Stufen führten immer tiefer und tiefer und nach einiger Zeit gab ich es auf, sie zählen zu wollen. Scheinbar endlos führte uns die Treppe ins Erdreich hinab. Unsere Schatten eilten uns, getrieben vom gespenstischen Licht der Lampen, voraus.
Kein Wunder, das Luftangriffe bisher erfolglos geblieben sind. So tief unter meterdicken Betonlagen bekam man vermutlich nicht einmal viel mit, wenn die Erde und die Gebäude oben zerfetzt wurden.
„Dieser ganze Komplex“, erklärte Gandolski währenddessen, „ist bereits vor fünfzehn Jahren errichtet worden.“
„In der Hochblütezeit des Industriezentrums?“
„Ja.“
„Wie ist das möglich?“
„Das Militär war von Anfang an dabei. Noch bevor die ersten Fabriken an der Oberfläche gebaut wurden, hat man unterhalb schon den Spatenstich für dieses geheime Projekt getan. Eine zeitlang geschah dann jedoch gar nichts, aber nach vier, fünf Jahren, wurden die Pläne konkreter. Und dann hat man unterirdisch gebaut, während oben gearbeitet wurde.“
„Das habe ich nicht gewusst“, sagte ich, mehr als nur überrascht.
„So gut wie niemand hat das. Das Fundament wurde, wie ich bereits gesagt habe, gelegt, noch bevor das Industriegelände tatsächlich zum Industriegelände wurde. Der Bunker war schon da. Ausgebaut wurde er im streng geheimen Projekt, das den Namen ‚Maulwurf’ hatte. Passend, nicht wahr?“
Wir gelangten zu einer Schleuse, ein großes rundes Ding, mit einem riesigen Riegel davor. Etwas zischte und langsam schob sich die Verriegelung zurück, das Verschlussstück wurde nach innen gezogen und der Eingang öffnete sich langsam.
Gandolski drehte sich zu mir um. „Wir sind jetzt etwas mehr als fünfzig Meter unter der Erde.“
Ein Lichtschein kroch aus dem Inneren, da lächelte er und im Zwielicht sah dieses Grinsen krank aus.
„Willkommen in der Traumfabrik, Herr Kendel.“

Er führte mich durch endlose Gänge, Kammern, und durch weitere Gänge.
Der Beton war nicht länger kahl, sondern in weiß gestrichen. Röhren, Kabeln und andere Leitungen schlängelten sich an der Wand entlang. Über uns leuchteten Neonlampen und verbreiteten ihr Licht.
Während dem gesamten Marsch hörte ich ein seltsames Stampfen, das direkt aus dem Inneren der Erde zu kommen schien.
„Was ist das für ein Lärm?“, fragte ich Gandolski.
„Das ist das Herzstück der Anlage. Der Generator selbst.“
„Der Generator für was?“
„Für die Maschine. Haben Sie Geduld, Herr Kendel. Sie werden noch alles zu sehen bekommen.“
Inzwischen begegneten uns Menschen. Sie trugen weiße Kleidung, wie man es aus Laboren kennt, andere waren in Zivil und hatten nur eine Erkennungskarte um den Hals, die sie als Mitarbeiter identifizierte. Ich sah keinen einzigen Soldaten.
„Ich werde Sie zu Dr. Schäfer bringen“, sagte Gandolski. „Er ist der leitende Wissenschaftler des Komplexes. Alle Fragen, die Sie haben, sind an ihn zu richten.“
Er brachte mich in eine Art Warteraum.
„Und dann?“
„Ich weiß es nicht. Das wird Dr. Schäfer entscheiden. Und vielleicht auch von Ihnen abhängen, aber lassen Sie sich Zeit, Herr Kendel. Wenn es etwas gibt, das wir hier unten haben, dann ist es Zeit.“
Damit verschwand er und ich blieb allein in dem Zimmer zurück.
Ich suchte mir einen der gepolsterten Sessel aus und setzte mich hin. Auf einem kleinen Glastisch vor mir lagen ein paar Zeitungen. Ich nahm mir eine davon und begann darin zu blättern. Ich las von neuen bahnbrechenden Erfahrungen der Medizin, verstand aber nur die Hälfte des Geschriebenen und so legte ich die Zeitschrift wieder zur Seite.
Kurz darauf öffnete sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Einganges und ein Mann in einem weißen Anzug trat heraus. Die rote Krawatte vermittelte Kontrast und stach hervor.
„Ah, die Regierung“, sagte er und lächelte dabei freundlich. „Wie sieht es aus in den Regierungsvierteln? Alles noch im Reinen?“
Er gab mir die Hand. „Unter Kontrolle, würde ich sagen.“
„Das ist gut. Aber bitte, kommen Sie doch weiter.“ Er deutete nach innen und ich folgte seiner Einladung.
Zuerst war es nur ein einfacher Gang, aber als ich ihn betrat, veränderte sich die Decke und die Wände, begannen sich zu drehen, änderten ihre Farbe. Am anderen Ende sah ich den beleuchteten Rahmen einer weiteren Tür.
„Das ist nur schmucker Schnickschnack, gehen Sie einfach weiter und beachten Sie es nicht weiter“, sagte Schneider.
Ich erreichte den Lichtschimmer und trat hindurch. Mein Gastgeber folgte mir und das Licht erlosch hinter uns im Gang.
Wir waren nun in einem Raum mit zahlreichen Gemälden an der Wand, einigen Sofas und Sesseln, die um einen Tisch standen. Rechts neben der Tür war eine Bar.
Schneider ging hinter die Theke. „Was darf ich Ihnen anbieten, Herr Kendel?“
„Haben Sie einen Martini?“
„Ja.“
„Dann nehme ich einen Martini.“
„Natürlich.“
Schneider kam mit zwei Gläsern zurück, reichte mir eines und stieß mit mir an.
„Auf was wollen wir trinken?“, fragte er.
„Ich weiß nicht so recht. Auf den Sieg?“
Er lachte. „Natürlich. Das klingt gut. Also, auf den Sieg dann!“
Ich deutete auf die Bilder. „Was sammeln Sie hier?“
„Nichts besonderes. Alles, was die triste Umgebung ein wenig verändert, hänge ich herein.“
„Seltsame Sachen sind dabei.“
Ich deutete auf ein Gemälde. Je länger ich es betrachtete, desto mehr verschwammen die Farben ineinander. Immer wieder veränderte sich das Motiv und die Intensität. Alles verrann und wurde neu geschaffen.
„Der Künstler nannte es ‚Die Rebellion der Farben’“, sagte Schneider. „Wie die Realität – alles nur eine Frage der Betrachtung.“
Er betrachtete das Bild eine Weile, schüttelte dann den Kopf und sah mich an.
„Also, Herr Kendel, womit kann ich Ihnen denn nun dienlich sein?“
„Es geht um Ihre Anlage. Die Traumfabrik, wie Sie sie nennen.“
„Natürlich. Worum denn sonst.“
„Ich bin hier, um die Existenz der Maschine zu bestätigen und ihren Nutzen dem Rat vorzutragen.“
Schneider machte ein abfälliges Geräusch. „Sie sind in der Traumfabrik, Herr Kendel und Sie zweifeln ihre Existenz an?“
„Ich bin in einer unterirdischen Forschungsanlage. Ich habe weder eine Maschine noch sonst was gesehen. Der Rat zweifelt Ihre Kompetenz an, Herr Doktor. Wir haben seit sieben Monaten keine Protokolle mehr von Ihnen erhalten.“
Seine Augen funkelten und er starrte ins Glas.
Ich fuhr fort. „Die vorhergegangenen Berichte sind unvollständig. Unbrauchbar. Keine Ergebnisse, nichts. Ich brauche jetzt Fakten. Kein leeres Gerede.“
Für einen Moment herrschte absolute Stille. Schließlich nickte Schneider, stellte sein leeres Glas auf den Tisch und verschränkte die Hände.
„Es gibt Probleme“, sagte er dann.
„Welcher Art?“
„Die Maschine-“
„Welche verdammte Maschine, Herr Doktor?“, unterbrach ich ihn wütend.
„Die Traumfabrik.“
„Ich höre immer nur von dieser Traumfabrik. Wo ist sie? Wo ist diese Maschine? Was für Probleme gibt es?“
„Herr Kendel, ich weiß, es ist alles sehr schwer zu verstehen und …“
„Hören Sie mir diesem Gerede auf, Herr Doktor. Zeigen Sie mir handfeste Sachen.“
Der Körper von Schneider zitterte leicht. „Na gut, bitte folgen Sie mir.“

Der Lärm betäubte meine Sinne. Selbst die Ohrenschützer, die Schneider mir gegeben hatte, dämpften das Geräusch nur geringfügig.
Ein Stampfen und Dröhnen, das durch Mark und Bein ging, den Knochen rüttelte und meinen Schädel zum vibrieren brachte.
Ich betrat das Eisengeländer kurz nach Schneider. Der Boden erzitterte. Dann sah ich die Maschine. Den Generator.
Ein riesiges Etwas, das sich an manchen Stellen drehte. An anderen auf und ab gezogen wurde; von Ketten, Stahlseilen und hydraulischen Pumpen. Irgendwo knisterte elektrische Spannung und über der Maschinerie führten mannsdicke Kabeln nach allen Seiten.
Gestalten in orange und weißen Arbeitsgewändern liefen unter unserer Plattform hin und her. Ich sah Geräte und große Schaltpulte, an denen Mitarbeiter standen und daran herumhantierten.
„Das Herzstück des Komplexes“, sagte Schneider über den integrierten Funk. „Das ist der Generator der Traumfabrik. Hier werden die elektrischen Ströme erzeugt und gewandelt. Verändert, gefiltert und transferiert.“
Ich war noch immer benommen von der Größe der Maschine. Auch allein schon des Gedanken wegen, dass es sie tatsächlich gab. Es war wirklich eine Fabrik, die ich sah.
„Wie funktioniert sie?“
„Das kann ich Ihnen nicht erklären, Herr Kendel, glauben Sie mir, Sie würden es nicht verstehen.“
Das sah ich ein. „Und der Nutzen?“
„Wie bitte?“
„Der Nutzen der Sache. Dieser Traumfabrik. Ich habe sie gesehen, aber … was bringt sie uns?“
„Wie der Name sagt. Die Maschine beeinflusst Gedanken. Man … träumt.“
„Wer wird davon beeinflusst?“
Schneider schwieg.
„Verdammt, wer wird beeinflusst?“
Zuerst antwortete er trotzdem nicht, dann sagte er leise: „Wir alle.“
Im ersten Moment war da nur mehr Leere in mir. Schließlich füllten Fragen den Raum, Vorahnungen.
„Dann ist das alles … nicht real?“, fragte ich.
Der Doktor sah mich nicht an. „Ja und nein.“
Ich sank zu Boden, meine Füße trugen mich nicht mehr – vielleicht, weil sie es noch gar nicht gelernt hatten. Ich klammerte mich an das Metallgeländer. Ich schluchzte. Es konnte einfach nicht die Wahrheit sein. Was sollte dann so überwältigend sein, wenn nicht die Wahrheit?. Vielleicht begriff ich es jetzt einfach nur, was etwas in mir schon lange wusste.
Ich hörte Schneiders Stimme. Sie kam von nah und fern, war laut und leise.
„Es gibt die Traumfabrik wirklich. Sie existiert. Der Bunker ist echt.“
Kurze Stille, in der sogar das Stampfen unhörbar wurde.
„Und der Krieg? Und die Revolution?“
„Ein Traum, es ist alles nur ein Traum. Der Krieg war echt. Aber es gibt ihn nicht mehr, schon lange nicht.“
„Wir haben verloren, nicht wahr?“ Die Geschwindigkeit, mit der alles auf mich einprasselte, und mein zuvor je Geglaubtes zerquetschte, brachte mich um den Verstand.
„Ja“, sagte Schneider und es klang so unendlich traurig. „Ich weiß nicht mehr, wer begonnen hat, das ist eigentlich auch unwichtig. Die Raketen waren so furchtbar schnell da. Niemand hat damals mit einem solchen Militärschlag gerechnet. Mit dieser Grausamkeit, dieser Schnelligkeit.“
Meine Stimme versagte mir fast den Dienst. „Wie viele Überlebende?“
„Etwa fünfzehntausend Landesweit.“
„Mein Gott, fünfzehntausend von acht Millionen?“
„Ja“, sagte Schneider. „Das war die erste Angriffswelle. Wir … wir konnten nur tausend Menschen aus der Regierungsstadt einen Platz in der Traumfabrik geben. In dem geschützten Bunker. Deshalb wurde gewählt. Die ranghöchsten Beamten, Regierungschefs, das Kabinett, oder das, was von ihm noch übrig war.“
„Und der Rest?“ Unnötig zu fragen. Ich wusste die Antwort bereits.
„Die zweite Raketenwelle tötete alle, die nicht im Bunker waren. Unseren Schätzungen zufolge sind gut neunzig Prozent der Landmasse vernichtet worden.“
Vor meinem geistigen Auge brannte das Land.
Schneider fuhr fort: „Alles ist verseucht und die Computer errechneten eine lange Zeit, bis die Oberfläche wieder frei sein würde. Eine sehr, sehr lange Zeit, Herr Kendel. Eine Zeitspanne, die kein Mensch je erleben würde.
Zu diesem Zweck gibt es die Kälteschlafkammern, die in unserer Traumfabrik sind. Der Mensch braucht keine Nahrung, ein Minimum an Wasser, das die Maschine automatisch zuführt. Die Träume dienen einzig und allein dazu, dass die Gefahr eines Hirntodes minimiert wird. Das Gehirn wird beansprucht, gereizt. Es bleibt halbaktiv und fällt nicht einfach aus. Erwacht man dann, sollte man zu hundert Prozent einsatzfähig sein. Ganz am Leben.“
„Und das funktioniert?“
„Ja, Herr Kendel. Auch wenn ich nur ein einfaches Traumsegment Ihres Geistes bin, kann ich Ihnen sagen, dass es Erfolg hat.“
Ich war plötzlich müde, so unendlich müde. Es war sinnlos noch genauer zu erfragen, was Schneider wirklich war. Nur ein Teil meines Traumes.
„Warum das Ganze? Warum sollen tausend Menschen einer Nation überleben?“
„Damit die Nation noch besteht, Herr Kendel. Es war eine Anordnung des Präsidenten und der Regierung. Es gibt uns noch. Wir sind besiegt worden, aber noch leben wir. Um der Nationen Willen.“
Das alles war so weit entfernt jeglicher Logik. Es schmerzte so sehr. Die Wahrheit.
Aber war es auch die Wahrheit? Träumte ich nicht nur, dass ich alles nur träume?
„Und jetzt?“, fragte ich. „Was jetzt?“
Schneider seufzte. „Ich weiß es nicht. Sie haben die Wahrheit erfahren. Ich weiß nicht, was Sie tun werden. Gehen Sie hinauf. Leben Sie Ihren Traum weiter.“
„Wer sagt mir, dass Sie nicht lügen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Niemand. Ich weiß, dass es nicht leicht ist. Vergessen Sie, was Sie gehört haben. Es wäre am besten für Sie.“
„Wie soll ich nur vergessen?“
Schneider schüttelte langsam den Kopf. „Sie sind zu mir gekommen. Nicht ich zu Ihnen.“
Das Stampfen setzte wieder ein. Alles schien zu beben und zu dröhnen. Der Doktor zeigte nach draußen.
„Lassen Sie uns gehen, Herr Kendel.“
Ich nickte. Gemeinsam traten wir durch das Tor und verließen die Maschine. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als das auch die Erinnerungen an dieses Gespräch für immer in dieser Halle zurück bleiben würden.

Leben Sie Ihren Traum weiter.
Schneiders Worte hallten in mir wider, während ich die Stufen zur Oberfläche emporstieg. Ich hätte ihn noch so viel fragen wollen, aber ich wusste, dass es ohnehin nichts nutzen würde.
In mir herrschte ein pures Chaos aus Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen. Vielleicht waren Sie nicht einmal echt, meine Erinnerungen. Ich kam mir betrogen vor. Betrogen um ein Leben, das ich nie gelebt habe. Nie gelebt haben soll.
Ich wusste nicht, was ich glauben sollte.
Die Nation lebte, nur damit sie lebt. Sie hatte ihren Zweck verloren.
Und wir den Krieg. Obwohl er oben noch tobt.
Aber das war alles nicht so sicher. Nie wieder würde ich schlafen können, ohne mich zu fragen, ob ich denn nun tatsächlich schlief, oder nur träumte, zu schlafen. Es war ein unendlicher Teufelskreis, voller Fragen und ohne Antworten. Alles und nichts.

Gandolski wartete an der Oberfläche. Er lehnte lässig am Schornstein, der durch das Dach gebrochen war. Wie echt war er wirklich?
Er begleitete mich zum Wagen. Der Fahrer saß bereits im Inneren.
Ich stieg ein. Gandolski schenkte mir ein letztes Lächeln. „Machen Sie das Beste draus.“
Er schloss die Tür und klopfte auf das Dach, worauf sich das Auto in Bewegung setzte.
Für einen kurzen Moment wurde mir übel. Ich ignorierte das Gefühl, blickte ein letztes Mal zurück. Gandolski stand zwischen den Trümmern und sah mir nach. Seine Krawatte flatterte leicht im Wind.
Bald ließen wir das Industriegelände zurück. Der graue Himmel malte die Szene düster und unheilvoll. Meine Gedanken kreisten um die Traumfabrik. Um Wahrheit und Trug.
Irgendwo zerriss eine Detonation die Grabsstille. Ich wandte mich nach rechts und konnte gerade noch sehen, wie ein Gebäude in sich zusammenstürzte.
Der Krieg war hier. Und doch war er vielleicht schon vorbei. Schon lange.
Vielleicht war es wirklich nur ein endloser Traum vom Kampf.
Ein ewiger Traum.
Vielleicht.