Ergebnis 1 bis 6 von 6

Thema: Willy Wunderbaum

  1. #1

    DieHeiligeSandale Gast

    Willy Wunderbaum

    Der Versuch einer Art Kindergeschichte. Zumindest der Anfang davon.



    Die Welt ist ein Rätsel. In den Tiefen der Wälder hält sie Geheimnisse versteckt. In den Tiefen der Meere bewahrt sie Schätze auf, die darauf warten, entdeckt zu werden. In den Tiefen des Erdreiches vergraben lässt sie längst untergegangene Zeiten überdauern. Es gibt so viel zu entdecken und noch mehr zu verstehen.
    Willy Wunderbaum hatte sich vorgenommen, die Erde kennen zu lernen. Er war acht Jahre alt und lebte mit seinen Eltern in einer schönen Gegend der Stadt, in der auch du lebst. Er besaß einen Tropenhelm aus Plastik, wie ihn die Dschungelabenteurer aus dem Fernsehen trugen. Außerdem hatte er ein Fernglas und ein Schweizer Taschenmesser. Seine Sammlung von Dingen, die für Abenteuer unerlässlich sind, wurde von einem Wanderrucksack für Kinder, einer Lupe und einem Schreibblock mit Kugelschreiber vervollständigt.
    Eines Tages, nach dem Abendbrot, sagte Willy zu seinen Eltern: „Mama, Papa, es ist schön bei euch. Aber ich werde mich jetzt auf den Weg machen und ein Abenteuer erleben. Ich weiß nicht, wann ich wieder hier sein werde. Wartet nicht auf mich.“ Er sagte dies äußerst bedeutungsschwer, hatte lange an dem Satz gefeilt, schließlich war es sein Abschied von seinen Eltern. Zum ersten Mal würde er sie verlassen um die Welt zu bereisen. Von Reisen, hatte man ihm gesagt, kommt nie der selbe Mensch zurück.
    Seine Mutter und sein Vater lächelten sich geheimnisvoll und vergnügt an. „Ist gut“, sagte seine Mutter und strubbelte Willy durchs Haar. „Aber putz dir vorher die Zähne!“. Willy versprach es hoch und heilig. Er ging in sein Zimmer und packte die Reisesachen. Dann zog er sich seine Jacke und seine guten Lederschuhe an. Er betrachtete sich im Spiegel; so mit Tropenhelm, Rucksack, Jacke und Schuhen sah er sehr professionell aus. Ein echter Abenteurer. Er putze sich die Zähne, wie er es versprochen hatte. Drei Minuten, denn so gehört es sich. Danach ging er die Treppe herunter, in den Hausflur, zur Haustür, öffnete sie, trat heraus und verließ das Elternhaus, um sich auf den Weg zu seinem ersten Abenteuer zu machen. Ein glorreiches Gefühl war das, fand Willy, als wäre er schon der Held, der er werden wollte.
    Willy wusste ganz genau, wo er hin gehen musste, wenn er geheimnisvolle Abenteuer erleben wollte. Wenn man die Straße ein Stück herunter ging und dann in den alten Kiesweg abbog, kam man zu einem Wald. Gerade jetzt in der Abendsonne warf der Wald lange, geheimnisvolle Schatten voraus und verhieß Abenteuer. Hier gab es etwas zu entdecken, keine Frage.
    Ein wenig mulmig war Willy schon zumute, als er so da stand, im Begriff, den Wald zu betreten. Vorbei an dein beiden Baumriesen, die den Beginn des schmalen Waldweges säumten, der vom Kiesweg her abbog. Hinein ins Ungewisse, das darauf wartete, von ihm entdeckt zu werden. „Ich hab keine Angst.“, sagte Willy. Zunächst sagte er es leise, zu sich selbst, quasi um sich daran zu erinnern, dass er wirklich keine Angst hatte. Dann sagte er es noch ein paar mal, etwas lauter, bestimmter, in Richtung des Waldes. Am Ende sagte er es laut und sicher zu den beiden Baumriesen. Die kicherten tief und langsam, aber gutmütig, wie Bäume im Frühling eben kichern, und luden ihn mit großen Gesten dazu ein, nun doch endlich einzutreten, statt draußen zu stehen und zu rufen. Willy lies sich nicht länger bitten, machte sieben Schritte und war mitten im Abendteuer.
    Von irgendwoher heulte ein Wolf, das war unverkennbar. Ein einsamer Jäger auf nächtlichem Streifzug, der den Mond begrüßte. Ein paar späte Vögel unterhielten sich noch ein wenig vor dem Einschlafen, über belanglosen Kram. Vögel sind nicht sehr durchgeistigt, musst du wissen. Einfacher ausgedrückt: Sie sind eher dumme und oberflächliche Tiere, zumindest die kleinen. Schnattern den ganzen Tag über Gott und die Welt, aber ohne ihre Worte mit Sinn zu füllen. Nur auswendig gelernte Sätze, die schön klingen. Das ist alles, was sie können.
    Der Weg führte um Kurven, die sich durch den Wald schlängelten und flochten wie die letzten kleinen Sonnenstrahlen des Tages durch das Geäst der Bäume. Es ging unberechenbar und labyrinthhaft immer tiefer hinein, zum Herz des Waldes, das irgendwo tief darin schlug. In jedem Wald schlägt ein Herz. Um das Herz tanzen die Waldgeister. Sie sind ein lustiges, aber auch freches, kämpferisches und rachsüchtiges Völkchen. Sicherlich boshafter als die Elfen, doch sie sind es, die den Wald verteidigen, wenn Not am Mann ist. Manchmal kommen böse Menschen und schlagen Bäume ab und Siedlungen zu bauen. Diese Menschen werden von Waldgeistern für gewöhnlich mit gemeinen Flüchen belegt. Doch manchmal zerstören die Menschen bei ihren Rodungen auch Waldherzen. Dann müssen die Waldgeister sterben, und mit ihnen stirbt nach und nach auch alles andere im Wald. Nur die Tiere überleben, wenn sie schnell genug ein neues Heim finden.
    Zunächst machte Willy aber Bekanntschaft mit einem ganz anderen Waldvolk. Den Wurzelzwergen. Wurzelzwerge sind kleine, knubbelige Gesellen, ungefähr eine Elle lang und stets schlecht gelaunt. Wenn ein Baum wächst, treibt er ein weit verzweigtes Wurzelwerk tief in den Boden. Auf der oberen Seite kommen dabei die Bäume heraus. Aus der unteren wachsen die Wurzelzwerge. Glaube mir, es ist wirklich nicht schön, so zur Welt zu kommen. Unter der Erde, im Dreck sozusagen, an den Wurzeln eines Baumes hängend, der ungerechterweise in die andere Richtung wachsen durfte. Von diesem Moment an sind Wurzelzwerge schlecht gelaunt und sie bleiben es ihr ganzes Leben lang.
    Trotzdem lieben und beschützen die Wurzelzwerge ihre großen Brüder die zur Sonne wachsen, und ihr Leben endet immer gleichzeitig mit dem ihres Baumes. Daher ist es verständlich, dass Wurzelzwerge was Bäume angeht noch viel weniger Spaß verstehen, als ohnehin schon.
    Willy hatte bis zu diesem Moment noch nie von Wurzelzwergen gehört. Er spürte nur, dass seine Blase drückte, und wollte sich der herausdrängenden Flüssigkeit entledigen, wie er das nun mal kannte. Also stellte er sich an einen Baum und pinkelte. Sofort durchschnitt ein gellender Aufschrei die frische Abendluft. „Halunke! Schuft! Schweinigel, schweinischer! Du ... Du Hundsfott! Du dämlicher Knallcharge!“ meckerte und fluchte der Zwerg des Baumes den völlig erschrockenen Willy an. Wurzelzwerge fluchen gern. Da sie nicht in den Städten der Menschen wohnen, kennen sie höchstens alte Flüche, die heute schon fast als harmlos und lachhaft gelten, aber von denen machen sie so viel Gebrauch, wie sie nur können.
    „Was bist du denn?“, fragte Willy das kleine, knubbelige, gelbe Wurzelwesen, das sich da vor ihm aufbaute und sich wirklich Mühe gab, halbwegs bedrohlich auszusehen. „Was ich BIN? Du dummer Knallkopf! Ich bin Knork, der Wurzelzwerg dieses Baumes! Was fällt dir ein, meinen Bruder anzupinkeln? Was für eine bodenlose Frechheit! Was für eine gemeine Schweinerei! Was für eine fürchterliche Respektlosigkeit! Du Hallodri! Was denkst du dir, du Anarchist?“ „Ich weiß nicht ...“ stammelte Willy. „Ich wusste nicht, dass das so schlimm ist. Es tut mir leid.“ Der Zwerg sah ihn scharf und böse an. „Na gut.“, sagte er schließlich, „Ich will noch mal ein Auge zudrücken. „Danke.“, sagte Willy, und wollte gerade gehen. „Halt!“, rief der Zwerg, „Niemand hat dir erlaubt, zu gehen!“, „Aber ich dachte ...“, wollte Willy einen Satz beginnen, doch der Wurzelzwerg ließ ihn nicht ausreden. „Du hast nicht zu denken! Du hast mir zuzuhören! Ich habe natürlich so meine Bedingungen. Schließlich hast du ein ordentliches Waldverbrechen begangen. Ich will zwar Gnade vor Recht ergehen lassen, aber ganz so einfach kommst du mir doch nicht davon!“ „Was willst du denn?“, fragte Willy. „Setz dich!“, forderte der Zwerg ihn auf. „Deine unnatürliche Größe macht mich nervös, Riese. Ist ja ekelhaft.“
    Riese. So hatte noch nie jemand Willy genannt. Irgendwie gefiel ihm das. Er tat Knork den Gefallen und setzte sich hin. „Also, hör zu“, sagte Knork, „Du kommst mir, ehrlich gesagt, wie gerufen. Weißt du, ich besitze nämlich einen Schatz. Einen echten Schatz. Einen Goldschatz. Nur ist es leider so ... Er wurde gestohlen.“ „Gestohlen?“, Willy traute seinen Ohren kaum, „Wie gemein!“ „Das kannst du aber laut sagen!“, pflichtete Knork ihm entrüstet bei, „Und wie du das laut sagen kannst! Feige Hunde sind das, alle miteinander!“ „Wer denn?“, hakte Willy nach. „Na, die Wasserkröten! Gemeine Viecher sind das! Haben meinen Goldschatz in den Tümpel verschleppt. Wissen ganz genau, dass unser einer nicht schwimmen kann. Man ist nun mal ein Wurzelzwerg und kein Fisch, nicht wahr? Niemand kann raus aus seiner Haut.“
    Willy hatte Mitleid mit Knork. Er beschloss, dem Wurzelzwerg zu helfen. Er ließ sich den Weg zum Tümpel beschreieben und ging los. Es ging durch dichtes Gestrüpp und Unterholz und Willy bekam Schrammen an den Beinen, auf den Armen und im Gesicht, während es immer dunkler, kälter und unheimlicher wurde. Das war genau, wie sich ein Abenteuer wohl anfühlen musste. Und er befand sich mitten in einem. Er holte den Goldschatz eines verärgerten Zwerges von einem gemeinen Feind zurück. Wie viele große Helden hatten das vor ihm schon getan!
    Der Tümpel war eher ein Teich. Und zwar ein großer und schöner, fast schon ein See. Knork hatte in seiner Verachtung für alles, was mit Wasser zu tun hatte, maßlos untertrieben. Der volle Mond, den man mittlerweile schon besser sehen konnte als das Bisschen Sonne, das den untersten Streifen des Horizonts rötlich gelb färbte, spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche. Der Teich war von hohem Wassergras umsäumt. Willy stellte sich so nah an das Ufer, wie er konnte, ohne abzurutschen und hinein zu fallen. Dann rief er, mit der selben lauten, festen und entschlossenen Stimme, mit der er vorher schon den Baumriesen am Eingang des Waldes, die ihm mittlerweile unendlich weit entfernt vorkamen, auf den Teich hinaus: „Wesen des Wassers! Insbesondere die Kröten! Mein Name ist Willy Wunderbaum und ich bin hier, um den gestohlenen Schatz von Knork, dem Wurzelzwerg abzuholen! Bitte händigt ihn mir aus!“
    Er hörte deutlich ein gluckerndes Lachen, das klang wie vergnügt sprudelndes Wasser. Also fügte er noch ein paar bedrohlichere Sätze an. „Ich mache keine Späße! Ich will diesen Schatz, sonst ...“ „Sonst was?“, fragte das Mädchen, das jetzt plötzlich seinen Kopf aus dem Wasser hervor streckte, schnippisch aber nicht boshaft lächelnd. Sie war genau so alt wie Willy und so hübsch, dass sein Unterkiefer herunter klappte und er sie anstarren musste. „Bist du eine Meerjungfrau?“, fragte er sie fassungslos. Sie lachte wieder wie gluckerndes Wasser und nickte dann. „Äh ... Ich habe noch nie eine Meerjungfrau gesehen!“ „Und ich habe noch nie ein ... Was bist du?“ „Ein Mensch. Ich bin ein Mensch, aus der Welt der Menschen, um eure zu erforschen!“ Die Meerjungfrau guckte verdutzt. „Ein Mensch willst du sein? Nein, du bist kein Mensch.“ „Was soll das heißen, ich bin kein Mensch?“, fragte Willy, ein bisschen ärgerlich. „Na, Menschen sind doch viel größer als du! Außerdem können Menschen Meerjungfrauen gar nicht sehen.“ „Na ja“, erklärte Willy, „Ich bin ja auch noch ein Kind.“ „Ach so, ein Kind bist du!“, rief sie aus. Willy war verwundert. Er fragte: „Bist du nicht auch ein Kind?“ „Nein, ich bin eine Meerjungfrau, habe ich doch schon gesagt.“ „Ich dachte, die wären auch viel größer.“ „Woher wolltest du das denn wissen, ohne jemals eine gesehen zu haben?“, fragte sie ihn. Das leuchtete Willy ein. Also musste er darüber nicht mehr nachdenken und konnte wieder an seinen Auftrag denken.
    „Also, kennst du die Kröten, die den Schatz von Knork dem Zwerg geklaut haben?“ „Ja, die kenne ich“, sagte die Meerjungfrau, „Das waren meine Freunde Tonk und Ponk. Zwei Brüder übrigens. Die klauen gerne mal was. Besonders, wenn es glitzert.“ „Kannst du ihnen sagen, dass sie mir den Schatz geben sollen?“, fragte Willy, und die Meerjungfrau gluckerte wieder. „Das musst du schon selber tun!“, sagte sie. „Aber ich kann kein krötisch!“, entgegnete Willy verzweifelt. Da bekam die Meerjungfrau Mitleid und sagte: „Na gut, ich werde sie für dich fragen. Aber du musst mitkommen!“ Also zog Willy seine Sachen aus und legte sie fein säuberlich am Ufer zusammen. Dann stieg er in das kalte Wasser und erstarrte fast zu Eis, im ersten Moment. Die Meerjungfrau gluckerte wieder, schwamm zu ihm, nahm ihn an die Hand und tauchte mit ihm unter. Willy hielt die Luft an und besah sich staunend die Unterwasserwelt, in die sie ihn entführte. Schillernde Korallen, bunte Fische und eine Tiefe, die man von oben nicht einmal erahnen konnte. Willy hatte nicht gewusst, dass Kröten auch so tief unter dem Wasser leben konnten. Er hatte immer gedacht, Kröten lebten nur an den Ufern. Unten am Grund des Teiches standen eigentümliche Bauten aus Stein, die fast wirkten, als hätten Menschen sie vor vielen Jahren gebaut und sie eines Tages dem Wasser überlassen. Auf dem Dach eines dieser kuppelförmigen Gebilde saßen zwei Kröten und schienen irgendein Spiel miteinander zu spielen, das viel Geschick erforderte. Der Meerjungfrau schwamm zu ihnen hin und sagte: „Seht mal, das da ist ein so genanntes Kind. Es wurde von Knork geschickt, um seinen Goldschatz wieder abzuholen, den ihr zwei geklaut habt.“, und Willy wunderte sich, dass er das verstehen konnte. In der nächsten Sekunde wunderte er sich, dass er so lange die Luft anhalten konnte und schon geschah es: Es öffnete unwillkürlich den Mund und versuchte, einzuatmen. Wasser lief in seine Lunge, Tränen schossen in seine Augen, er konnte nicht mehr atmen, bekam Panik, strampelte und schließlich wurde alles schwarz vor seinen Augen.
    Als er die Augen wieder öffnete, lag er am Ufer. Neben ihm lagen ein paar schillernde Goldstücke. „Gut, du bist wach“, hörte er die Stimme der Meerjungfrau neben seinem Kopf sagen. Sie schwamm nah am Ufer des Flusses und sah Willy besorgt an. „Du musst noch viel über Wälder lernen, wie ich sehe.“, sagte sie weiter. „Du darfst hier niemals an dem zweifeln, was ist. Sobald du zweifelst, ist es nicht mehr wahr. Genau das ist der Grund, warum Menschen hier nicht her finden, und wenn sie es tun nichts sehen. Sie zweifeln. Zweifel kann dich in sehr gefährliche Situationen bringen. Zweifele niemals!“ Willy nickte nur gehorsam. „Gut“, sagte die Meerjungfrau. „Den Goldschatz haben die Kröten dir aus Mitleid gegeben. Geh und bring ihn deinem habgierigen Zwergenfreund.“ „Er ist nicht mein Freund“, stellte Willy klar. „Ist schon gut“, meinte die Meerjungfrau, „Das weiß ich doch. Niemand kann mit einem Wurzelzwerg befreundet sein. Sie sind unausstehlich.“
    Dann schwamm sie wieder auf das Wasser hinaus und wollte abtauchen. „Warte!“, rief Willy. „Was denn noch?“, fragte sie. „Wie heißt du?“ „Bella natürlich!“, sagte sie und tauchte weg. Willy nahm den Goldschatz und ging damit zu Knork zurück. Mittlerweile war es sehr dunkel und kalt geworden. Den Weg zurück zu finden war schwerer, als es vorhin gewesen war, den Weg hin zu finden. Doch schließlich war er wieder an dem Baum, an dem er Knork getroffen hatte. Dort stand der Wurzelzwerg auch schon ungeduldig. „Da bist du ja endlich!“, rief er, als er Willy kommen sah. „Hast du meinen Schatz?“, „Ja, hier“, sagte Willy und gab Knork die Goldmünzen. Der Zwerg zählte sie und war zufrieden. „Tatsächlich, das sind alle. Sehr gut. Du kannst jetzt gehen.“ Das wollte Willy nur all zu gern. Er drehte sich in die Richtung, in der vorher der Weg gewesen war, nur um mit Entsetzen fest zu stellen, dass dieser verschwunden war. „Knork!“, rief er, „Wo ist der Weg?“ „Der Weg?“, wiederholte der Zwerg noch einmal, „Ach so, der Weg. Der ist vor einer Stunde weiter gegangen. Er wartet nicht ewig, so ein Weg.“ „Aber wie soll ich denn jetzt nach Hause kommen?“, fragte Willy verzweifelt, den Tränen nah. „Da wirst du dir wohl etwas einfallen lassen müssen. Ich weiß es jedenfalls nicht. Ist nicht mein Problem.“, sagte der Wurzelzwerg kalt und verschwand im Geflecht der Äste seines großen Bruders, wo er seinen Schlafplatz hatte. Willy streunte noch eine Weile verzweifelt durch die Bäume bis er einsah, dass es keinen Sinn hatte. Er würden den Weg heute im Dunkeln nicht wieder finden und musste wohl oder übel im Wald schlafen. Als er sich in eine kleine Mooskuhle kauerte und vor Kälte zitterte, vermisste er sein Bett so sehr, wie er es nie zuvor im Leben vermisst hatte.

    Geändert von DieHeiligeSandale (08.07.2009 um 21:09 Uhr)

  2. #2
    Zitat Zitat
    In den Tiefen der Wälder hält sie Geheimnisse versteckt. Unter den Tiefen der Meere bewahrt sie Schätze auf, die darauf warten, entdeckt zu werden. In den Tiefen des Erdreiches vergraben lässt sie längst untergegangene Zeiten überdauern.
    "In den Tiefen" ist möglich und würde wohl besser passen. "Unter" klingt afaik auch als Stilmittel komisch.

    Zitat Zitat
    in der du lebst
    "in der auch du lebst", "in der du selbst auch lebst", oder gleich ganz direkt "in deiner Stadt". Schöne Idee!

    Zitat Zitat
    das Elternhaus, um sich
    Komma

    Zitat Zitat
    Ich mache keine Späße! Ich verstehe keinen Spaß!
    Hm. Ka ob man sich da mit Kindersprache rausreden kann.

    Zitat Zitat
    De Weg zurück zu finden

    So, nun aber zur Geschichte, ich finds cool bisher. Schreib ruhig mal weiter, sehr schöne Ideen drin, das ist ja das wichtigste in dem Genre, und der Schreibstil ist auch klasse und atmosphärisch.

    Geändert von La Cipolla (07.07.2009 um 22:57 Uhr)

  3. #3

    DieHeiligeSandale Gast
    Herzlichen Dank für die Korrekturen!
    Die entsprechenden Stellen habe ich geändert.

    Und ebenfalls dankeschön für das Lob! Sowas liest sich angenehm!
    Ich werde wohl am Wochenende, wenn ich etwas Zeit habe, weiter schreiben. Hab wirklich Lust auf die Geschichte. Schön, dass es Anklang findet!

  4. #4

    DieHeiligeSandale Gast
    Es geht weiter:

    Am nächsten Morgen wachte er früh auf. Es war zwar die hell scheinende Sonne, die ihn weckte, doch sie kam gemeinsam mit schneidender, durchdringender Kälte. Willy merkte sofort, dass er sich eine dicke, fette Erkältung zugezogen hatte. Seine Nase lief und er hatte kein Taschentuch. Als findiger Abenteurer konnte er sich natürlich mit einem Laubblatt helfen, aber ein richtiges Taschentuch wäre ihm lieber gewesen. Allein schon, weil es an der Nase nicht so unangenehm kratzte.
    Nachdem die Nase gesäubert war, beschloss Willy, die Zähne zusammen zu beißen und sich aufzuraffen, durchzuhalten und nicht aufzugeben. Er schlotterte vor Kälte und seine Kleidung war nass und klamm vom Morgentau, wie alles um ihn herum, aber er stand auf, klopfte den Dreck von seinen Sachen und ging los. Er ging einfach geradeaus, irgendwo würde ihn das schon hinführen, da war er ganz sicher. Der Weg war schließlich schon weiter gegangen, er war schon verirrt, was sollte also noch passieren? Er wurde schon nach wenigen Schritten auf sein nächstes Problem aufmerksam: Sein Magen knurrte, und das laut. Während er dadurch zunächst nur merkte, dass er sehr hungrig war, unterschätzte er die Gefahr, die selbstverständlich davon ausgeht, einfach so und unkontrolliert in einem Wald voller wilder Tiere herum zu knurren. Es ist interessant und gut zu wissen, was das Geknurre eines Magens beispielsweise in der Sprache der Wölfe bedeutet. Willy wusste das leider nicht. Wie sollte er auch, er konnte noch keine fremde Sprache, nur ein paar Bröckchen Englisch aus der Schule, und so rätselhaft Englisch für Willy schon klang: Wölfisch ist noch einmal eine ganz andere, viel schwerere Sprache. Dumm nur, dass Willys Magen sie perfekt beherrschte.
    Während Willy also nur ein undefinierbares „Rooar, roo, Roaaarioo!“ hörte konnte jeder Wolf im Umkreis von dreihundert Metern ganz deutlich ein paar sehr unanständige Beleidigungen vernehmen. Leider teilen Wölfe eine äußerst unangenehme Eigenschaft mit einer ganz bestimmten Menschengattung, die dir sicher auch schon einmal über den Weg gelaufen ist: Sie fühlen sich immer angesprochen und glauben stets, es ginge nur um sie. So auch der Wolf Klaus, der, wie es der Zufall wollte, gerade genau zweihundertneunundneunzig Meter von Willy entfernt stand, etwas abseits von seinem Rudel, weil er sein großes Geschäft verrichten wollte und dabei keine Zuschauer mochte. Jetzt mag man sich wundern, warum ein Wolf ausgerechnet Klaus heißt, schließlich ist das ein Menschenname, aber diese Frage kann leider auch ich nicht beantworten. Viele Wölfe tragen Namen, die sehr menschlich klingen. Warum das so ist, ist eines ihrer vielen noch ungelösten Geheimnisse.
    Klaus hörte nun also, wie aus nicht all zu großer Entfernung jemand böse Schimpfwörter durch die Gegend rief und wurde augenblicklich sehr wütend. Er scharrte schnaubend und so schnell er konnte seinen Haufen zu und nahm die Witterung des Rüpels auf, der ihn da scheinbar so beleidigte. Es dauerte nicht lange, bis er Willy fand. Der war wie vom Donner gerührt, als auf einmal ein wutschnaubender, riesiger, grauer Wolf aus dem Gebüsch auf ihn zusprang, knurrend und zum Kampf bereit. Sein Magen allerdings knurrte munter zurück, was den Wolf weiter in Rage brachte. „Bitte tu mir nichts!“, rief Willy. Wölfe verstehen nur leider die Sprache der Menschen eben so wenig wie die meisten Menschen wölfisch verstehen können. Klaus war nur verwirrt, dass da zwei völlig verschiedene Stimmen aus dem selben Wesen sprachen und kam vorsichtig etwas näher. „Was soll das?“, knurrte er. „Was soll was?“, antwortete Willys Magen frech. „Bitte geh weg! Friss mich nicht! Ich schmecke schlecht und habe selber schon seit gestern Abend nichts mehr gegessen!“, sagte Willy. Das verstand der Wolf nicht und es störte ihn bloß bei seiner Konversation mit dem frechen Magen, also ignorierte er es. „Wieso beleidigst du mich?“ fragte er den Magen. „Ich beleidige dich überhaupt nicht! Ich kenne dich gar nicht! Ich habe einfach nur Hunger!“ „Und dann musst du hier so rumschreien?“ „Ja! Sonst reagiert ja niemand! Der Junge soll was essen!“ Klaus sah Willy nun ins Gesicht und verstand langsam, dass er mit einem Magen sprach. Auch Willy hatte das nun begriffen und hoffte, dass sein Magen nicht all zu gemein zu dem Wolf gewesen war, schließlich beabsichtigte er, diesen Magen noch für den Rest seines Lebens zu benutzen. „Der Junge kann dich doch gar nicht verstehen!“, sagte Klaus zu Willys Magen. „Er versteht das Wesentliche.“, entgegnete der. Klaus, dem seine Aufbrausende Art nun etwas leid tat, fragte hilfsbereit: „Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?“, „Ja!“, rief der Magen erfreut, „Wenn du etwas zu Essen besorgen könntest wäre das toll.“ „Das sollte sich machen lassen“, sagte Klaus. „Wir haben noch einen Teil von dem Reh übrig, das wir gestern gerissen haben.“ „Das ist nett gemeint“, sagte der Magen vorsichtig, „Aber ich glaube, ich muss ablehnen. Der Junge wird kein rohes Fleisch essen. Er ist schon fast ein Mensch, verstehst du?“ Der Wolf verstand. Aber er wusste trotzdem zu helfen: „Ihr solltet zu den Trollen gehen! Wenn die euch nicht fressen, haben die etwas zu fressen für euch!“, riet er dem Magen. „Könntest du dem Jungen die Richtung zeigen, in die er gehen muss?“, fragte der. „Na sicher!“, sagte Klaus und stupste nun Willy, der wie Espenlaub zitternd da stand, bemüht, sich so wenig wie möglich zu bewegen und dem Wolf ja nicht in die Augen zu sehen, an. Willy zuckte unwillkürlich zusammen und stieß einen gellenden Schrei aus. Doch der Wolf war ganz lieb und brummte beruhigend. Zunächst wies er mit dem Kopf in eine Richtung, die Willy als Norden erkannt hätte, hätte er einen Kompass dabei gehabt. Dann ging der Wolf zwei Schritte in die Richtung und warf Willy auffordernde Blicke zu. Als Willy immer noch nicht zu verstehen schien ging er zu dem Jungen hin und stupste ihn in die Kniekehlen. Das verstand Willy und ging einen Schritt nach vorne. Der Wolf schubste ihn wieder und langsam dämmerte Willy, dass er wohl in diese Richtung gehen sollte. Er ging also noch zwei Schritte und guckte dann wieder das Tier an, das aufmunternd nickte. In unerschütterlichem Vertrauen in seinen Magen und dessen diplomatisches Talent ging er jetzt also in die angezeigte Richtung. Irgendetwas Gutes würde dort sicherlich auf ihn warten. Willys Magen knurrte noch schnell ein „Danke“ nach hinten und Klaus erwiderte: „Kein Problem“, bevor er wieder ins Unterholz, zu seinem Rudel, verschwand.
    Auch für Willy ging es jetzt durch immer dichter werdendes Unterholz und Gestrüpp, das ihm Schrammen ins Gesicht und Löcher in die gute Hose riss. Doch je länger er ging, desto gleichgültiger wurde ihm das, denn einerseits gewöhnte er sich daran und andererseits wurde sein Hunger immer größer. Wenigstens hatte sein Magen aufgehört, einen solchen Lärm zu machen. Der gönnte sich eine Pause und wartete ungeduldig auf ihre Ankunft bei den Trollen. Die Sonne wanderte bis in die Mitte des Himmels und es wurde immer wärmer. Das war gut, so musste Willy jetzt wenigstens nicht mehr frieren. Als es gerade so warm war, dass er seine Jacke ausziehen und um den Bauch binden musste, wurde das Gestrüpp etwas lichter. Ein paar Meter weiter war schließlich gar keins mehr. Er sah sich um und bemerkte, dass er direkt vor einer Art Dorf, mitten auf einer kleinen Waldlichtung stand. Er war ein Trolldorf. Ihre Häuser waren klein, wie Trolle nun mal sind. Sie waren aus Holz und Stroh, sehr einfach, teilweise undicht und nicht sehr geschickt zusammen gezimmert. Trolle sind nicht dir größten Bauarbeiter. Sowieso gibt es nicht viele Dinge, in denen Trolle die Größten sind. Sie sind weder besonders klug, noch sind sie stark oder geschickt. Nur eines können sie, und das sollte Willy schon sehr bald heraus finden. „Hallo?“ rief er, vorsichtig und nicht all zu laut, denn schließlich wusste er nicht, was für Wesen hier lebten und ob diese ihm nicht vielleicht Böses wollten. Er wurde scheinbar nicht gehört und schlich sich ein wenig näher an die Häuser heran. Sie waren kreisförmig angeordnet und der Platz in der Mitte war frei. Hier tummelten sich die Trolle und wuselten geschäftig durcheinander, fast wie auf einem Markt, nur ohne Stände. Nachdem Willy das entdeckt hatte, beobachtete er das Treiben vorsichtig und aus sicherer Entfernung. Die Trolle waren ungefähr so groß wie er und offenbar sehr beschäftigt. Sie trugen keine Kleidung, waren dafür aber alle von einem kurzen, braunen Fell bedeckt. Ihre Gesichtszüge waren fast menschlich, nur die Nasen sahen aus wie bei Teddybären oder Katzen. Willy konnte zwar nicht sehr gut schätzen, aber er war sich sicher, dass dort so ungefähr zwanzig bis dreißig von diesen Wesen waren. Plötzlich stand einer direkt vor ihm. Er war entdeckt!
    „Wer bist du?“, fragte der Troll ziemlich unwirsch und entblößte dabei seinen vielen kleinen, spitzen Zähne. „Ich bin Willy.“, sagte Willy, sehr bemüht, nicht unsicher zu klingen. „Und wer bist du?“ „Ich bin Orm.“, stellte der Troll sich vor. „Und ... Verzeihung, aber, was bist du?“, fragte Willy, sehr vorsichtig, denn er wollte Orm nicht beleidigen. „Ein Troll natürlich! Dumme Frage! Jeder kennt Trolle. Eine viel bessere Frage ist: Was bist du?“ „Ein Kind“, sagte Willy und Orm nickte verstehend. „Was willst du hier?“, wollte der Troll wissen. „Ein Wolf hat mich hier her geschickt. Ich habe Hunger und brauche etwas zu essen.“ „Und wir sollen dir jetzt etwas geben oder was?“ Willy schwitzte ein wenig, denn jetzt, als er über die Situation in der er war nachdachte, war ihm sein Ansinnen etwas peinlich. Fremde nach Geschenken zu fragen ist niemandem angenehm. „Ich kann auch irgendetwas dafür tun, wenn ihr wollt.“ „Was willst DU denn tun?“, fragte der Troll spöttisch und lachte. „Ich weiß nicht. Braucht ihr bei irgendetwas Hilfe?“ Orm sah Willy kurz nachdenklich in die Augen und sagte dann: „Komm mal mit!“. Er führte den Jungen ein wenig auf dem Dorfplatz herum. Willy sah jetzt, dass die Trolle um viele Kessel herum liefen, die alle auf Feuern standen und wunderbare, süße Gerüche verströmten. Die Trolle nahmen Zutaten aus Körben und warfen sie in die Kessel, rührten um, riefen einander Befehle zu und führten aus, was ihnen gesagt wurde. „Wir Trolle machen die beste Marmelade der Welt“, erklärte Orm mit einem gehörigen Anflug von Stolz in seiner tiefen, rauen Trollstimme. „Gerade haben wir Herstellungssaison. Da gibt es viel zu tun.“ „Willst du, dass ich dabei helfe?“, fragte Willy, der mit seiner Klugheit beeindrucken wollte, indem er schon voraus griff, was Orm sagen wollte. „Um Himmels willen, nein!“ rief Orm. „Niemand, der kein Troll ist, darf hier irgendetwas anrühren. Du würdest alles ruinieren!“ Willy sah beschämt auf den Boden. „Aber es gibt da etwas anderes, was du für uns tun kannst. Ich führe dich zu unserem Anführer, der hat da nämlich ein kleines Problem. Wenn du das lösen kannst bekommst du das beste Marmeladenbrot, das du in deinem ganzen Leben gegessen hast.“ Das klang für Willy nach einem guten Angebot und er hoffte, das Problem lösen zu können, das der Trollanführer hatte. Orm führte ihn in das größte und am wenigsten baufällige der Häuser. Von innen bestand es nur aus einem einzigen großen Raum, in dessen Mitte ein großer Stuhl stand, auf dem ein großer, dicker Troll saß, der ziemlich unglücklich wirkte. Orm ging auf ihn zu und sagte: „Hallo Arno! Ich habe hier jemanden vor dem Dorf herumstreunen sehen. Er sagt, er sei ein so genanntes Kind und habe Hunger. Ich dachte, vielleicht könnte er dein Problem lösen und dafür etwas zu essen bekommen?“ Der Trollchef sah von seinen Händen, auf die er sein betrübtes Gesicht gestützt hatte, auf und guckte sich Willy an. „Meinst du denn, er kann mir helfen?“, fragte er mit gebrochener Stimme, in der ein Maß an Verzweiflung und Trauer mitschwang, das Willy bisher in dieser Form noch nicht begegnet war. „Ich weiß es nicht.“, sagte Orm, „Aber er kann es ja mal versuchen.“ „Da hast du recht.“, sagte Arno, „Es ist jeden Versuch wert. Wen du es schaffst, Kimp, kannst du so viel Marmeladenbrot essen wie du willst. Auf Lebenszeit.“ „Was ist denn das Problem?“, fragte Willy sachverständig. Das löste bei dem trollischen Anführer sofort einen erneuten, sehr lauten Weinkrampf aus. Orm klopfte tröstend auf Arnos Schulter. „Komm schon, komm schon, ist doch alles halb so schlimm!“, versuchte er zu beruhigen. „Halb so schlimm?“, rief Arno entsetzt, „Es ist furchtbar! Es ist schrecklich! Es ist grausam!“ Dann wendete sich der verheulte Troll Willy zu. „Hör zu“, sagte er, „Es ist folgendermaßen: Ich habe mich verliebt. Natürlich nicht in irgendeine beliebige Trollin, schließlich bin ich der Anführer. Nein, ich habe mich in die schönste Trollin des ganzen Waldes verliebt. Sie heißt Krona und lebt hier im Dorf. Hier im Dorf waren alle in sie verliebt, aber sie hat sich für mich entschieden! Bis zu dem Tag, als sie bei mir einziehen wollte. Da hat sie gesehen, dass mein Dach undicht ist und dann ... und dann ...“ Und schon verfiel Arno wieder in lautes, herzzerreißendes Schluchzen. Orm übernahm das Weitererzählen. „Sie wollte nicht bei einem Troll wohnen, der sein Dach nicht dichten kann. Das kann allerdings auch kein anderer Troll in diesem Dorf. Als aber Arnos Nachbar Kuro davon erfahren hat, dass Krona Arnos Dach nicht dicht genug findet, hat er sofort angefangen, an seinem zu arbeiten. Das ist jetzt eine Woche er und er macht gute Fortschritte. Arno ist ein so schlechter Handwerker, dass es seinem Dach eher schaden als nützen würde, wenn er daran arbeiten würde und weil gerade Herstellungssaison ist, sind alle zu beschäftigt um zu helfen. Du verstehst das Problem?“ Willy verstand. „Habt ihr Holz?“, fragte er. Orm bejahte. „Und Nägel?“ Arno zeigte auf einen Tisch hinter ihm, auf dem Holz und Nägel lagen und an dem eine Leiter lehnte, die bis zu Decke reichte. „Das krieg ich hin!“ sagte Willy. Arno und Orm guckten zwar etwas skeptisch, aber immerhin hörte Arno auf zu weinen.
    Willy guckte an die Decke und zählte die Löcher. Es waren sieben große und vier kleine, über das ganze Dach verteilt. Das Dach war laienhaft aus Holz zusammen gezimmert und dann nachlässig mit Stroh belegt. Da die Decke nicht sehr hoch war brauchte Willy die Leiter gar nicht sondern stellte sich bloß auf den Tisch und begann gleich mit dem Loch, das direkt darüber war. Er nahm ein Brett und vier Nägel und legte das Brett über das Loch. Dann hämmerte er so doll er konnte, immer darauf bedacht, sich dabei nicht auf den Finger zu hauen. Wie man Bretter festnagelt hatte ihm sein Vater beigebracht. Willy besaß zu Hause sogar einen eigenen Werkzeugkasten. Doch an zu Hause wollte er gerade gar nicht denken, sonst hätte er sicher sofort vor Heimweh genau so sehr zu heulen angefangen, wie Arno es vorher getan hatte. Er hämmerte einfach ein Brett nach dem anderen über die Löcher. Als er mit dem Loch über dem Tisch fertig war nahm er sich einen Stuhl durch den Raum, immer zu den jeweiligen Löchern, mit, um sich darauf stellen zu können. Orm und Arno sahen ihm mit heruntergeklappten Mündern bei der Arbeit zu, ganz als würde er die Löcher nicht einfach nur zunageln sondern zu zaubern. Der betrübte Ausdruck in Arnos Gesicht verschwand langsam und wurde mehr und mehr durch ein breites Grinsen ersetzt, das seinen Höhepunkt in dem Moment fand, als Willy das letzte Brett über das letzte Loch genagelt hatte. Arno jubelte. Orm nickte Willy anerkennend und mit einer kleinen, kaum erkennbaren Spur Dankbarkeit hinter dem rechten Ohr zu. „Du sollst deine Belohung erhalten!“ sagte Arno. Er nahm Willy an die Hand und lief mit ihm auf den Dorfplatz. Dort stellte er sich mitten in der Mitte auf und rief mit der lauten Stimme, die überhaupt der einzige Grund dafür war, dass ausgerechnet er Anführer dieses Dorfes sein durfte: „Hergehört! Dieses Krint hier ist heute ins Dorf gekommen um mein Dach zu dichten! Ich darf also jetzt mit Stolz verkünden, der erste Troll dieses Dorfes zu sein, der in einem Haus wohnt, dessen Dach gänzlich dicht ist! Ich möchte also, als Konsequenz sozusagen, Krona darum bitten zu mir zurück zu kommen und wieder meine Frau zu sein!“
    Aus der Menge kam eine zierliche Trollin gelaufen, sie sich lachend in Arnos Arme warf. „Natürlich komme ich zu dir zurück! Ein Mann, bei dem es nicht rein regnet, welche Frau kann da nein sagen?“ Willy fand das zwar etwas merkwürdig, doch er war mit den Gepflogenheiten der Trolle nun einmal nicht vertraut. Undichte Dächer sind eines der größten Probleme der Trollheit. Da es bei den meisten Trollen den Frauen nicht erlaubt ist, eigene Häuser zu besitzen, sind diese stets auf der Suche nach einem Mann, in dessen Haus man halbwegs warm und trocken schlafen kann. Wer einmal bei Wind und Wetter in einem durchschnittlichen Trollhaus geschlafen hat, der versteht wohl, dass da der Charakter des betreffenden Trolls oft egal wird. Es soll schon Trolldörfer geben, in den tiefen Wäldern des Südens, so munkelt man, in denen das anders geregelt ist und Frauen auch Häuser besitzen dürfen. Man hört gar, das handwerkliche Geschick der Trollfrauen überträfe das ihrer Männer um Längen. Doch in unseren Breitengraden sind den Trollen diese Ideen etwas suspekt. Trollfrauen haben schließlich noch nie Häuser besessen. Wenn sie es plötzlich täten – wie sähe dann die Partnersuche aus? Alles ginge drunter und drüber und würde völlig chaotisch!
    Wie gesagt, Willy leuchtete das alles nicht richtig ein. Ich muss zugeben, sehr einleuchtend ist es auch wirklich nicht, aber wie gesagt, abgesehen von allem, was Marmeladekochen angeht, sind Trolle nun mal reichlich beschränkte Wesen, auch in Sachen der Kopfarbeit.
    Nun sagte Arno jedenfalls: „Zum Dank darf mein Freund mit den Zauberhänden hier sich von nun an mit so viel Marmeladenbroten wie er möchte den Magen voll schlagen bis er satt ist!“ Die Trolle jubelten Willy und dem frisch wiedervereinten Paar zu und machten sich direkt daran, Willy ein paar Brote zu schmieren. Sie brachten sie ihm eifrig und jeder pries seines als das wirklich beste an und Willy probierte jedes höflich, um niemanden zu verletzen. Alle Brote schmeckten göttlich und Willy konnte kaum genug davon bekommen. Viele Trolle baten ihn, doch auch ihr Dach zu reparieren, doch so gern Willy auch geholfen hätte: Er wollte weiter und nicht ewig bei den Trollen bleiben. Marmeladenbrote waren etwas schönes, doch er war sich ganz sicher, dass seine Eltern jetzt gerade bei Kaffee und Kuchen saßen, in ihrem herrlich gemütlichen Haus, und ihn vermissten. Und zum Abendbrot würde es sicherlich Kartoffelpüree geben, sein absolutes Leibgericht. Bei dem Gedanken daran spürte er förmlich, wie seine Beine jeden Moment von alleine loszugehen drohten, wenn sich nicht bald entscheiden würde, freiwillig mitzukommen um den Weg wieder zu suchen. Also verabschiedete er sich von den Trollen, ließ sich noch ein paar Brote einpacken und machte sich dann wieder auf die Reise. Immer geradeaus. Er ahnte ja nicht, dass er mitten auf das Herz des Waldes zusteuerte ...


    Um Meinungen und Korrekturen bin ich immer dankbar, falls nochmal jemand Lust hat, so viel zu lesen.

  5. #5

    DieHeiligeSandale Gast
    Gerade fertig geworden: Der letzte Abschnitt von Willy Wunderbaums Abenteuer im Wald. Vielleicht liest es ja irgendwer und hat Freude daran

    Je näher man dem Herzen eines Waldes kommt, desto misstrauischer wird man aus dem dunklen Geäst der Bäume beäugt. Die Waldgeister lassen keinen Schritt mehr unbeobachtet und sind jederzeit bereit, zuzuschlagen und den, der sich ihrem Heiligtum nähert, zu töten. In diesem Moment war das Willy, der keine Ahnung von der Gefahr, in der er schwebte, hatte. Er wurde nur einfach immer verzweifelter auf seiner Suche nach diesem verdammten Weg, der regelrecht auf der Flucht vor ihm zu sein schien. Es wurde schon wieder dunkel, die Marmeladenbrotvorräte waren aufgegessen und ihm war kalt. Außerdem machte ihn das ständige Geraschel und Gemurmel um ihn herum nervös.
    Waldgeister haben lange, spitze Krallen an ihren dürren Fingern, die sich nach vorne hin biegen. Die Krallen sind sehr fest, damit sie nicht abbrechen, wenn die kleinen, wuseligen, grünen Wesen sie in ihre Opfer stoßen. Die Augen eines Waldgeistes sind tiefschwarz und scheinen ein ganzes Universum in sich zu beinhalten. Sie sind etwas größer als Trolle, aber viel dürrer. Ihre grüne Haut ist vollkommen nackt, kein einziges Haar traut sich, auf ihren Körpern zu wachsen. In ihren Mündern finden sich lange, spitze Zähne und eine ebenfalls sehr lange, gespaltene Zunge, wie die einer Schlange. Sie schwingen sich wie Affen sehr geschickt von Ast zu Ast und verstehen sich gut darauf, zwischen Blättern und Gehölz völlig unentdeckt zu bleiben. Wenn sie angreifen, dann tun sie das unerwartet und aus dem Hinterhalt. Waldgeister können fiese kleine Biester sein. Doch irgendetwas hatte Willy an sich, das sie veranlasste, noch zu warten. Aus irgendeinem Grund fanden sie dieses Kind interessant und wollten noch ein wenig zusehen, was wohl passieren würde.
    Die Sonne war längst untergegangen, als Willy schließlich erschöpft zusammen sackte. Er konnte keinen Fuß mehr vor den anderen setzen. Es war wirklich Zeit für ihn, zu schlafen. Der Weg war nicht einmal in Sichtweite. Willy hatte keine Ahnung, wie es für ihn weiter gehen sollte. Er konnte doch nicht für immer durch den Wald irren! Er musste doch zurück nach Hause, dahin, wo er hin gehörte! Was hatte ihn bloß geritten, als er auf die blöde Idee kam, die Fremde zu erforschen? Willy weinte. Den Waldgeistern, die ihn beobachteten kam das äußerst merkwürdig vor. Da strömte eine ihnen völlig unbekannte Flüssigkeit aus diesem kleinen Jungen heraus, die eine unbeschreibliche Anziehungskraft auf sie ausübte. Wie sie aussah, wie sie roch, das alles machte die Waldgeister halb wahnsinnig vor Gier, doch sie wollten nicht riskieren, ihre Tarnung aufzugeben und sich so ihr Spiel zu verderben. Tränen waren ihnen neu, doch sie ahnten, dass diese Dinger etwas ungeheuer Wertvolles und Mächtiges sein mussten. Von Schluchzern und Weinkrämpfen geschüttelt fiel Willy in einen sehr unruhigen Schlaf. Er zitterte vor Kälte und Angst und träumte wirr und schlecht. Mit dem ersten zwitschernden Vogel wachte er auch schon wieder auf. Frierend und entkräftet. Er krümmte sich noch mehr zusammen und wollte wirklich nicht aufstehen. So lag er da fast eine Stunde und guckte sich den Laubbedeckten Boden an. Dann sah er nach oben und bemerkte, dass die Blätter der Bäume nicht mehr grün waren wie gestern, als er eingeschlafen war. Sie waren gold-gelb oder rot. Es war um ihn über Nacht Herbst geworden. Er stand erschrocken auf. Wie lange hatte er geschlafen? Etwa all die Wochen und Monate, die zwischen Frühling und Herbst lagen? Das konnte nicht sein, dachte er, dafür war er viel zu müde. Hätte er so lange geschlafen, müsste er doch der ausgeruhteste Mensch auf Erden sein! Auch die Waldgeister hatten diesen Jahreszeitenwechsel erstaunt zur Kenntnis genommen. Er war augenscheinlich durch Willys Tränen ausgelöst worden. Sie waren in den Boden gesickert und von dort bis in die Wurzeln der Bäume, die sehr mitfühlende Wesen sind. Als sie aus dem Boden so viel Traurigkeit und Verzweiflung aufsaugten, wurden sie selber sehr traurig und weinten ihre Blätter gelb. Sie warfen noch mehr ab als sowieso schon auf dem Boden lagen und ließen betrübt ihre Zweige und Äste hängen. Alle Versuche der Waldgeister, die Bäume wieder aufzuheitern, schlugen fehl. Nicht einmal die Baumbrüder, die Wurzelzwerge, konnten etwas ausrichten. Im Gegenteil: Nach kurzen Gesprächen mit ihren großen Brüdern wurden sie selber sehr niedergeschlagen und konnten kaum sagen, warum. Sie saßen nun mit hängenden Köpfen in den hängenden Ästen ihrer Schützlinge und trauerten. Willy wusste von alledem nichts, wie sollte er auch. Um die Macht der Tränen weiß kaum jemand. Selbst den Waldgeistern war sie völlig neu. Willy entschloss sich schließlich, weiter zu gehen. Er hatte es aufgegeben, sich über die Vorgänge im Wald Gedanken zu machen. Der machte offenbar sowieso, was immer er wollte, es schien die Mühe nicht wert zu sein, ernsthaft zu versuchen, irgendetwas davon zu verstehen. Er ging los und fühlte sich wie von einem unsichtbaren Staubsauger in eine bestimmte Richtung gezogen. Also ging er und ging und ging, unbeirrbar, ohne viel nachzudenken, einen Fuß vor den anderen setzend und einfach seinem immer stärker werdenden Gefühl folgend. Was sollte er auch sonst tun. Der Wald um ihn herum wurde immer unruhiger. Die Bäume knarrten traurig und mit wachsender Verzweiflung, die Vögel schienen nur noch schlechte Nachrichten auszutauschen zu haben, der Wind pfiff ungeduldige Melodien und alles raschelte und tuschelte. Die Luft war elektrisiert wie vor einem Unwetter. Willy fiel das alles kaum auf. Es war, als flöge er drei Meter über seinem eigenen Kopf und sähe sich selber gehen, immer gehen, einem unbekannten Ziel entgegen. Die Luft veränderte sich. Sie wurde Kälte und schneidender, wie messerscharfe Klingen, ganz wie die Luft im tiefsten Winter. In immer größerer Zahl fielen die Blätter von den Bäumen und bedeckten den einfrierenden Waldboden. Der Himmel wurde grau und schließlich weiß. Dann stand Willy vor einer riesengroßen, alten Eiche, die hoch über alle anderen Bäume des Waldes hinausragte und deren Stamm breit genug war, um Willys ganzes Zimmer zwei mal nebeneinander darin nachzubauen. Als Willy an dem alten Baum hochsah, bemerkte er, dass es anfing zu schneien. Tausend Augen ruhten auf ihm. Er drehte sich um und sah in die furchterregenden Gesichter der Waldgeister, die alle versammelt waren und ihn und den Baum umstellt hatten. Es waren sicherlich hundert an der Zahl und sie guckten das Menschenkind mit einer Mischung als Kampfesfreude, Blutdurst, Verunsicherung und Neugier an. Diesen Blick kannte Willy nicht und er machte ihm große Angst. „Was wollt ihr?“, fragte er, flüsterte fast und brauchte all seine Kraft, um den Kloß im Hals und die Tränenmeere hinter den Augen zu behalten. „Wir sind die Wächter des Waldes.“, zischte es ihm mit hundert Stimmen entgegen, ohne dass einer der Waldgeister seinen Mund bewegte. Nur die unendlich tiefen Augen durchbohrten ihn. „Was wollt?“, fragte Willy wieder. Diesmal schrie er. Der Kloß brach auf und die Tränen stürzten aus seinen Augen. Das machte den Waldgeistern Angst. Sie starrten die Tränen schweigend an. Ein paar leckten sich mit ihren zitternden Zungen über die lippenlosen Münder, als seien diese Tränen eine exotische Köstlichkeit, andere zitterten ungeduldig, wieder andere zuckten ängstlich und wollten lieber weglaufen. Willy guckte eindringlich jedem Waldgeist, den er sehen konnte, in die Augen und wartete auf Antwort. Dann sagte er mit der Gleichgültigkeit eines Verzweifelten ein sehr hässliches Wort zu ihnen und drehte sich wieder zu dem Baum um. „Du stehst vor dem Herz des Waldes“, zischte es hinter ihm. „Es schlägt in diesem Baum. Rührst du den Baum an, bist du tot.“ „Könnt ihr mir sagen, wie ich hier wieder weg komme?“, fragte Willy, ohne sich umzudrehen oder die Waldgeister die ihm gegenüberstanden anzusehen. „Dreh dich um und geh in die andere Richtung!“, zischten die Geister bestimmt. „Das reicht mir nicht!“, schrie Willy. „Ich will zurück zu meinem Weg! Er ist weg gelaufen. Ich will wieder nach Hause!“ „Wo soll das sein?“, fragten die Waldgeister. „In meiner Stadt. In meiner Straße. In meinem Haus. Bei meinen Eltern. Da, wo ich hin gehöre!“ „Wenn du da hingehörst“, sagten die Waldgeister, „Wirst du da auch wieder ankommen, egal welchen Weg du gehst.“ „Aber ich komme da nicht an!“, sagte Willy. „Ich gehe schon so lange immer in die Richtung, in die es mich zieht, und ich lande schließlich hier!“ Die Waldgeister wurden unruhig, zischelten untereinander unverständliche Laute durch den Wald, berieten sich, stritten sich sogar. Nach einer Weile der Unruhe gab es wieder Einigkeit unter den grünen Wesen. „Wenn es dich hier her zieht“, sagten sie, die meisten mit einer gehörigen Spur Nachdenklichkeit in der Stimme, als könnten sie selber nicht ganz glauben, was sie da sagten, „Vielleicht gehörst du ja hier her?“ Es war Willy, als würden reißende Sturzbäche in seinem Kopf hinter riesigen, alten Steinmauern hervorbrechen und alles überfluten. Ein ihm völlig unbekanntes Gefühl ergriff voll und ganz Besitz von seinem Geist und seinem Körper. Es kribbelte merkwürdig, von der Stirn bis in den kleinen Zeh, und er musste seine Hände drehen und genau ansehen, um sicher zu gehen, dass er immer noch da war, sich nicht einfach auflöste und verschwand, denn genau so fühlte es sich gerade an. Er sah die Waldgeister jetzt endlich wieder an und erkannte so etwas wie Gutmütigkeit in ihren Gesichtern. „Das kann nicht sein.“, stammelte es aus seinem Mund heraus. „Wir bringen dich zu der, die es wissen muss.“, erklärten die Waldgeister und zwei von ihnen lösten sich aus der Masse, nahmen den völlig verstörten Willy an den Händen und führten in direkt vor die große Eiche. Sie klopften drei mal an und der Stamm öffnete sich. Ein Tor entstand mitten im Baum und die Waldgeister führten Willy hindurch. Dann ließen sie ihn dort stehen und verließen den Baum wieder. Hinter ihnen schloss sich das Tor wieder und Willy stand allein dort, eingesperrt in einem Baumstamm. Er sah sich um und bemerkte, dass hier alles von Fackeln beleuchtet war, die an den hölzernen Wänden hingen. Direkt vor seinen Füßen begann eine sich hoch nach oben schlängelnde Wendeltreppe, deren Ende Willy von unten nicht sehen konnte. Doch da es hier außer dieser Treppe scheinbar nichts gab, beschloss er, hoch zu gehen um zu sehen, was oben war. Seine schreckliche Höhenangst machte es ihm da nicht gerade leichter. Die Treppe hatte kein Geländer und schlängelte sich am inneren Rand des Stammes nach oben; in der Mitte war ein Loch. Er bemühte sich, bloß nicht nach unten zu gucken. Nach etwa vierhundert, fünfhundert oder sogar sechshundert Stufen schien es Willy schließlich so unsagbar hoch zu sein und noch so viel höher zu werden, dass er kurz davor war, aufzugeben. Um ja nicht zu riskieren, hinunter zu fallen, ging er sehr langsam, begab sich letztendlich sogar auf alle Viere und kroch förmlich weiter nach oben, mit zitternden Händen, Armen, Beinen und Füßen. Er hörte auf, die Stufen zu zählen, er kam ohnehin nicht mehr mit, die Zahl war zu hoch. Die Angst war rasend und dröhnte weiß rauschend in den Ohren, wummerte hinter der Stirn und verklumpte sich krampfhaft um den Magen herum. Willys Augen waren weit aufgerissen und auf seiner Stirn stand kalter, perlender Angstschweiß. Übrigens ist auch Angstschweiß etwas, was Waldgeister sehr fasziniert. Allerdings kennen sie diesen besser als Tränen. Als Willys Hände endlich den Boden eines richtigen Stockwerkes berührten, konnte er es kaum glauben. Er hatte das Ende der Treppe erreicht. Er stand sofort auf und ging so weit von den ihm verhassten Stufen weg wie nur möglich, ohne dabei in die Gegend zu gucken. Nicht erstaunlich, dass er in diesem kleinen Raum dabei direkt in das einzige andere Wesen, was sich hier befand, hinein lief. Er guckte erschrocken hoch und sah in das beinah furchterregend hässliche, aber freundliche Gesicht einer uralten, kunbbelig-knochigen, faltenzerfurchten, kleinen, buckligen Frau. Sie hatte nur ein Auge, die andere Augenhöhle war leer. Sie grinste wohlwollend und entblößte dabei ihre letzten zwei verbliebenen, dunkelgelben Zähne. „Na, Willy? Hast du also her gefunden. Alle Achtung!“, sagte sie mit der wärmsten Samtstimme, die Willy je gehört hatte. Sofort wich die Angst aus seinen Gliedern und es war ihm, als hätte seine lange Reise endlich ihr Ziel gefunden, warum auch immer. Sobald die fast elektrische Anspannung, die ihn bis eben fest im Klammergriff gehabt hatte, von ihm abgefallen war, merkte er, wie unendlich müde er war. Er setze sich hin und lehnte sich erschöpft an die Wand. „Ist gut“, sagte die Alte, „Ruh dich etwas aus. Hast schließlich einen langen Weg hinter dir. Warte, ich hab uns Tee gekocht.“ Und sie drehte sich um, zu einem kleinen Holztisch in der Mitte des Raumes und nahm zwei Becher aus Ton, deren dampfender, wundervoll riechender Inhalt nur darauf wartete, von Willy getrunken zu werden. Er nahm seinen Becher und genoss die Wärme, die dieser an seine durchgefrorenen Hände abgab. Dann trank er einen Schluck von dem wässrigen Gebräu, und die gleiche Wärme drang durch seinen ganzen Körper, bis tief in sein Herz. „Wer bist du?“, fragte er die alte Frau. „Ich bin die Hüterin des Waldherzens.“, entgegnete sie. „Warum bin ich hier?“, fragte Willy. „Weil du nachts von Abenteuern träumst.“, sagte die Frau. „Weil du mehr siehst, als das Auge wahrnehmen kann. Weil du nachts in den Himmel guckst und über die Geheimnisse der Sterne nachdenkst. Weil du die Welt erkunden möchtest. Ganz einfach weil du ein Abenteurer bist, Willy Wunderbaum. Du bist einer der wenigen Auserwählten. Und wie es scheint bist du außerdem unsere einzige Hoffnung.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte Willy. Die Alte lächelte gutmütig. „Es ist auch sehr schwer zu verstehen, das alles“, sagte sie. Willy trank nachdenklich von seinem Tee. Dann drängte eine Frage aus ihm heraus, die wichtig war. „Die Waldgeister haben etwas merkwürdiges gesagt. Sie sagten, ich würde vielleicht hier her gehören. Ist das so?“ Die Frau winkte ärgerlich ab. „Diese Waldgeister sind einfach Plappermäuler. Sie reden mehr als sie wissen und machen sich wichtiger als sie sind. Irgendwo hingehören, ja, ja, so dummes Geschwätz passt zu den kleinen Biestern. Nein, mein Junge, das ist Quatsch. Niemand gehört irgendwo hin. Es gibt nur wollen und sollen. Du kannst dort glücklich werden, wo du hin willst und bist dort sinnvoll, wo du hin sollst. Zu beidem zieht es dich manchmal. Manchmal irrst du so durch die Welt und kommst schließlich dort an, wo du gebraucht wirst, und manchmal kennst du eben deinen Weg selber ganz genau und kommst dort an, wo du hin willst.“ „Und ich bin also dort angekommen, wo ich gebraucht werde?“, fragte Willy zweifelnd. „Ganz genau“, bestätigte die Hüterin des Waldherzens, „ Genau hier bist du angekommen. Genau da, wohin der Wald dich gerufen hat.“ „Und was will der Wald von mir?“, fragte Willy. Die Alte seufzte und trank noch einen Schluck Tee. „Viel zu viel, wenn du mich fragst“, sagte sie. „Du musst wissen, dieser Wald ist krank. Man merkt es noch nicht, doch schon bald wird der Tod hier Einzug halten. Das Herz des Waldes ist vergiftet und wir wissen nicht warum. Hier sind böse Mächte am Werk. Das Böse ist eigentlich nichts, womit Kinder sich auseinander setzen sollten. Doch der Wald hat dich auserwählt, weiß der Himmel, warum.“ Sie seufzte schwer und sah Willy traurig an. „Es warten fürchterlich schreckliche Abenteuer auf dich, kleiner Mann.“ „Und wenn ich nicht will?“, fragte Willy nachdenklich. „Dann wird das alles hier sterben“, sagte die Frau. „Und wahrscheinlich noch viel mehr. Das Böse will immer mehr, weißt du? Das ist seine Natur. Du wirst dem Bösen nicht entfliehen, du am allerwenigsten.“ Willy war sehr beklommen. Er hatte keine Lust auf fürchterlich schreckliche Abenteuer. Eigentlich hatte er gerade überhaupt keine Lust mehr auf irgendwelche Abenteuer. „Ich brauche Zeit um darüber nachzudenken.“, sagte er. Die Frau guckte ihn sehr eindringlich an. „Ich kann dich zu nichts zwingen“, sagte sie. „Doch ich flehe dich an, um unser aller willen, gut zu überlegen, was du tust. Du bist in einem kritischen Alter, weißt du? Wenn du nicht aufpasst wirst du, von einer Sekunde auf die andere, plötzlich erwachsen und bist ein Mensch und kein Kind mehr. Du weißt ja, dass Menschen all das hier nicht sehen können. Du wärst völlig unbrauchbar und wir wären dem Bösen ausgeliefert. Also bitte, bitte, bitte; überleg dir gut was du tust!“ „Ich will erst mal nur nach Hause“, sagte Willy. Die alte Frau seufzte noch einmal sehr schwer. „Natürlich“, sagte sie, „Das ist dein gutes Recht. Geh nur. Aber vergiss uns nicht und komm rechtzeitig zurück!“. „Mhm“, machte Willy nur, und begann, die Treppe hinab zu steigen. Er ging langsam und ohne Angst, nur mit einem ganz merkwürdigen Gefühl im Bauch. Als er unten angekommen war, öffnete der Baum sich wieder und er trat heraus. Der Himmel war fast schwarz, so dunkel waren die Wolken, die ihn zuzogen, und vor ihm wartete ein breiter, wunderschöner Kiesweg, als wäre er schon immer da gewesen, der ihn in wenigen Minuten ohne eine einzige Kurve zu machen geradewegs raus aus dem Wald und wieder in seine Stadt führte. Er betrat die asphaltierte Straße und drehte sich ein letztes Mal um. Der Weg war verschwunden. Die Büsche und Bäume zogen sich zu einem engen Geflecht zusammen und verwehrten jeglichen Blick ins Innere des Waldes. Willy war draußen. Das Wetter war hier besser. Die Sonne schien und die paar Wolken am Himmel waren weiß und klein. Es musste früher Morgen sein. Willy ging nach Hause. Seine Eltern schliefen noch nicht. Sie hatten seit seinem Verschwinden nicht mehr geschlafen. Sie saßen am Küchentisch und warteten voller Angst darauf, dass ihr kleiner Junge zurück kam. Als Willy vor ihnen stand fingen sie an zu weinen. Sie nahmen ihn beide in den Arm und küssten ihn. „Da bist du ja wieder“, lachte seine Mutter tränenüberströmt. „Ja, da bin ich wieder“, murmelte Willy und setzte sich an den Küchentisch. Er hatte seinen Eltern viel zu erzählen und sie hörten geduldig zu bis Mittag war. Dann war Willy fertig und wollte ins Bett gehen. Seine Mutter deckte ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf gut, kleiner Abenteurer.“, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Während er einschlief hörte er noch lange, wie seine Eltern sich unterhielten. Er konnte es nicht genau verstehen, aber es war von früher die Rede, von Abenteuern und vom Erwachsenwerden. Dann fielen Willys Augen zu. Endlich wieder in seinem Bett. Nie zuvor hatte er so gut geschlafen wie jetzt.


    Wie immer freue ich mich über Meinungen und Korrekturen.

  6. #6
    Zitat Zitat
    Allein schon, weil es an der Nase nicht so unangenehm kratzte.
    Nachdem die Nase gesäubert war
    Unschöne Wiederholung, aber vielleicht eine gute Stelle für lustiges Vokabular wie "Zinken" oder "Riecher" (oder irgendsowas). Wenn nicht, nimm einfach "diese" statt der zweiten "Nase".

    Zitat Zitat
    Der Weg war schließlich schon weiter gegangen
    Was willst du uns damit sagen? O_o

    Zitat Zitat
    Sein Magen knurrte, und das laut.
    Hat mich aus dem Konzept gebracht. Vll besser "und das ziemlich laut" oder "und zwar laut". Ein Wort wie "ziemlich" oder ganz schön wär glaub ich angebracht.

    Zitat Zitat
    hörte, konnte jeder Wolf
    Komma.

    Zitat Zitat
    Jetzt mag man sich wundern, warum ein Wolf ausgerechnet Klaus heißt, schließlich ist das ein Menschenname, aber diese Frage kann leider auch ich nicht beantworten.
    So schön die Idee ist, die Rechtfertigung klingt etwas erzwungen. Die Erklärung im nächsten Satz hätte wahrscheinlich gereicht.

    Zitat Zitat
    verstehen schien, ging er zu dem Jungen
    Komma.

    Zitat Zitat
    Wenn du das lösen kannst, bekommst du
    Komma, und das letzte, das ich rausschreibe. Arbeite auf jeden Fall an deiner Zeichensetzung. ;P

    Zitat Zitat
    Doch an zu Hause wollte er gerade gar nicht denken, sonst hätte er sicher sofort vor Heimweh genau so sehr zu heulen angefangen, wie Arno es vorher getan hatte.
    Hm, ich weiß nicht, ob ich das Heimweh in einer so spannenden Stelle thematisieren würde. Wenn, dann vielleicht eher subtil a la "wie gut es doch wäre, wenn sein Vater jetzt hier wäre" oder irgendsowas, der Holzhammer ist an dieser Stelle denke ich eher unangebracht.
    Am Ende des Posts passt es dann auch wieder.

    Was die Trollfrauen und ihre Häuser angeht, kommt mir das etwas ungeschickt gelöst vor (also nicht von den Trollen aus, sondern von dir ). Ka was die Kinder aus so einer komplexen Angelegenheit holen sollen, und wenn sie das nicht tun, verwirrt sie die komplexe Sachlage nur. Ich sehe förmlich das Balg fragen "Paaapaa? Wieso dürfen die Frauen keine Häuser haaaben?", und wenn es noch so drei Mal im Text erklärt ist.
    Auf die Undurchsichtigkeit abschieben ist glaub ich auch nicht der beste Weg.
    Ka. Überdenke die ganze Stelle nochmal.

    Das Ende ist sehr, sehr abstrakt, vielleicht zu abstrakt für eine Kindergeschichte. Auch damit würden sich wohl die wenigsten Kinder zufrieden geben. Sonst hat das Ganze auf jeden Fall Atmosphäre, und auch schöne Ideen. Dass mich der Text speziell mit zunehmender Länge nicht mehr so fesseln konnte, wird wohl an den Leseumständen (Forum, Kommafehler und Co.) als auch daran, dass ich nicht zur Zielgruppe gehöre, liegen.
    Vielleicht (nur vielleicht) solltest du aber tatsächlich mal durchschauen und gucken, wo du den Text kürzen könntest. Das macht ihn bekanntlich eingehender, wenn man das richtige Maß erwischt. Bin mir da aber absolut nicht sicher.

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •